Der Geschichte der Psychoanalyse war Sabina Spielrein lange Zeit kaum mehr als einige Fußnoten wert. Erst seit einigen Jahren erkennt und würdigt man die zentrale Bedeutung dieser Frau, die etwa die Kinderpsychologie entscheidend vorangetrieben hat. Begonnen jedoch hatte ihre Karriere als Patientin. Die russische Jüdin Spielrein wurde 1904, im Alter von 19 Jahren, in die Zürcher Psychiatrie Burghölzli eingeliefert. Dort war ihr Arzt Carl Gustav Jung; glühender Anhänger einer damals noch jungen, wenig anerkannten Methode: der Psychoanalyse von Sigmund Freud. Jung behandelte auch Spielrein nach diesem Konzept, worauf sie schnell gesundete. Ihr Fall steht geradezu beispielhaft für die Kraft des analytischen Verfahrens, die unbewussten Triebfedern des Menschen mit sprachlichen Mitteln bewusst machen und somit auch regulieren zu können. Freud selbst fasste das Prinzip in den längst legendären Satz: "Wo Es war, soll Ich werden".
Diese Ich-Werdung der Sabina Spielrein ist nicht nur Thema des Films von Elisabeth Márton, er findet dafür auch eine Form. Die Regisseurin, eine gebürtige Deutsche, die seit 1973 in Schweden lebt, hat nämlich keinen klassischen Dokumentarfilm gedreht. Darin wäre Spielrein ohnmächtiges Objekt gewesen: dem Zuschauer allein durch Kommentare von Zeitgenossen und Fachleuten nahe gebracht. Bei Márton jedoch ist Spielrein Subjekt: Gespielt von Eva Österberg ist sie sozusagen Hauptdarstellerin ihres eigenen Lebens, dessen entscheidende Stationen in mit dokumentarischen Elementen vermischten Spielhandlungen nachgezeichnet werden. Schönheit und Genauigkeit dieses Konzepts stützen sich auf die umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen Spielreins sowie auf ihren Briefwechsel mit C. G. Jung und Freud, aus dem viel zitiert wird.
Ein Großteil des Films dreht sich um das, was in der Literatur inzwischen "das berühmteste Dreiecksverhältnis der Psychoanalyse" genannt wird. Spielrein war von der Psychoanalyse so begeistert, dass sie das Verfahren zu studieren und bald selbst als Ärztin am Burghölzli zu arbeiten begann. Doch hatte sie sich nicht nur in die Methode, sondern auch in den Mann verliebt, der ihr in den analytischen Sitzungen bei der Menschwerdung half. Jung erwiderte diese Liebe zunächst, wies sie dann aber zurück: Er fürchtete den Skandal und wollte auch seine Ehe nicht gefährden. Sowohl er als auch Spielrein berichten jedoch "dem Vater" Freud ausführlich über dieses Verhältnis.
Das ist bei weitem mehr als eine schlüpfrige Anekdote. Denn so wie Freud die Grundlagen seiner Traumdeutung aus der Selbstanalyse gewonnen hatte, erkannte er nun durch die Beziehung zwischen Spielrein und Jung, welche immense Rolle die so genannte "Übertragung" spielt und wie ihr im analytischen Setting zu begegnen sei. Auch Spielrein selbst nutzte ihre traurigen Erfahrungen zur Grundlage eigener Forschungen. Die Destruktion als Ursache des Werdens hieß ihre Dissertation, die viele von Freuds späteren Überlegungen zum "Todestrieb" vorwegnahm und sie zu einem anerkannten Mitglied der psychoanalytischen Gesellschaft machte.
Das "Ich werden" also gelang Spielrein. Ihr Wunsch nach Ausgleich und Integration war zweifellos stärker als bei manchem Kollegen, wie allein ihr Verhalten beim späteren Zerwürfnis zwischen Freud und Jung belegt. Doch ihr eigenes Leben, auch das zeigt Elisabeth Márton, deren assoziative Montagetechnik viel mit der Erinnerungsarbeit in der Analyse gemeinsam hat, war alles andere als stabil. Inzwischen verheiratet und Mutter eines Kindes, wurde sie weder in Zürich, noch später in Wien, Berlin oder Genf heimisch und kehrte schließlich nach Russland zurück: Immer bedroht von Zweifeln und Krisen und der Schwierigkeit, sich mit ihrer Arbeit über Wasser halten zu können. Eine ihrer letzten Tagebucheintragungen lautete deswegen, man möge sich doch daran erinnern, dass sie "auch einmal ein Mensch gewesen sei". Lange ist das unterblieben. Doch trägt Elisabeth Mártons schöner Film nun dazu bei.
FREITAG: Wie sind Sie auf Sabina Spielrein gekommen?
ELISABETH MARTON: Bereits 1995 schlug mir eine schwedische Journalistin ein Projekt über Spielrein und Jung vor. Ich musste damals absagen, war aber so fasziniert, dass ich das Thema später wieder aufgriff. Zunächst dachte ich dabei an einen klassischen Dokumentarfilm. Ich bin in Spielreins Heimat nach Russland gereist, um dort zu recherchieren; ich habe Wissenschaftler und Historiker interviewt. Unter anderem den italienischen Analytiker Aldo Carotenuto, der Ende der siebziger Jahre die Tagebücher und Briefe von Sabina Spielrein entdeckt hat. Als ich dieses Material jedoch schnitt, sah ich ziemlich schnell, was fehlte: Poesie, Atmosphäre und Gefühle. Da habe ich das Konzept radikal geändert.
Jetzt ist es eine Mischform aus Dokumentar- und Spielfilm; ein assoziativer Bilderstrom. Wo liegen ihre Vorbilder?
Ich habe in Ungarn studiert und bin stark beeinflusst vom osteuropäischen Film, noch stärker vielleicht von Andrej Tarkowski. Außerdem hat bereits G. W. Pabst in seinem expressionistischen Stummfilm Geheimnisse einer Seele versucht, die Psyche und ihre Mysterien durch eine Symbolwelt darzustellen. Ähnliches probiere ich hier auch: Wie kann ich das Unbewusste ausdrücken und das Publikum auf eine Reise durch die seelischen Labyrinthe und auch durch die der Geschichte mitnehmen?
Sabina Spielrein in der Spielhandlung Ihres Films als Burghölzli-Patientin zu sehen, ist ziemlich beklemmend. War ihr Zustand wirklich so schlimm?
Ich habe mich an die Krankenberichte von Jung gehalten und mich bemüht, dafür eine visuelle Darstellung zu finden. Dabei musste ich natürlich vereinfachen, stilisieren. Mir war es jedenfalls wichtig, ihre destruktiven und dunklen Kräfte deutlich darzustellen. Aber natürlich auch Spielreins Begabung, diese Kräfte in Kreativität umzuwandeln. Das war schließlich ihr Lebensthema.
Warum, glauben Sie, ist Sabina Spielrein trotz ihrer bemerkenswerten Leistungen für die Psychoanalyse in Vergessenheit geraten?
Natürlich spielt es eine Rolle, dass sie sich im Streit zwischen Jung und Freud nicht für eine Seite entscheiden wollte. Beide Lager waren deshalb wohl auf einer psychologischen Ebene bereit, sie zu vergessen. Es lag aber auch daran, dass Spielrein sich 1923 entschieden hatte, nach Russland zurückzukehren. Nachdem Stalin dort 1936 die Psychoanalyse verbot, konnte sie ihren Beruf nicht mehr ausüben und war gleichzeitig weit entfernt von den europäischen Städten, in denen Psychoanalyse praktiziert und ihre Erkenntnisse diskutiert wurden. Dann kamen der Krieg und die Nazis, die Spielrein schließlich umbrachten.
Das Gespräch führte Mathias Heybrock
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