Sand aus der Karibik

2001 Zehn Jahre nach ihrem Absturz taucht die „New­ ­Economy“ als erfolgreiche Gegenwart wieder auf. Sie hatte einst das Internet ebenso im Gepäck wie eine neue Arbeitskultur

Als vor Wochen der schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 in New York und Washington gedacht wurde, gab es als historische Einordnung oft den Hinweis – mit diesem Datum habe das 21. Jahrhundert erst angefangen. Nicht nur um diesen rundherum negativ besetzten Geschehnissen etwas entgegenzusetzen, sollte an eine kurze, aber spektakuläre Ära erinnert werden, die vor zehn Jahren im Herbst 2001 zu Ende ging. Sie hatte den Beginn des neuen Jahrtausends etwas früher und weitaus zukunftsfroher eingeläutet.

Das 21. Jahrhundert begann zumindest aus technologischer und wirtschaftlicher Sicht mit dem Aufstieg der damals so genannten New Economy. Die „neue“ Internet-Wirtschaft kam in den späten neunziger Jahren von den USA nach Europa und wurde von 1998 bis 2000 nicht nur zum Thema für Wirtschafts-magazine. Start-up-Firmen sprossen plötzlich nicht nur in San Francisco, New York, Seattle und London aus dem Boden, sondern auch in Frankfurt, Hamburg und Berlin. Junge, gut gelaunte Unternehmer – „Gründer“ genannt – und Mitarbeiter werkelten in Hinterhof-Lofts an der Zukunft der Informationsgesellschaft oder zumindest der Informationswirtschaft (E-Commerce) herum und feierten – ausgestattet mit reichlich „Venture Capital“ – rauschende Partys. Die deutsche Wirtschaft des Mittelstandes und der Konzerne, obwohl als Old Economy abgestempelt, freute sich, die Banken freuten sich. Und die Medien taten es auch.

In Billionenhöhe

Endlich konnten „Geschichten“ von Erfolg, Dynamik und Gemeinschaft erzählt werden, obwohl ersterer bei den meisten Start-ups weitgehend ausblieb. Nach dem Höhepunkt der Internetblase im März 2000, der mit dem Börsengang der Siemens-Tochter Infineon erreicht wurde, ging es ebenso rasant bergab wie zuvor bergan. Der NEMAX – Aktienindex der 1997 gegründeten High-Tech-Börse Neuer Markt – stand am 3. März 2000 bei 9.603 Punkten und fiel bis Juli 2001 auf einen Wert unter 1.200. Viele deutsche New-Economy-Firmen stürzten ab, einige ihrer Gründer landeten vor Gericht, die meisten Wertpapiere wurden zu so genannten Penny-Stocks. Aktienkapital ging in Billionenhöhe verloren, ebenso das Vertrauen in diese Anlageform. Von den großen New-Economy-Unternehmen, meist in den USA entstanden, blieben uns wenigstens einige erhalten: Yahoo, Amazon, Ebay und AOL gibt es noch. Google, 1998 gegründet, gilt heute neben Apple als begehrteste Marke weltweit. Die Nachfolgegeneration der New Economy um Facebook, Twitter und Skype, inzwischen unter dem Label Web 2.0 vereint, ist sehr erfolgreich.

Warum sollten wir uns an die New Economy erinnern, die für enorme Verluste gesorgt hat und vielen als smarte Variante des Neoliberalismus gilt? Der Nachruf an dieser Stelle ist vorrangig dem Umstand geschuldet, dass über die „neue Wirtschaft“ mitunter wie über das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre oder die Weltwirtschaftskrise nach 1929 gesprochen wird. Sie gilt als etwas Abgeschlossenes, als aufregende Jugendsünde, die nicht noch einmal vorkommen soll. Dabei gibt es einige sehr gute Gründe, jene Zeit zu rekapitulieren. Das Web 2.0, um dessen Wurzeln man wissen sollte, ist nur einer davon.

Mit der New Economy wurde die Zukunft der Arbeit nicht nur besprochen, sondern in sehr kurzer Zeit ausprobiert. Eine historisch außergewöhnliche, wenn auch nicht einzigartige Situation – mit viel Geld, vielen motivierten Mitarbeitern, einem sehr wohlwollenden medialen, ökonomischen wie politischen Umfeld – ließ besondere Unternehmen entstehen. Die hatten immerhin die „größte Erfindung der Menschheitsgeschichte“ im Gepäck, wie es in typischer New-Economy-Übertreibung hieß: das Internet. Das weltweite Datennetz war 1994 mit dem ersten Browser (dem Netscape Navigator) der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und mit den ersten ISDN-Leitungen in der Lage, digitalisierte Bilder und große Datenmengen ohne stundenlange Wartezeiten zu verbreiten. Dabei arbeiteten junge, engagierte Singles in relativ ähnlichen Firmen mit sehr ähnlichen Gründern und ähnlichen Namen. Alando, das erste bekannte deutsche Start-up – es wurde schon im April 1999 nach nur zwei Monaten vom US-Vorbild Ebay übernommen –, hatte ebenso wie Intershop, Webmiles, Letsbuyit, Snacker oder Datango Beschäftigte, die es sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten konnten, anders zu arbeiten und zu leben. Die Grenze zwischen Arbeit und Leben löste sich in einer Weise auf, wie es sonst nur bei Künstlern üblich war. In den Start-ups war kaum zu erkennen, ob gerade gearbeitet oder etwas anderes getan wurde. Der walk’n talk wurde zur Hauptbeschäftigung – Besprechung im Flur, am Kicker, in der Kneipe, Zuhause oder im Klub. Immer wurde kommuniziert. Diese Kultur, dieses Austesten der Grenzen, die Frage danach, wie flexibel wir arbeiten können und wollen, ist uns auch zehn Jahre nach dem Niedergang der New Economy geblieben. Für diese zentrale Frage war deren Konjunktur tatsächlich eine Revolution, als die sie im wirtschaftlichen Sinne nicht wirklich gelten kann.

Getrübte Stimmung

Wie wird in einem Start-up der New-Economy-Ära heute gearbeitet? Inwieweit ist etwas von dem oft beschworenen „Geist“, der exklusiven Gemeinschaft und Dynamik geblieben – oder hat sich das alles verflüchtigt? Die Berliner ebuero AG, Anbieter eines Telefon- und Büroservices, wurde im Herbst 2000 gegründet, als die Stimmung in der deutschen Start-up-Szene schon getrübt war. So gelang es den Gründern um Vorstand Holger Johnson nicht mehr, an Risikokapital zu kommen. Alles, was mit dem Internet zu tun hatte oder dessen Namen mit einem „e“ anfing, wurde plötzlich von den gleichen Banken mit einem Bann belegt, die kein halbes Jahr zuvor noch alles abgefeiert hatten, was mit dem World Wide Web (www) in Verbindung gebracht werden konnte. Für ebuero sollte sich diese Blockade als Segen herausstellen. Von Anfang an musste in den Räumen einer ehemaligen Fabriketage in Berlin-Schöneberg Geld verdient werden. Die Geschäftsidee für ebuero war Holger Johnson schon 1996 gekommen: Firmen, vorzugsweise kleineren, sollte es ermöglicht werden, ihren telefonischen Empfangsservice auszulagern. Diese Idee wird bis heute im Prinzip unverändert fortgeführt. Schon für 50 Euro werden eingehende Anrufe an Unternehmen oder Privatpersonen nach Absprache weitergeleitet, ob in die heimische Wohnung, den Urlaub oder in den Park. So wurde ebuero in den vergangenen elf Jahren zu einem erfolgreichen Mittelständler mit Tausenden von Kunden, 350 Mitarbeitern und einem Umsatz von mehreren Millionen Euro.

Also ein ganz normaler Betrieb? Holger Johnson bekennt sich gern zur New-Economy-Zeit. Der „verrückte“ Start-up-Einfall, anstatt eines Fußbodens 16 Tonnen Karibiksand in die Etage zu schütten, sei aber auf pragmatische Erwägungen zurück gegangen. „Es war einfach billiger, als normalen Bodenbelag verlegen zu lassen.“ Vom „Spirit“ der New Economy ist dem Kernteam noch einiges geblieben, doch muss nun auch ebuero Tarifverträge beachten und einen Betriebsrat respektieren. Vorstand Johnson ist mit seinen 35 Jahren deutlich älter als viele Mitarbeiter, wird aber immer noch geduzt. Er hat wie viele andere Gründer erfahren müssen, dass feste Strukturen und Zuordnungen nicht per se böse sind, sondern ab einer gewissen Unternehmensgröße unverzichtbar. Insofern ist ebuero wie viele andere erfolgreiche Start-ups ein ganz konventionelles Unternehmen geworden, mit einer Vergangenheit allerdings, an die sich alle verbliebenen Mitarbeiter gern erinnern.

Eine Geschäftsidee, die im Kern die Trennung von Arbeit und Freizeit abschaffen möchte, deutet daraufhin – die Flexibilisierung der Arbeitswelt, ein maßgebliches Projekt der New Economy, hat nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft.

Mathias Stuhr ist Soziologe und schreibt erstmals für den Freitag

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