Wechselnde Bündnisse

Kampf um Gleichberechtigung Auch die Fortsetzung der »X-Men« handelt von Fluch und Segen außergewöhnlicher Begabungen - und der paranoiden Angst der »Normalen« davor

In der Comicstripkultur hat der Superheld seine besten Zeiten hinter sich. Lediglich 15.000 Exemplare der wöchentlich erscheinenden Hefte werden durchschnittlich noch verkauft: Was einst ein Massenphänomen war, hat heute seinen Platz in den Special-Interest-Ecken der Buchhandlungen. Im Kino dagegen scheint der Superheld eine neue Heimat gefunden zu haben. Ein Verlag wie Marvel, wo Spiderman (in der Verfilmung von Sam Raimi ein großer Erfolg) und Daredevil (in der Verfilmung von Mark Steven Johnson kein so großer Erfolg) erscheinen, begreift sich längst als eine Art Entwicklungsabteilung für Hollywood. Nicht die Hefte selbst, sondern ihre Adaption durch Film und TV sowie das entsprechende »Merchandising« versprechen den Profit. Der Vorrat der Typen und Geschichten ist dabei offenbar endlos. Ang Lees The Hulk, der im Sommer startet, beruht ebenfalls auf einem Marvel-Comic. Genauso die X-Men, von denen Regisseur Bryan Singer nun bereits den zweiten Teil präsentiert.

Von anderen Superhelden unterscheidet die X-Men zunächst einmal, dass es viele sind. Statt einer einzigen Figur gibt es gleich eine ganze Reihe von Charakteren, die sich unter der Obhut ihres Mentors Dr. Charles Xavier (Patrick Stewart) versammeln, der mit seinen außergewöhnlichen geistigen Kräften sogar die Zeit manipulieren kann. In der Pubertät dieser X-Men haben sich bei ihnen seltsame Mutationen gezeigt, die sie von normalen Menschen unterscheiden. Cyclops (James Marsden) zum Beispiel hat einen Laserblick, der selbst Stahl wie Butter durchschneidet - aber auch Menschen töten würde, blieben Cyclops Augen nicht permanent durch eine Schutzbrille verborgen. Das junge Mädchen Rough (Anna Paquin) kann sich durch blosses Handauflegen in die Gedankenwelt anderer Leute einfühlen - so intensiv freilich, dass dem Gegenüber die Lebenskräfte schwinden, sollte die Berührung zu lange dauern.

Die Eigenschaften der X-Men, das wiederum haben sie mit anderen Superhelden gemeinsam, sind Segen und Fluch zugleich. Segen, weil erst sie die großen Taten der jungen Männer und Frauen ermöglichen, die sie im Dienst der Allgemeinheit begehen. Fluch, weil sie jedoch gleichzeitig die Helden von jedem normalen sozialen Umgang isolieren. Den Menschen erscheinen die X-Men bestenfalls als ulkige Freaks und Zirkusattraktionen. Schlimmstenfalls gelten sie ihnen als gemeingefährlich; ein Fall für die Fahndungsliste.

Genau da setzt Bryan Singer an, der sich besonders in diesem Punkt von den bisherigen Comicverfilmungen absetzt. Auch Batman oder Spiderman bekommen den Unwillen ihrer Umwelt zu spüren, weil sie nur zu oft für die Übel verantwortlich gemacht, die sie doch verhindern helfen wollen. Doch erscheint ihnen das lediglich als Begleiterscheinung eines psychologischen Konflikts, den sie mit sich selbst abmachen müssen: Tagexistenz und dunkle Nachtexistenz lassen sich einfach nicht verbinden. Die X-Men dagegen formulieren ein politisches Ansinnen, in dem sie sozusagen auf Emanzipation drängen: Sie leiden unter der gesellschaftlichen Ächtung ihrer Superhelden-Eigenschaften und wollen das nicht mehr so ohne weiteres hinnehmen.

Das war bereits der Kern des ersten Teils von 1999, in dem sich ein Mutant als der ärgste Gegner der Mutanten herausstellte. Magneto (Ian McKellen) sah als kleines Kind, wie seine Eltern im KZ starben und befürchtet, den Mutanten könne ein ähnliches Schicksal blühen wie den Juden im dritten Reich. Wenn aber eine von ihm konstruierte Maschine alle Menschen in Mutanten verwandele, löse sich die Differenz zwischen den Gattungen auf, die einem staatlich verordneten Rassismus Vorschub leisten könnte. Dagegen traten die X-Men an, die zwar Magnetos Befürchtungen einer rassistischen, gegen die Mutanten gerichteten Politik teilten, daraus aber andere Konsequenzen zogen. Sie streben eine ausschließlich diskursive Problemlösung an, weswegen der Showdown dann auch während einer UN-Versammlung stattfindet.

Manche Kritiker fragten sich damals, ob eine solche Geschichte nicht einer Trivialisierung des Holocaust Vorschub leiste, der offenbar inzwischen Element eines x-beliebigen Unterhaltungsfilms sein kann. Doch das Problem war vielleicht ein weit Banaleres: Im Rhythmus der wöchentlich erscheinenden Strips mochte die Vielzahl der X-Men ein Vorteil sein; mal diese, mal jene Figur konnte in den Vordergrund treten und die Hefte variantenreich und damit lebendig halten. Bryan Singer jedoch war damit überfordert, die X-Men und Women in der 100-Minuten-Dramaturgie seines Spielfilms ausreichend zu charakterisieren. Außer Wolverine (Hugh Jackman) blieben eigentlich alle Mutanten blass; sogar die von Halle Berry verkörperte Storm war kaum mehr als eine Statistin mit Stargehalt. Deswegen erschien der Film als aufwändiges Spektakel, das eher auf schicke Kostüme als auf Charaktere setzte und damit auch den Konflikt zwischen Magneto und den X-Men als zweifelhaftes Beiwerk erscheinen ließ.

Im zweiten Teil hat der Regisseur nun diesen Fehler korrigiert. Das geht vor allen Dingen über ein besseres Zeitmanagement und verdichtete Erzählkunst; Singer gelingt es diesmal jeweils mit wenigen Hinweisen, ein vielschichtiges Bild der einzelnen Mutanten zu zeichnen. Er hat sogar noch Zeit genug, neue Charaktere einzuführen: Den Nightcrawler (Alan Cummings) etwa; ein blauhäutiges dämonenhaftes Wesen, das gleich im Prolog einen beeindruckenden Auftritt hat.

Dort betritt er das Weiße Haus, überwältigt einen Sicherheitsbeamten und steuert schnurstracks auf das Oval Office zu, wobei er seine Fähigkeit zur Teleportation nutzt. Im Bild zeigt sich das als ein seltsamer Strudel, der durch Räume flitzt und Wände durchfließt, um auf der anderen Seite als fester Körper wieder zum Vorschein zu kommen und kurz darauf erneut zu verschwinden. Es ist eine Meisterleistung der Tricktechnik, die zudem eine dramaturgische Funktion hat: Was sie Sicherheitsleute im Weißen Haus für einen gefährlichen Angreifer halten, dem sie ebenso panisch wie hilflos gegenüberstehen, weil sie ihn weder identifizieren noch orten können, ist eine Phantasmagorie - buchstäblich kaum mehr als eine Einbildung: Der ehemalige General Stryker (Brian Cox) hatte sich mit einem raffinierten Trick des Nightcrawlers bedient, um die Angst der Menschen vor den Mutanten zu schüren und dem Präsidenten Pläne zu ihrer Vernichtung schmackhaft zu machen.

Auch wenn in diesem Oval Office die originalgetreue Kopie eines von Laura Bush geknüpften Teppichs liegt, sollte man nicht zu bemüht nach den tagesaktuellen Bezügen suchen. Klar klingt hier an, die Argumente für Terrorbekämpfung und Präventivkriege seien allesamt vorgeschoben. Wichtiger ist die Szene aber als eine eher mentalitätsgeschichtliche Bestandsaufnahe, die im Anschluss an Michael Moores Bowling for Columbine (grundlose) Angst als Grundlage einer aggressiven amerikanischen Politik ausweist.

Was sich im folgenden abspielt, ist ein exzellenter Actionfilm, die sich diese Angst als Triebkraft seiner Geschichte nimmt und dabei eine wohltuende Balance zwischen der Story und den Spezialeffekten erreicht. Die Qualität des Films zeigt sich darin, das die Verwicklungen über die sonst üblichen bipolaren Konfliktdramaturgie hinausgehen, die Singer selbst im ersten Teil ja auch noch gepflegt hatte. Im zweiten aber Teil ist das Gut-gegen-Böse-Spiel allein schon deshalb nicht möglich, weil drei Parteien in wechselnden, zeitlich jeweils begrenzten Koalitionen gegeneinander antreten: Die Armee General Strykers, die von Magneto geleitete »Brotherhood of Mutants« und die »X-Men«. Das führt zu einer ungewohnten dramaturgischen Komplexität, die eine moralische Komplexität nach sich zieht und die außergewöhnliche Substanz des Filmes ausmacht.

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