Kriemhild des Computerzeitalters

Lara Croft in neuer Auflage Der weibliche Indiana Jones ist zur Ikone der Computerspiele geworden - was mehr über die Medien als über das Spiel aussagt

Männer verschiedener Nationen hatten einen gleichen Traum, sie sahen eine Frau nachts durch eine unbekannte Stadt laufen, sie sahen sie von hinten mit langem Haar, und sie war nackt. Sie verfolgten sie im Traum. Beim Hin und Her verlor sie ein jeder. Nach dem Traum begaben sie sich auf die Suche nach jener Stadt; sie fanden sie nicht, doch sie fanden einander; und sie beschlossen, eine Stadt wie im Traum zu bauen."

So erzählt es Italo Calvino in seinem Buch Die unsichtbaren Städte und erklärt damit, wie es zur Gründung der Stadt Zobeide kommt. Eine ideale Geschichte, um über patriarchale Medienstrukturen zu schreiben, zumal, wenn sie Teresa de Lauretis in ihrer Studie Alice doesn´t. Feminism. Semiotics. Cinema schon zitiert hat, um über die Konstruktion der "imaginierten Traumfrau" - woman - im Gegensatz zu den vielen, einzelnen, sterblichen "realen Frauen" - women - nachzudenken, die in kulturellen Produkten geschieht. Und wenn man dann auch noch die Perspektive von hinten auf eine laufende Frau mit langem Haar hat, dann kann man kaum widerstehen, in Calvinos Prosa einen Kommentar zu Tomb Raider und seiner Protagonistin Lara Croft zu sehen, zumindest beide als ein "Emergenzphänomen" wahrzunehmen, als ein an verschiedenen Stellen passierendes Zutagetreten von allgemeinen Paradigmen und Syntagmen des Kultursystems.

Astrid Deuber-Mankowsky bemerkt denn auch in ihrem langen Aufsatz zu Lara Croft eine "frappierende Ähnlichkeit" zwischen Calvinos Traum und "dem Spielerlebnis von Tomb Raider" und leitet daraus die Erklärung ab, "wieso sich nur eine weibliche Figur in der gesuchten Weise aus der Masse hervorhebt", aus der Masse an Spielfiguren nämlich, von denen es keine zu ähnlicher Popularität und Präsenz in anderen Medien wie Zeitschriften und Fernsehen gebracht hat. Von Lara Croft, ihrer ballonbrüstigen Ebenmäßigkeit, ihrer durch athletische Kraft und gnadenlose Gewaltbereitschaft suggerierten Sexualität, geht eine Wirkung aus, die alle bannen kann, die Männer sowieso, die hilflos hinter ihr herrennen, aber auch die Frauen, die sich mit diesem Männertraum identifizieren wollen, um aus der Masse der women aufzusteigen und zur unsterblichen woman zu werden.

Jenseits der Realität, auf unseren Bildschirmen nämlich, verspricht Lara Croft in ihrer Perfektion real zu sein, und das Spielen von Tomb Raider wird zum Akt des Begehrens, niemals erfüllbar, aber dadurch eben gerade bannmächtig. Lara wird niemals erreicht werden, egal wie lange man auch hinter ihr herläuft, und das macht sie zum Minneobjekt des Computerzeitalters, zur Kriemhild unserer Zeit.

Aber ist die Ähnlichkeit zwischen dem Spielerlebnis Tomb Raider und Calvinos Text wirklich so frappierend? Genaues Hinsehen zeigt, dass außer einer laufenden Frau in Rückansicht keinerlei Gemeinsamkeiten bestehen. Statt lang über die Schultern zu wallen und somit ein zumindest im angelsächsischen Raum gültiges Zeichen sexueller Öffnung zu senden, ist Laras Haar zu einem strengen Zopf gebunden, der nur starr herunterhängen und träge hin und her schwingen kann. Außerdem ist Lara nicht nackt, obwohl es im Internet patches herunterzuladen gibt, die genau das bewirken. Aber das ist nur ein Hack des Offiziellen. Offiziell ist es nämlich enorm wichtig, dass Lara keine sekundären Geschlechtsmerkmale entblößt. Denn schließlich würde dann Tomb Raider aus dem massenkompatiblen Popkultursegment herausfallen und in die anrüchigen Ecke der Pornographie oder, schlimmer noch! der Kunst geschoben.

Neben solchen Äußerlichkeiten gibt es aber auch entscheidende strukturelle Unterschiede. Wenn der Traum der Männer, in dem sie hinter der Frau herrennen, das Spiel sein soll, was ist dann die Phase des Stadtbaus danach? Sind all die Männer nach Ende des Spiels wirklich suchend durch die Welt gegangen und haben sich gefunden? Waren sie überhaupt während des Spielens vereint? Und wer hat beim Tomb Raider-Spielen schon einmal den Kontakt zu Lara Croft verloren?

Wer Tomb Raider spielt, ist an Lara gefesselt. Sie ist die Verbindung in die Spielewelt, Inkarnation des Gamepads, Joysticks, Controllers, Platzhalter des Spielers. Insofern läuft man nicht hinter einem unerreichbaren Ideal her. Man kann keine Distanz schaffen, um ein Begehren auf ein Objekt auszurichten, weil man nur dann im Spiel ist, wenn es Lara auch ist.

Anders als im Film und im Roman, wo man sich durch die Rolle des Betrachters vollständig mit einer oder einem Anderen identifizieren kann, ist man im Computerspiel gleichzeitig auch Agierender und in diesen beiden Rollen rückgekoppelt. Man kann nicht nur agieren, weil dann der Überblick über das Geschehen fehlt, der entscheidend ist für die Aufgaben des Spiels, man kann aber auch nicht nur beobachten, weil dann der Ablauf der Erzählung zum Stillstand kommen würde und es nichts zu beobachten gäbe.

Daraus lassen sich zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen: Entweder, man inszeniert sich selbst für sich selbst, oder die permanente Rückkopplung macht die Trennung der Rollen obsolet und es gibt im dramaturgischen Sinn überhaupt keine Aufführung.

Da die Möglichkeit zur Inszenierung überhaupt nicht gegeben ist und man nur auf Vorgaben reagieren kann, bleibt bei genauer Betrachtung nur die zweite Schlussfolgerung bestehen. Man ist also, wenn man ein Computerspiel spielt, weder selbst repräsentiert noch mit jemandem identifiziert, man kürzt sich gewissermaßen selbst auf beiden Seiten der Gleichung heraus. Es ist für das Spiel völlig unerheblich, wie Lara Croft beschaffen ist, es hat keinerlei Aussage, sie ist ein Servomechanismus wie jede andere Spielfigur auch.

Exkurs: Avatar

In der Terminologie zum Cyberspace hat sich der Begriff des Avatars festgesetzt, um den Zugriff des Users auf den Raum zu beschreiben. Unter Avatar versteht man die Repräsentation des Spielers beziehungsweise Nutzers im digitalen Raum, die eine Interaktion mit der Umgebung und anderen Avataren und damit anderen Spielern ermöglicht. Eine gängige Definition lautet: "Avatare sind Stellvertreter, virtuelle Repräsentanten der materiegebundenen Wesen, die sie ins Leben gerufen haben. Dabei geht es nicht um eine 1:1-Repräsentation, vielmehr werden Avatare genutzt, um bestimmte Aspekte des eigenen Selbst auszudrücken." (Siehe Nicola Döring: Sozialpsychologie des Internet). Durch Avatare ist es möglich, mit selbstbestimmten Maskenspielen aus der Rolle zu schlüpfen, die einem die Gesellschaft zuschreibt, und die eigene Persönlichkeit in ihrer ganzen Bandbreite auszuleben.

Aber selbst die entschiedenste Prophetin dieser proteischen Cyberexistenz - Sherry Turkle - sieht in diesem Phänomen eine Unterminierung von Persönlichkeit, wenn sie schreibt, dass "die gewohnheitsmäßige Erzeugung multipler Identitäten die Vorstellung eines realen, unitären Selbst untergräbt." Identisch kann man eben nur mit einem Fixum sein, einer wiedererkennbaren, zuverlässig anzutreffenden und einigermaßen vorhersagbar sich verhaltenden Entität. Die Befreiung von Rollenmustern ist nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Sondern wohl eher mit dem Nichts. Als Avatar bin ich also nicht ich, sondern ich bin nicht. Beziehungsweise alles.

Die hinduistische Urbedeutung von Avatar geht sogar noch weiter. In dem Wort steckt der Stamm "tri", was "Übergang" bedeutet, und durch die Vorsilbe "ava" wird daraus ein "Hinabsteigen". Schon in der Wortbedeutung gibt es also eine Hierarchie, die sich vollends zeigt, wenn man die Ursprungserzählung kennt, in der der Avatar auftaucht. Danach ist der Avatar eine menschliche oder tierische Verkörperung des Gottes Vishnu, der so gleichzeitig in der Welt agieren kann, während er diese Aktion vom Himmel aus beobachten und koordinieren kann. Und er tut dies nur unter bestimmten Umständen, wenn Unordnung entstanden, ein System aus dem Gleichgewicht geraten ist und er den ursprünglichen Zustand wiederherstellen will. Die niedere Lebensform, die er dazu benutzt, ist nur eine Verlängerung in das System hinein, ein Werkzeug, mit dem er an den Systemparametern arbeiten kann. Niemand würde von einem Schraubenzieher sagen, dass er die Verkörperung des eigenen Ichs in der Welt der schraubbaren Dinge darstellt, bei der menschlichen Gestalt des Avatars kennt man allerdings keine Hemmungen.

Lara ist Lara ist Lara ...

Ist Lara Croft also ein Avatar? Nach landläufiger Definition als Verkörperung bestimmter Aspekte des eigenen Ichs - ob nun tatsächlich oder gewünscht - in der virtuellen Welt wohl nicht, da sie ja nur ein Feedback des Spielers ist, der dadurch seine eigenen Aspekte verliert und sich vollständig an die Vorgaben und Anforderungen des Spiels anpasst. Doch in der ursprünglichen Bedeutung ist sie wohl tatsächlich ein Avatar, ein Werkzeug, mit dem der Beobachter von einem höheren Überblicksniveau aus in der untergeordneten Welt agieren kann. Jedes Videospiel stellt einen Zustand der Unordnung dar, den man mit einem eigens dafür geschaffenen Werkzeug wieder in Ordnung bringen muss, sei es nun der drohende Austritt des Balls aus dem Spielraum in Pong, die allmähliche Vernichtung des Raums durch die herunterrückenden Space Invaders, das Außer-Kontrolle-Geratensein von industriellen Komplexen in Ego-Shootern, das Expansionsstreben des Gegners in Echtzeit-Strategiespielen. Und für jeden dieser "Adharma"-Zustände gibt es ein passendes Werkzeug - Schläger, Kanone, Fadenkreuz oder Mauszeiger - mit dem man für "Dharma" sorgen kann.

So auch in Tomb Raider, wo die Kamerasimulation und die Filmkulissenumgebung, in denen die Schlüssel für einen endlosen, Zeit und Raum durchspannenden Korridor verstreut liegen und von ebenso verstreuten tierischen wie menschlichen Gegnern bewacht werden, nahe legen, dass man eine Filmfigur als Werkzeug benutzt, die zudem noch durch ihren Lauf die Ordnung des Korridors herstellen kann. Der Raum von Tomb Raider ist eine lineare Abfolge von prächtig ausgestalteten Bildern, die sich zu Bewegung formen, ein Film also, und diese Abfolge ist in Unordnung geraten, weil die Anschlüsse gekappt wurden. Weil der erste so in Unordnung geratene Film in abenteuerlichen, archäologischen Stätten spielte, benötigte man eine entsprechende Figur aus dem Fundus, und so setzten die Designer einen athletischen Archäologen mit Hut und Peitsche als Avatar ein, Indiana Jones eben aus den gleichnamigen Filmen von Steven Spielberg und George Lucas. Nur aufgrund von drohenden Lizenzklagen änderte man das Geschlecht und kam zu Lara Croft.

Das Geschlecht, die Ballonbrüstigkeit, die Schmolllippen, das aufreizende Ächzen, wenn sie gegen die Wand stieß, die Kindchenschema-Augen - all das ist also ein nebensächlicher Faktor, es ist für den Eingriff in das Spielgeschehen genauso wichtig wie die Farbe des Schraubenziehergriffs, mit dem man seinen Schrank zusammenbaut. Man musste vielleicht so stereotyp auftragen, damit überhaupt wahrgenommen werden konnte, dass es sich um eine Frau handelt, weil es sonst während des Spielgeschehens völlig untergegangen wäre.

Aber es ist eben nur für das Spiel unerheblich. Denn um zu den Definitionen von Avataren zurückzukommen, Lara Croft dient nicht nur als Werkzeug für Spieler, um in die Filmkulissen des Spiels eingreifen zu können. Sie musste auch noch in einer anderen fiktionalen und absurden Welt reüssieren: der von Hochglanzzeitschriften und Fernsehmagazinen. Und da wurde sie zu einem Avatar im landläufigen Verständnis, zu einer Verkörperung bestimmter Aspekte des eigenen Selbst. Wo Computerspiele vorher völlig ignoriert wurden oder bestenfalls in Nebensätzen zur Psyche von Straftätern Erwähnung fanden, hatten besagte Medien nun plötzlich Berührungspunkte mit der seltsamen Welt der piepsigen und quietschbunten Bildschirm-Joystick-Installationen. Lara Croft war genau so, wie Zeitschriftenmacher und Fernsehredakteure Frauen immer schon produziert hatten, also konnten sie sie wahrnehmen. Während sie im Spiel nur läuft und schießt, konnte sie sich dort nun im Bikini am Strand räkeln, über Motorrädern wie hingegossen liegen, aus der Dusche mit gefährlich lockerem Handtuch steigen oder im hautengen Abendkleid zum Tanz locken.

Und hier wurde Lara dann doch zu jener Frau aus Calvinos Text, zu jenem Traum der Redakteure, die sie alle irgendwo abgebildet sahen, manchmal sogar laufend in den ihnen unbekannten Architekturen eines Computerspiels. Dann machten sie sich auf die Suche nach Lara in diesem Spiel, aber sie fanden sie nicht, weil sie als Avatar ja nicht ist, doch sie wussten voneinander und den Regeln der Seite-Eins-Mädchen mit den dämlichen Texten und den nach vorne gebeugten, tief dekolletierten Titelseitenmodels; und sie beschlossen, Computerspiele wie in ihrem Traum wahrzunehmen und zu beschreiben, sie nach ihren Vorstellungen nachzubauen. Und die Welt, die so in Unordnung geraten war, weil da Jugendliche eine neue und deshalb unheimliche Kommunikationsform gefunden hatten, war wieder in Ordnung gebracht, jetzt waren Männer wieder Männer und saßen an den (Steuer-)hebeln und Frauen waren wieder Frauen, nämlich Brust, Bauch, Becken, Babyface und einfach durch die Gegend zu schicken. Aufgelösten Identitäten kann man eben keine Zeitschriften verkaufen, das geht nur mit diskursiv voll integrierten Mitläufern.

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