Der Sommer geht, die Vögel ziehen dahin, die Fliegen kleben benommen an der Wand, bevor sie zappelnd aufs Fensterbrett fallen. Keiner hat Spaß am beginnenden Herbst, und auch ich möchte noch einmal den vielleicht letzten Sommerabend genießen. Statt mit dem Bus bis vor die Haustür zu fahren, wie es in meiner faulen Natur liegt, steige ich am Friedrichshain aus und gehe durch den Park. Ich freue mich auf den Duft von Holzkohle und Grillfleisch, den Klang von Gitarrenmusik und das Lachen der Jugend, das mich schmerzhaft an mein eigenes, verrottendes Dasein erinnert. Noch einmal jung sein! Die Sehnsucht lebt laut.
Es ist stockfinster, die Laternen sind kaputtgeworfen. Ich falle über einen jungen Mann, der in einer Pfütze aus Erbrochenem, Alkohol oder einer Mischung aus beidem liegt. Sein Freund kniet daneben und rüttelt an ihm. Ich bin geneigt, mich anzuschließen und will ihm zurufen: Wach auf, du hast die wenigen schönen Jahre noch vor dir, bevor alles den Bach runtergeht! Wenn das Abheften von Kontoauszügen aus den letzten drei Jahren wichtiger wird als der nächste Sex, wenn in deinem drahtigen Körper so nach und nach alle Drähte durchschmoren und du aufgehst wie Hefeteig oder, schlimmer, wie eine Wasserleiche im trüben Sumpf an einem heißen Sommertag - dann wirst du dir wünschen, mein Freund, du hättest diese Nacht nicht mit dem Gesicht frontal in einer stinkenden Lache verbracht, sondern wärst mit wachen Sinnen durch die Welt jubiliert und hättest dich gefreut, jung zu sein. Carpe diem!
Noch zwei Jungs. Der eine leuchtet mit der Taschenlampe den Boden ab, der andere brabbelt vor sich hin, dass sein geiles Klappmesser wichtiger sei als die blöde Telefonnummer, die er vermutlich ebenfalls verloren hat. Der mit dem verschwundenen Messer fragt mich mit benebeltem Blick, ob ich Noah oder Kevin kenne. Nein, kenne ich nicht, ich war auch nie besonders bibelfest, und mit über 30 kenne ich bestimmt keinen Kevin. Früher war ich als Mathias mit nur einem "t" schon der Knaller. Kevins kannte ich nur aus Hollywood-Filmen. Aber ich hätte gern Freunde gehabt, die Noah heißen. Alles, was ich hatte, waren Roland und Dirk, die sonntags zum Kaffee kamen. Wahlweise aßen wir Muttis Kirsch- oder Bananen-Sahnekuchen. Wir hätten uns nach dem Kaffee auch gleich erschießen können.
Ein dumpfes Geräusch, kurz darauf kommt der Schmerz. Eine Bierflasche hat mich am Kopf getroffen. Blut zwischen den Fingern. Die Flasche kam aus dem Nichts durch einen Busch geflogen. Eine Scherbe steckt noch in meinem Ohr. Das ist eigentlich gut, so muss ich das Wort "Alter" nur noch halb so oft hören, das mittlerweile ein eigenes Satzobjekt geworden ist. Ich bin mir fast sicher, nach der neuen Rechtschreibung darf man einen Punkt oder ein Ausrufungszeichen nur noch nach dem Wort "Alter" setzen.
Zwei blondierte Mädels mit ähnlichen Flaschen am Hals, nur noch unzerbrochen natürlich und mit Bier drin, das sie sich munter in den Hals laufen lassen, torkeln über den Rasen. In Tunesien sah ich mal ein Kamel, das eine Touristenattraktion war, weil es eine Colaflasche, wenn man sie ihm ins Maul steckte, in einem Zug leer soff.
Diese schicken, bunten, schlanken Bierflaschen mit fröhlichem Mix-Inhalt hatten wir übrigens damals auch nicht. Das Trinken hätte bestimmt mehr Spaß gemacht und uns sehr viel schneller zu den Alkoholikern gemacht, die wir so erst mit Mühe in Jahrzehnten wurden. Ich möchte die Mädchen beiseite nehmen und ihnen sagen, dass sie sich die volltrunkenen Glücksmomente für später aufsparen sollen, wenn sie sie wirklich brauchen. Zum Beispiel, wenn sie nach dem verkrachten Schulabschluss feststellen, dass sie niemals eine Lehrstelle bekommen und zu blöde sind, den Hartz IV-Antrag auszufüllen. Aber ich möchte ihre Unterhaltung nicht stören, denn sie sprechen über den ersten Sex, den sie allerdings bereits vor Jahren hatten. Seitdem sind sie sehr gereift und verhüten jetzt schon, indem sie nur montags mit ihren Freunden schlafen. Der Montag soll ja sehr unfruchtbar sein.
Der Spaß ist mir vergangen. Ich rieche kein Grillfleisch, sondern Bier und Körperflüssigkeiten. Ich höre keine Gitarren, sondern Gangsta Rap von schwarzen Bodybuildern mit gefälschtem Vorstrafenregister. Ich sehe keine Partys, nur Finsternis und das gelegentliche Aufblitzen von Foto-Handys. Ich spüre nicht den schwindenden Sommer, sondern die schwindende Sehnsucht.
Als ich an einem Glaskasten mit dem Lageplan des Parks vorbeikomme, entdecke ich im Licht einer letzten Laterne, die den nach ihr geworfenen Steinen getrotzt hat, mein Spiegelbild. Meine verloren geglaubte Jugend, sehe ich überrascht, ist gar nicht verloren, sondern klar erkennbar. Wenn auch nur für mich.
Ich verlasse den Park. Noch einmal jung sein? Lieber würde ich sterben.
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