Lauter Irre

Berliner Abende Kolumne

Sommerabend im Biergarten an der Karl-Marx-Allee. Ich mag den, weil hier so normales Publikum verkehrt. Naja, jedenfalls keine Schnösel. Man kann unter Platanen an Holztischen sitzen oder in Liegestühlen liegen, seine Füße in Sand oder einem kleinen Planschbecken baden und auf die alte Stalin-allee blicken. Es gibt das Bier auch in Plastikkannen, wenn man will. Ich fletze in einem Sonnenstuhl und bemühe mich gerade, dem Blick des Straßenfeger-Verkäufers auszuweichen, - als ich überraschend Roland erkenne. Er schaut im selben Moment zu mir, braucht ein paar Sekunden (genau wie ich), um seine Hypothalamus-Festplatte in Gang zu setzen und die gewünschten Daten aus seinem Memory-Speicher abzurufen. Aber dann erinnert er sich. Fast gleichzeitig stehen wir auf. Gehen aufeinander zu, und ich stelle mir wie immer die Frage: Wie begrüßt man sich nach 15 Jahren? Küsschen, Drücken, Schulterklopfen? Oder die Hand schütteln? Roland ergreift die Initiative und entscheidet sich fürs Umarmen. Fest und freundschaftlich, genau wie früher. Mensch, was machst du denn hier? Roland und ich sind beide aus dem unbedeutenden niedersächsischen Uelzen nach Berlin gekommen, ich vor 15 Jahren, Roland vor vier Wochen.

Ich hole uns zwei Hefeweizen, setze mich zu ihm. Wie geht´s dir, was arbeitest du? Egal. Weißt du noch, wie´s damals war? Ach... Alte Freunde zu treffen macht nur Sinn, wenn man sie wie lebende Fotoalben benutzt - kurz aufschlagen, zusammen lachen, zuklappen, tschüs bis zum nächsten Mal. Was interessiert mich, ob er jetzt eine Frau oder zwei hyper-aktive Kinder hat? So gut waren wir nicht befreundet. Auch sein Nachname will nicht so recht durch den Nebelschleier der Erinnerung dringen. Roland findet Berlin sehr aufregend, aber irgendwie sei die Stadt voll von "lauter Irren". Ich überprüfe, während er redet, den Wahrheitsgehalt. Gut, da hinten spricht ein älterer Herr mit seiner Lauchcremesuppe, und am Eingang zum Biergarten ruft ein Bursche im Everlast-Muskelshirt seinen winzigen, debilen Hund: "Snoopy, Snoopy!" In meiner Zivildienstzeit in der Psychiatrie habe ich Schlimmeres gesehen.

Also, was gibt es Neues in unserem Heimatkaff? Roland erzählt, unser ehemaliger Französischlehrer habe sich letzte Woche in seiner kleinen Dachgeschosswohnung aufge-hängt, nachdem er mehrere Monate vom Unterricht suspendiert war. Offenbar gingen mehrere Anzeigen wegen sexueller Belästigung von Minderjährigen bei der Polizei ein, was zunächst das eine (Suspendierung), dann das andere (akuten Sauerstoffmangel) zur Folge hatte.

Keine Überraschung für mich. Ich erinnere mich, wie ich mit 14 nach einer Französisch-Sechs von ihm in die Schule zitiert wurde: am Nachmittag, allein. Wo der gute Pädagoge mich nicht nach Vokabeln, sondern meinen sexuellen Aktivitäten (die damals sehr beschränkt waren) befragte. Als ich es seinerzeit herumerzählte, hörte ich die gleiche Geschichte von mindestens fünf Schulfreunden.

Der Petersen hat sich also aufgehängt, ja? Das tut mir aber Leid. Lebt denn der Mathe-Scholz noch? Der war doch schon damals schwerer Alkoholiker und fehlte wochenlang, weil er auf "Dienstreise", sprich "auf Entzug" war. Genau wie unsere übergewichtige Musiklehrerin, die wir Lollo nannten und die - wie ich von Roland höre - jetzt nur noch unter schweren Antidepressiva arbeiten kann. Sie war damals schon etwas verspannt, wenn sich jemand beim Blockflöten verspielte. Da hat sie uns immer ihr Notenbuch um die Ohren gehauen. Geografie-Baumann hat in solchen Fällen den Weltatlas vorgezogen. Er gab nebenbei auch Sportunterricht. Wir erinnern uns alle an seine freundlichen "Hilfestellungen", nach denen die Mädchen blaue Flecke an den unmöglichsten Körperstellen hatten. Ach ja, was für Zeiten!

Uelzen hat jetzt übrigens eine eigene psychiatrische Einrichtung. Sie steht zwischen herrlichen Apfelbäumen direkt hinter dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Meine Mutter wohnt immer noch dort. Sie und ihre Nachbarn wurden von der Anstaltsleitung sehr höflich und behutsam darauf aufmerksam gemacht, dass sie deswegen keine Angst haben müssen.

Je mehr wir über unsere Wurzeln sprechen, umso nachdenklicher wird Roland. Ich schaue mich wieder um. Der Suppen-Mann ist weg, an seiner Stelle sitzt jetzt ein Rentner-Pärchen, das sich eine Berliner Weiße mit zwei Strohhalmen teilt. Neben mir öffnet eine hübsche junge Frau ihre Handtasche, holt unter dem Tisch ein Bügeleisen heraus, betrachtet es kurz von allen Seiten und steckt es schnell wieder zurück. Ich grüße freundlich. Sie schenkt mir ein so schüchternes und bezauberndes Lächeln, dass ich sie spontan zu einem Glas Wein einlade. Es ist Sommer. Lauter Irre? Ich bin froh, dass ich dem Irrenhaus meiner Jugend unbeschadet entkommen bin. Ich liebe Berlin.


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