Substitution der Gefühle

Musik Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Dennoch gibt es manche Künstler, denen sich niemand entziehen kann. Sie sind nicht nur Superstars - sie sprechen für uns

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Der Saal ist zum Bersten voll, alle Augen und Ohren sind auf die Frau auf der Bühne gerichtet. Sie hat ein hübsches Gesicht. Ein paar Pfunde zu viel vielleicht, aber das stört hier niemanden. Sie erzählt etwas über ihre beste Freundin. Eine Frau im Publikum steht auf und gibt sich zu erkennen. Applaus. Dann fängt die Band an zu spielen. Und alle sind still.

Diese Szene aus dem jetzt schon legendären Konzert von Adele in der Royal Albert Hall ist exemplarisch für das, was große Musiker auszeichnet: sie schaffen es, die Gefühlswelt der Zuhörer durch ihre eigene zu substituieren. In diesem Moment ist die bunt angezogene, junge Frau aus dem Publikum die beste Freundin aller Menschen im Saal.

Allein, es bleibt die Frage, wie Adele das macht. Da ist natürlich diese unwiderstehliche Stimme, die sich insbesondere bei dem Song "My Same" wie eine abgefahrene Mischung aus einer Trompete und einem Cello anhört, die auf wundersame Weise sprechen gelernt haben. Der Song selbst ist freilich fantastisch komponiert, vor allem wenn man bedenkt, dass Adele ihn bereits im Alter von 16 Jahren geschrieben hat. Das kann einem Musiker schon die Tränen in die Augen treiben, sei es nun aus Bewunderung, Neid oder aus einer Mischung von beidem.

Doch da ist noch mehr. Jeder, der selbst einmal Musik gemacht hat, weiß, dass Technik nicht alles ist. Es ist vielmehr diese absolute, gnadenlose Offenheit des Künstlers. Es gibt kaum eine Situation, in der man verletzlicher ist, als bei einer Gesangsperformance vor tausenden von fremden Menschen. Du kannst grandios daran scheitern, wenn Du in diesem Moment reflektierst, was da gerade eigentlich geschieht.

Auch Schauspieler kennen das Problem. Der französische Philosoph Denis Diderot hat es in seinem Text "Das Paradox über den Schauspieler" (1773) auf den Punkt gebracht und Konstantin Stanislawski sowie Lee Strasberg griffen es in ihrer Arbeit auf: der Künstler wird zum doppelten Beobachter, denn er betrachtet sich selbst sowohl von innen als auch von außen. Er erlebt seine eigene Gefühlswelt und aber auch das, was er nach außen transportiert: nämlich durch die Reaktion des Publikums.

Die große Kunst ist also, diese natürliche Vewirrung zuzulassen. Herausragende Sängerinnen wie Adele sind wahre Virtuosen darin. Sie liefert uns so viel mehr als nur die bloße, technisch korrekte Aneinanderreihung von Tönen: sie malt ein klangvolles Gemälde ihrer Emotionen und liefert sich dem Publikum vollkommen aus. Weil das so unglaublich intensiv und authentisch ist, erlauben wir ihr in einem einzigartigen Akt der Kommunikation, dass sie unsere Gefühle durch ihre ersetzt. Und plötzlich fühlen wir alle dasselbe.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marvin Mügge

Gonzo-Journalist.

Marvin Mügge

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