Letztes Jahr im Kino gewesen. Nicht geweint. Was erstaunlich ist, denn ich hätte allen Grund dazu gehabt. Nicht weil Der Hobbit, den ich da gesehen hatte, rührende Momente gehabt hätte, die in durch 48 aufgenommene Bilder pro Sekunde perfektioniertem 3D in mein Herz gehämmert worden wären. Sondern weil diese riesige Flugabwehrkanone an Film, hinter die ich mit den 500 anderen Menschen im Saal gesetzt wurde, überhaupt nichts gegen einen Feind ausrichten konnte. Im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass der Rückstoß in das Kino hinein sehr viel wirkungsmächtiger war und sein Fundament endgültig zerkrümeln ließ. Diesen Ort, den ich liebe wie Millionen anderer Menschen. Eigentlich alle. Niemand will, dass es ihn nicht mehr gibt. Aber wir schauen interessiert zu, wie er sich auflöst.
Die Schlacht, in der diese Geschütze namens Der Hobbit, Avatar oder Star Wars: Episode III stehen, läuft seit über 60 Jahren. Seit die ersten kommerziellen Sender in den Vereinigten Staaten Fernsehen zu einer massenhaft verbreiteten Möglichkeit machten, Bewegtbild zu sehen. Seit diesem Zeitpunk galt es, sich gegen diesen Konkurrenten zur Wehr zu setzen und immer wieder das zu behaupten, was eine relativ aktuelle Kampagne der deutschen Filmwirtschaft formuliert: „Kino. Dafür werden Filme gemacht.“
Die Konkurrenz bestand dabei nie darin, dass hier zwei Medien um die Zeitressourcen der Menschen buhlten. Sondern, ob ein bestimmter Ort, an dem das Medium Film stattfand, erhalten bleiben konnte oder nicht: der Filmpalast oder das Pantoffelkino, als das die Menschen das Fernsehen schnell identifizierten.
Bis dahin war Kino kein Ort, an dem Film stattfand. Kino war gleichbedeutend mit Film. Insofern war Kino ein Medium: ein bestimmtes Set von Möglichkeitsbedingungen zur Erzeugung bestimmter Formen. Es gab keinen Film außerhalb von Kinos. Der Projektor mit durchlaufendem Filmstreifen vor einer Leinwand – die rückwärtslaufende Kamera – war die einzige technische Möglichkeit für Film.
Weil das in einem bestimmten Raum wie dem Kino nicht nur technisch, sondern auch ökonomisch am besten zum Tragen kam, gab es diese Orte (und muss es sie immer noch geben, wenn man die spezifischen technischen Bedingungen pflegen möchte). Alles, was wir mit Kino verbinden, weswegen ich und andere weinen wollen, wenn es verschwindet, die großen auratischen Säle, das Verschmelzen mit einer fokussierten Zuschauergruppe, die freudianisch überhöhbare Atmosphäre des sich verdunkelnden Raumes und des hypnotisierenden Bildes in einem Gebärmutter-Ersatz, das Popcornklima, die gepeinigten Eisverkäufer, die Knutscherei in den letzten Reihen – alles das ist ein Sekundärphänomen, das von dieser historischen technischen Beschränkung erzeugt worden und von ihr abhängig ist.
3D als Dauerwerbetechnik
Im Buch Der Zauberer von Oz von L. Frank Baum werden alle, die die Smaragdstadt betreten wollen, gezwungen, grüne Brillen aufzusetzen. Dadurch wird aus einer eigentlich blassen und charakterlosen Stadt ein überwältigender Ort, als wäre er aus funkelnden Smaragden gefräst. Was einer der Tricks des Zauberers ist, um seine Untergebenen von seiner Mächtigkeit zu überzeugen.
Das Kino hat versucht, diesen Trick zu übernehmen, indem es seit den fünfziger Jahren die Menschen immer wieder überreden möchte, Brillen aufzusetzen, um aus gewöhnlichem Bewegtbild, das man auch an anderen Ecken bekommen konnte, eine überwältigende Konstruktion zu machen, die zur kompletten Einbeziehung des Zuschauers in das Geschehen im Filmsaal führen soll.
3D war die Dauerwerbetechnik für die Anwesenheit an einem bestimmten Ort, die permanente Ablenkung davon, dass man sich ebenso gut nach Hause zurückwünschen könnte, weil man dort dieselben Schauspieler in den eigenen Alltag integriert treffen würde.
Aber 3D war nicht die einzige Brille, die man uns aufsetzte, es kamen andere hinzu: Technicolor, Cinerama, CinemaScope, VistaVision, Sensurround, THX und viele mehr. Joachim Polzer hat seine Anthologie zur Kulturgeschichte der Filmtechnik dann auch Weltwunder der Kinematographie genannt, um genau diese Technikrhetorik zur Überwältigung des Zuschauers und zur touristischen Bindung an spezifische Orte zum Ausdruck zu bringen. Filme gibt es viele, so war die Erzählung, besonders im Fernsehen, aber Filme im Kino sind keine Filme, sondern Kolosse, Pyramiden, Zeusstatuen.
So weit, so einigermaßen bekannt. Dem folgend, stellen das 3D der 2010er-Jahre und die 48-Bilder-pro-Sekunde-Technik von Peter Jacksons Hobbit nichts Neues dar. Es handelt sich lediglich um eine Fortsetzung. Im 21. Jahrhundert dagegen ist etwas verändert worden, das gravierender ist, als man zunächst meinen möchte. Und diese Veränderung heißt Digitalisierung.
Das, was wir in einem Kinosaal als High-End-Kinofilm zu sehen bekommen, wird digital aufgezeichnet, mit digitalen Schnitt- und Effektprogrammen bearbeitet, als digitales Signal über Kabel oder per Funk verschickt, von Datenträgern als digitale Datei abgelesen, in Rechnern zu digitalen Audiovideosignalen für Digitalprojektoren umgewandelt.
Das ist mehr als bloß besseres und überwältigenderes Material. Es bringt der Kinobranche einen Strukturwandel, in dem technische Berufe bis hin zum Vorführer überflüssig geworden sind. Zudem hat die digitale Kinotechnik ihre Entsprechung längst in hochgerüsteten Heimkinosystemen gefunden, die technisch ähnlich überwältigend sein können.
Die gewöhnlichen Bilder
Andererseits, und das ist das eigentlich Tragische, droht das Kino auch ästhetisch überflüssig zu werden. Denn das Perverse an dem technischen Overkill von Der Hobbit ist ja, dass man seine Ästhetik plötzlich nicht mehr gegen das Fernsehen misst, dem vermeintlich Minderwertigen – sondern mit ihm.
„Das sieht künstlich aus wie eine billig beleuchtete Daily Soap“, lautete das verbreitete Urteil über so ein Kinoerlebnis. Die perfekteste Filmqualität aller Zeiten führt dazu, dass wir denken, hier sei mit größtem Ressourceneinsatz etwas entstanden, was dem gleicht, das mit minimalstem Aufwand produziert wird. Warum soll ich an Kino noch glauben?
Der Kinofilm hat offensichtlich durch die fortschreitende Digitalisierung seine Künstlichkeit beziehungsweise seine durch technische Beschränkungen erzeugte spezifische Anmutung verloren. Ein Kinofilm sieht nicht mehr aus wie ein Kinofilm, sondern wie Fernsehen, und noch nicht einmal wie das beste. Es ist, als hätten unsere Augen sich so sehr an die Grünfilterung der Welt gewöhnt, dass wir, wenn wir grüne Brillen aufgesetzt bekommen, keine Smaragdstadt mehr sehen, sondern die Gewöhnlichkeit der digitalisierten Welt.
Die herausragende Qualität von Kinofilmen, die durch kontinuierliche Verwendung avanciertester Technik gewährleistet wurde, erweist sich im Moment des Umschlags seiner Ästhetik ins Triviale als besondere Beschränkung.
Und wenn schon jahrzehntelang zur Disposition stand, ob man überhaupt ins Kino gehen müsse, – wenn es doch Fernsehen, Super 8, VHS, DVD und Bittorrent gab –, so stellt sich diese Frage nun in allerletzter Konsequenz. Der Haupteffekt von Digitalisierung, also dass man plötzlich auf alle Formen der bisherigen technischen Beschränkungen verzichten kann, dieser Effekt führt zum Ende des Mediums selbst.
Spätestens jetzt brauchen wir kein Kino mehr, um Film zu haben. Es wird weiterhin Film geben, aber er wird überall laufen. Mit Kino hat das nichts zu tun, selbst wenn der Film an einem Ort läuft, der so aussieht wie früher Kino.
Kino ist das neue Vinyl. Und genau mit diesem Vergleich kann man eine wichtige kulturgeschichtliche Konsequenz ziehen: Der Kinofilm könnte überleben, wenn seine historischen technischen Beschränkungen gepflegt werden und aus dem Medium eine Kunstform wird. Kinos könnten zu Museen werden, in denen die Alten Meister laufen, so wie sie dereinst ausgesehen haben. In all ihrer Künstlichkeit vielleicht sogar Neue Wilde, die explizit mit den technischen Beschränkungen arbeiten. Also auf 16,35 oder 70 Millimeter drehen, Jupiterlicht verwenden, grobkörniges Schwarz-Weiß fetischisieren. Und dabei alle historische Technik nicht als Retro verstehen, sondern als spezifische Palette einer besonderen Kunstform. Und sie werden ein Publikum haben, das nun eine Community ist, die Traditionen pflegt und bestimmte Rituale vollzieht.
Manchmal benötigt aber auch das gesamte Publikum Momente der Feier, und dann wird es auf die Restbestände von Infrastruktur zurückgreifen, die die Community erhalten hat. Dann braucht es einen öffentlichen Ort, dann wird Festival sein. Das wird bleiben, denn das funktioniert, und in den letzten Jahren immer besser, entgegen der allgemeinen Abnahme von alltäglichem Kinozuspruch. Das teilen Film und Kino mit Kirchengottesdienst und Kirchentagen, Romanlektüren und Buchmessen, und das ist der einzige Grund für das ansonsten unerklärliche Fortleben des Theaters. Als Medium für Film hat Kino aufgehört zu existieren, als Medium für eine spezielle Kunstform und feierliche Formen der Filmrezeption könnte es bestehen bleiben.
Bereits im Jahr 1898 forderte der polnische Filmtheoretiker Boleslaw Matuszewski, dass öffentliche Museen für den damals neu entstandenen Film entstehen müssten, um ihn der Öffentlichkeit zu vermitteln und ihn als ein Archivinstrument nutzen zu können. Die Digitalisierung könnte nun, über ein Jahrhundert später, dafür sorgen, dass solche Museen entstehen – Museen, die sich selbst zum Gegenstand haben. Orte, an denen ich zelebrieren kann, wie ich als Pubertierender zum ersten Mal Das Imperium schlägt zurück gesehen habe, indem ich ihn sehe, genau so wie damals.
Orte, an denen ich aufgewärmtes Popcorn im Dunkeln essen kann, wenn mir danach ist. An denen ich beeindruckende neue Kinofilme in all ihrer künstlerischen Künstlichkeit genießen kann. Orte, an denen auf Festivals irgendwelche Bewegtbilder jeglicher Provenienz mit Glamour aufgeladen werden. An denen Jugendliche verzweifelt versuchen können, in nicht dafür geeigneten Möbeln herumzuknutschen.
Kino halt. So wie Rummelplätze. Oder Zirkuszelte. Aber die neuesten Filme, also die normalen, die digitalen, die hochwertigen, die guckt man sich dann lieber da an, wo man sie am besten gucken kann.
Mathias Mertens ist Medienwissenschaftler an der Universität Hildesheim Zuletzt veröffentlichte er: Wir waren Space Invaders. Geschichten vom Computerspielen
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