Konserviertes Leben

Bewusstsein Das Internet ist nicht nur die Zukunft - es ist auch die Vergangenheit.

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Dank der umfassenden Berichterstattung zum Thema Datenschutz bei Facebook & Co. ist sich mittlerweile auch der letzte digitale Spätzünder darüber bewusst, dass wir Spuren im Netz hinterlassen, wenn wir es nutzen. Dass dies unter Umständen problematisch sein kann, ist unumstritten und soll hier auch nicht diskutiert werden.

Ein anderer, interessanter Effekt der erstaunlichen Erinnerungsfähigkeit des Internets ist aber die Verewigung des Einzelnen im kollektiven Gedächtnis. Kaum jemand, der das World Wide Web nicht schon auch aktiv, soll heißen: nicht nur als Informationskonsument, sondern auch als Vermittler von Wissen oder Meinungen genutzt hat. Und was einmal in Umlauf gelangt in dieser riesigen Kommunikationsmaschinerie, lässt sich nie wieder daraus tilgen.

Noch vor 25 Jahren war es für das Individuum ungleich schwerer, der Nachwelt anschauliche und recherchierbare Produkte seiner geistigen oder - YouTube sei dank - auch physischen Aktivitäten zu hinterlassen. Heute ist der Ruhm oft nur wenige Mausklicks entfernt. Prominente Beispiele von kometenhaften Aufstiegen dank viraler Verbreitung von persönlichen Leistungen gibt es genug. Justin Bieber ist da nur die Spitze eines Eisbergs, dessen wahre Größe sich schwer abschätzen lässt. Natürlich kann man leidenschaftlich über die tatsächliche Qualität solcher aus der Masse herausstechenden Einzelfälle diskutieren, der wichtige Punkt ist aber ein anderer: jeder von uns verewigt sich mit jeder Veröffentlichung im öffentlichen Bewusstsein. Seien es nun Tweets, Blogposts, Diskussionsbeiträge, Kommentare, Rezensionen, Statusmeldungen, Videos, Fotos, Musik oder neuerdings sogar komplette Bücher in digitaler Form - der Effekt bleibt stets derselbe. Das, was man da von sich gibt, bleibt. Und zwar für immer.

Wer einmal den Versuch gewagt hat, sich selbst zu googlen, ist meist erstaunt darüber, was da so alles zu Tage tritt. Relikte aus Schul- und Studienzeiten oder Arbeitsergebnisse und Dokumente einer ganzen beruflichen Laufbahn sind da noch die angenehmeren Ergebnisse solcher Recherchen. Dem gegenüber stehen Meinungen, die man heute so nicht mehr kundtun würde, peinliche Fotos, schräge Videos oder auch einfach nur Überbleibsel von Wegen, die wir einmal eingeschlagen haben, aber längst nicht mehr verfolgen.

Das Internet ist mittlerweile viel mehr geworden, als uns eigentlich klar ist. Es konserviert unser Leben für die Ewigkeit. Das Netz ist ein unendlicher Lagerraum für Gedanken, eine gigantische Konservendose. Es ist die wahr gewordene Utopie eines kollektiven Bewusstseins, dass nur durch eben diese Vernetzung der Welt möglich ist und doch außerhalb unserer Köpfe und unabhängig von uns existiert. Wenn man davon ausgeht, dass Bewusstsein die wesentliche Voraussetzung für höhere Formen von Intelligenz ist, scheint der Traum von künstlicher Intelligenz vielleicht gar nicht mehr so weit entfernt, wie wir denken.

Die Zukunft mag mir Recht geben oder auch nicht. In jedem Fall aber ist das hier das Zeugnis, an dem man mich zu gegebener Zeit messen kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marvin Mügge

Gonzo-Journalist.

Marvin Mügge

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