Am Anfang war die Console

Siliziumzeitalter Ohne Spiel wäre der Computer, wie wir ihn heute kennen und nutzen, nicht denkbar. Anmerkungen zu einigen kulturellen Aspekten des Computerspiels

Der Mensch erschien im Holozän. Seitdem durchlief er mehrere Zeitalter, die sich jeweils durch das Hauptwerkzeug definierten, das er benutzte, um seine Welt zu gestalten. Für manche dieser Zeitalter gibt es einen sehr eindeutigen Namen: Steinzeit, Bronzezeit, Atomzeitalter. Manche wurden mit Prozessen identifiziert: Renaissance, Aufklärung, Industrielle Revolution. Das Zeitalter, in dem wir gerade leben, ist ein radikal neues Zeitalter. Die Kultur dieses Zeitalters ist geprägt von einem Material, das von den wenigsten wahrgenommen wird, weil es in traditionellen Zusammenhängen fast überhaupt keinen Nutzen hat: Silizium.

Die Siliziumzeit begann am 21. Mai 1972. An diesem Tag gründeten die Ingenieure Nolan Bushnell, Ted Dabney und Larry Bryan eine Firma namens Szyzygy. Ihr Zweck sollte die Massenproduktion von einer Art elektronischem Spielzeug sein, das Nolan Bushnell in Präsentationen der Firma Magnavox und ihres Entwicklers Ralph Baer kennen gelernt hatte. Ein Lichtpunkt flog über einen Fernsehbildschirm und konnte von zwei beweglichen Strichen an den Seiten hin- und hergeschickt werden. Bushnell war überzeugt davon, dass man die Menschen dafür begeistern könnte. Der Erfolg seiner Firma, die aus rechtlichen Gründen in Atari umbenannt werden musste, gab ihm Recht. Mit 250 Dollar Kapital war die Firma gestartet, vier Jahre nach ihrer Gründung war sie dem Warner-Konzern 28 Millionen Dollar wert. Die Videospiele, die Atari produzierte, waren in der Mainstream-Kulturindustrie angekommen. Und nicht nur sie.

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts stieg die Nachfrage nach Computerbauteilen drastisch an. Mit Recht kann man behaupten, die Massenproduktion von Mikrochips und die damit einhergehende Verbilligung der Computertechnik wurde von der Videospielindustrie ermöglicht. Denn nachdem die alten integrierten Schaltkreise durch Mikrochips ersetzt werden konnten, rissen sich die neu entstandenen Spielefirmen, die am Erfolg von Atari teilhaben wollten, um die neuen Chips und überboten sich in den Stückzahlen ihrer Bestellungen. Der AY38500 von General Instruments, Urvater von 386er-, Pentium- und Centrino-Prozessor, war bei seinem Erscheinen 1976 sofort ausverkauft, überbestellt, nicht mehr lieferbar. Atari und die anderen kämpften darum, die Nachfrage nach Mikroelektronik, die sie mit ihren Produkten geschaffen hatten, befriedigen zu können.

Es begann ein bis heute anhaltender Regelkreis, dass Videospiele die Hardwareentwicklung vorantrieben. Ohne Spiele hätten Firmen niemals Mikrochips, Diskettenlaufwerke, Monitore, CD-Roms oder Modems in den Stückzahlen, zu den Preisen und in der Qualität herstellen können, die wir bis heute erleben. Und ohne Spiele hätte auch niemand ein Bedürfnis nach ihnen gehabt. Computerhardware zog nicht in die Haushalte ein, weil die Menschen ein Bedürfnis nach Textverarbeitung, E-Mail-Verkehr und Online-Auktionen hatten, sondern weil Kinder und Jugendliche spielen wollten. Alles andere ergab sich erst später. Mit Videospielen lernten Menschen Computer. Und auch der Computer lernte an den Videospielen. Zumindest technisch.


Unsere Gesellschaft ist inzwischen komplett mikroelektrifiziert. Einen Begriff von ihrer eigenen Kultur, ein Verständnis ihrer Prinzipien hat sie aber nicht, wie das Beispiel Computerspiel zeigt. Wenn Computerspiele im öffentlichen Diskurs auftauchen, dann meistens in zwei Darstellungsformen. Zum einen gibt es die Artikel und Berichte, in denen pädagogische Aspekte, positiv wie negativ, verhandelt werden, hauptsächlich in Hinblick auf die Wirkung von Gewaltdarstellungen. Zum anderen gibt es den Computerspieljournalismus, der fast ausschließlich einer technoiden Testästhetik folgt, mehr oder weniger durch flapsige und launige Beschreibungen kaschiert.

Beide Varianten der Darstellung konzentrieren sich auf die Oberfläche der Spiele, die Bilder, die die Monitore und die Spieler von sich geben. Diese Oberflächen werden dann mit früheren Oberflächen verglichen, um die Unterschiede beschreiben und daraus ein Urteil ableiten zu können, ein Verfahren, dass noch bei jedem neuen Medium angewendet wurde: Die Photographie eines Gewaltaktes war schlimmer oder besser als ein Gemälde, weil sie ungestaltet und damit echt war; der Film war schlimmer oder besser als das Photo, weil er durch seine Bewegung den Zuschauer den kompletten Vorgang durchleben lassen konnte; das Video davon war besser oder schlechter, weil es nicht mehr im kontrollierten und reglementierten öffentlichen Raum stattfand, sondern das Grauen ins Private und damit gewissermaßen in die Köpfe selbst trug. Und heute ist all das nachweislich kein Problem mehr oder problematisch geworden, weil alle damit aufgewachsen und vertraut sind.

Interessant sind dabei aber nicht die Urteile, denn die sind seit 2500 Jahren gleich: Medien reduzieren und verfälschen die Tatsachen, formatieren das Denken, zerstören Menschlichkeit, ersetzen das Reale und machen hörig. Oder sie machen das genaue Gegenteil: Sie liefern uns neue Ansichten, erweitern das Denken, drücken menschliche Kreativität aus, bereichern unsere Weltsicht und befreien unseren Geist. Erkenntnistheoretisch interessant ist einzig das Differenzmerkmal, mit dem die Urteile nun endgültig belegt werden sollen. Die Juristin Johanne Noltenius hat 1958 mit Blick auf die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft eine These aufgestellt, die in geringer Variation zuvor schon für Fotografie, Telefon, Film, Radio und Fernsehen galt: "In dem Augenblick, in dem die Wirkung und Verbreitung eines Kommunikationsmittels durch die technische Entwicklung besonders gefördert wird, wird ganz automatisch die Forderung nach Kontrolle des Kommunikationsmittels erhoben." Insofern ist die rhetorische Vehemenz, mit der die gefährliche Wirkung oder das immense Potenzial von Computerspielen beschworen wird, nur ein Indiz dafür, dass sich Computerspiele gerade durchgesetzt haben und mit anderen Kommunikationsformen in Konkurrenz treten. Kulturkritik wird dann wie seit Jahrtausenden aus Generationserhaltungstrieb eingesetzt, vor allem von denen, deren herausgehobene gesellschaftliche Stellung genau auf der Handhabung der in Verdrängung begriffenen Kommunikationsform beruht, dem Debattenfeuilleton etwa oder dem Radio- und Fernsehinterview.

Johanne Noltenius´ These erinnert zudem an Marshall McLuhans sechs Jahre später verwendete Metapher von der Sichtbarwerdung der Schallwellen an den Tragflächen "[k]urz bevor ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht .... Das plötzliche Sichtbarwerden des Schalls gerade dann, wenn der Schall aufhört, ist ein treffendes Beispiel jener großen Seinsgesetzmäßigkeit, die neue und gegensätzliche Formen offenbart, wenn frühere Formen gerade den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen." Die Umformulierung für Computerspiele kann nun lauten: Genau jetzt, wo die Kritiker und Befürworter die Manipulierbarkeit von Handlungsrepräsentationen, also die Interaktivität, als das entscheidende Moment von Computerspielen ausmachen, fangen die neuen und gegensätzlichen Formen des Computerspiels gerade erst an. Computerspiele sind nicht Romane, Filme oder Popsongs, sondern Computerspiele.

Ihre Eigenständigkeit beruht aber, wie die Eigenständigkeit der anderen Medien, nicht so sehr auf einer völlig neuen Art und Weise der Darstellung oder der Weltsicht, sondern auf einer eigenen Mischung und Bezugnahme auf andere Medien. Der Inhalt von Medien, so McLuhan, sind andere Medien: Es gibt im Film Literatur und in der Literatur gibt es Bilder. Die Neuigkeit, die wir an einem neuen Medium wahrnehmen, ist daher das neue Verhältnis, das es zwischen unseren Sinnesempfindungen schafft: Der Film erzeugt eine andere Beziehung zwischen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten als das Radio, einzelne Sinne werden stärker angesprochen, andere weniger oder gar nicht. Und wenn sie ein Medium sind, dann machen auch Computerspiele nichts anderes als eine Neuorganisation dieses Verhältnisses.

Um von der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, müssen neue Medien zu Beginn allerdings die Form der in ihnen enthaltenen Medien kopieren. So war der Film zu Beginn konserviertes Theater, man hatte nur eine Kameraeinstellung auf eine Bühne, womit der unverrückbare Platz im Parkett eines Theaters simuliert wurde. Wäre Film gleich zu Beginn das gewesen, was wir jetzt kennen - Zerstückelung: von menschlichen Körpern durch Großaufnahmen, von Räumen durch Kameraachsen, von Zeit durch den Schnitt, und anschließend Rhythmisierung dieser Teile durch die Montage -, niemand hätte Film sehen wollen, weil er nicht in das eigene Weltbild gepasst hätte.


Insofern sind, überspitzt gesagt, Computerspiele im Moment noch nicht einmal Computerspiele, sondern befinden sich noch in diesem Zustand der Anpassung, in dem sie Film und Roman sein müssen, "interaktiv" zwar (was immer das heißen mag), aber dadurch eben nur der "bessere Film" oder der "bessere Roman". "Man schreibt seine eigene Geschichte" - das ist die naive Vorstellung sowohl der meisten Fürsprecher wie der meisten Kritiker dieses Mediums. Für die einen bedeutet dieses ultimative Kreativität, für die anderen die diktatorische Handlungsanleitung. Wie aber ein Jenseits von Erzählung aussehen könnte, also das, was Computerspiele sind, kann man sich zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellen, weder als Spieler, noch als Kritiker oder Produzent. Bestenfalls hat man Hinweise. Zum Beispiel, dass man intuitiv sowohl "Tetris" wie auch "World of Warcraft" als Computerspiele begreift, sie also irgendetwas Gemeinsames haben müssen, was nicht Erzählung von Figurenmotivation sein kann.

Medien funktionieren als Aufzeichnungssysteme, in ihnen wird etwas aufgehoben, das andere dort finden können. Auch in der Rede von der Interaktivität ist dieses Verständnis aufgehoben, indem nämlich der Nutzer etwas in das Computerspiel hineinschreiben soll, was dort dann vorhanden ist: die eigene Version des Geschehens nämlich. Allerdings haben es von diesen Aufzeichnungen keine in die anderen Aufzeichnungssysteme unserer Gesellschaft geschafft: Nirgendwo kann man etwas von den individuellen Geschichten lesen, hören oder sehen, die so entstanden sein sollen. Was wohl daran liegt, dass es sie nicht gibt.

Bis heute geht es bei den allermeisten Spielen um Eines: die Anpassung des Spielers an Programmstrukturen des Computers. Noch bei den "literarischsten" Computerspielen, den "Adventures", geht es darum, ein Gesamtschema und das Zusammenwirken seiner Einzelteile zu begreifen und zu verinnerlichen, sich an den Computer anzupassen. In Computerspiele wird nichts hineingeschrieben, Computerspiele fragen ständig ab, ob und wie sich der Mensch vor dem Computer verhält und ob und wie dieses Verhalten sinnvoll in einem Programm eingesetzt werden kann. Die meisten Innovationen bei Computerspielen gingen deshalb bis heute nicht von ihren vorgeblichen Geschichten aus, sondern von Veränderungen des Interfaces - entweder von anderen Eingabegeräten wie Drehknopf, Tastatur, Joystick, Maus, Controller, oder von anderen Zugriffsprinzipien auf die dargestellte Welt wie Parser, Scrolling, Menü oder 3D-Mapping. Diese neuen Interfaces konnten dann für andere, nicht-spielerisch erscheinende Anwendungen wie Textverarbeitung oder Browser übernommen werden. Der Erfolg von Nintendos neuer Konsole Wii erklärt sich nicht aus der Originalität seiner Spieloberflächen. Die beliebteste Software ist interessanterweise ein Sportspiel, in dem man wie zu Ataris Anfängen "Lichtpunkte" sprich Bälle von einer Seite des Bildschirms auf die andere befördert. Sie erklärt sich aus der neuen Steuerung über eine Fernbedienung, die natürliche Körperbewegungen in Steuerungsbefehle für die Spiele übersetzen kann. Und das ist das komplett neue Spiel. Nicht das Tennis auf dem Bildschirm.

Anpassung ist Identifikation genau entgegengesetzt. Zur Identifikation bedarf es eines Anderen, mit dem man sich identisch machen kann - das Prinzip von Narrationen in Literatur und Film. Bei der Anpassung wird man sich allmählich selbst unähnlich. Es gibt Identifikation im Computerspiel, nämlich die erzählerischen Anschlüsse, die sich durch Figuren- und Weltgestaltung ergeben. Diese Identifikation funktioniert allerdings als Katalysator, um die Anpassung vonstatten gehen zu lassen. Man ist mit der Figur eines Computerspiels nur außerhalb des Spiels identifiziert, innerhalb baut man das eigene Körperschema gemäß den mechanischen Möglichkeiten dieser Figur um. Das ominöse "Gameplay", das als Kategorie der Letztbegründung in Computerspielrezensionen den Ausschlag für eine gute oder schlechte Bewertung geben muss, zielt im Wesentlichen darauf, wie anpassungsfähig und wie originell das Körperschema ist, das vom Spiel entworfen wird.


Spielkritik hätte in der Vergangenheit also an diesen Verhältnissen zur Maschine ansetzen sollen - wie im Übrigen auch Sportjournalismus eher über die Ästhetik von Bewegung als über Ergebnisse und Sportlerbiographien berichten sollte. Die Konzentration auf die simulierten Erzählungen hat das aber verhindert. Selbst wenn man dieses Versäumnis inzwischen einsehen würde, wäre es wahrscheinlich zu spät. Denn es spricht einiges dafür, dass der Anpassungsprozess inzwischen vollendet ist. Von einigen Ausmaßen wie Nintendos Wii abgesehen, steht das Körperschema für Verhalten in Computerprogrammumgebungen inzwischen fest und ist von den meisten verinnerlicht worden. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass viele Spiele inzwischen mit dem allumfassenden Genre "3D-Action-Adventure mit Rollenspielanteilen" bezeichnet werden müssen. Sprich, man muss mit einer Figur durch eine 3D-Umgebung laufen und auf Gegner schießen, kann dabei einen Zuwachs der Bewegungs- und Einflussmöglichkeiten erfahren und versucht, eine übergreifende Aufgabe zu lösen. Beschreibenswerte Varianten gibt es kaum noch.

Interessanter wird sein, eine Tendenz zu erfassen, die seit "Tomb Raider"1996, spätestens jedoch mit "Grand Theft Auto: Vice City" und "Grand Theft Auto: San Andreas" zu beobachten ist. Dass Computerspiele nämlich sich nicht mehr darauf beschränken, Verhalten von Spielern abzufragen und zu korrigieren, sondern dass sie Umgebungen darstellen, in denen die diffusen kulturellen und medialen Erfahrungen der Spieler in jeweils spezifischer Weise realisiert werden können. Wer "Vice City" spielt, fährt nicht nur durch die Straßen einer fiktiven Mafiastadt, er evoziert auch seine eigene Akkulturation durch Fernsehserien wie "Miami Vice" oder die Hitparaden der achtziger Jahre. Hier ist gesellschaftliches Wissen nicht gespeichert, sondern, um Elena Esposito zu zitieren, es wird Gedächtnis als Programm gefasst, das Informationen "auf Basis eigener Operationen jedes Mal neu erzeugt". Kultur wird nicht als Geschichte festgeschrieben, sondern in ihrem lebendigen Funktionieren begriffen, modifiziert, prozessiert. Nach der Anpassung der Menschen wird nun das Zusammenspiel von Menschen, ihre Kultur, an Programmstrukturen angepasst. Unabhängig davon, ob sie es begreifen oder nicht. Spielkritik, die sich darauf einließe, hätte aber die Möglichkeit, an dieser Kultur teilzuhaben und sie stärker zu beeinflussen, als sie es bisher konnte.


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