Wie viel Herz zeigt Mister McClean?

Alltag Die Bahn und ihre Mission

Die zerlumpt aussehende Dame nippt an ihrem Becher und lächelt dankbar. In den halb gekachelten sauberen Räumen im nördlichen Teil des Bahnhofs wird wieder Mildtätigkeit gezeigt, Zivildienstleistende wuseln herum und gleich beginnt die Essensausgabe für die Obdachlosen und Junkies. So oder so ähnlich stellt man sich heute die Realität der Institution Bahnhofsmission vor. Wenigstens hier scheint "Menschlichkeit am Zug", wie es die Mission in drolligem Marketing-Deutsch formuliert. Doch die karitative Einrichtung mit dem gelben Logo und dem roten Kreuz, die sich sonst um die Probleme der anderen kümmert, hat nun selbst ein Problem. Ihr Gastgeber, die Deutsche Bahn, hat angekündigt, die Essensausgaben der Bahnhofsmissionen auslagern zu wollen. Seither sind die Diskussionen nicht verebbt, der 1994 privatisierte Konzern steht als hartherzig da, soziale Institutionen und die Medien laufen Sturm.

108 Jahre dauert die Symbiose zwischen Bahn und Bahnhofsmission nun schon, und sie begann just dort, wo es nun zum Streit um die Zukunft der Essensausgabe kommt: in Berlin. 1894 wurde hier von christlichen Damen die erste deutsche Bahnhofsmission gegründet. "IN VIA, Katholische Mädchensozialarbeit für das Erzbistum Berlin e.V." hieß der Träger, und sie verfolgte unverkennbar das Ziel, die in der Reichshauptstadt ankommenden jungen Mädchen vor "Kupplern" zu bewahren, Zuhältern und Menschenhändlern jener Zeit, die die hoffnungsfrohen Damen mit Versprechungen oft direkt in die Prostitution lockten.

Von der hehren Aufgabe des Mädchenrettens musste sich die damals noch rein katholische Einrichtung schon bald verabschieden. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen verstärkt Kriegsflüchtlinge, zurückkehrende Soldaten, amnestierte Strafgefangene und Auswanderer nach Übersee in ihre Räume. So wurde die Bahnhofsmission zu dem, was sie heute immer noch ist, Anlaufstelle orientierungsloser und sozial schwacher Menschen, die in der Unübersichtlichkeit der Großstadt nicht mehr weiter wissen. 1933 von den Nazis zwischenzeitlich verboten, war die Bahnhofsmission nach dem zweiten Weltkrieg wieder Treffpunkt flüchtender und nach den Kriegswirren umherirrender Menschen. In den fünfziger und sechziger Jahren kam die Hilfe für die sogenannten Interzonen-Reisenden dazu. DDR-Rentner, die ab 1964 für vier Wochen den Westen Deutschlands und Berlins bereisen durften, fanden in der Bahnhofsmission ebenso Hilfe wie die "Gastarbeiter" aus Italien oder der Türkei, die sich in Westdeutschland zurechtfinden mussten.

Seit den sechziger Jahren wurde die Bahnhofsmission immer mehr zum Anlaufpunkt von Aussiedlern und Asylsuchenden, verstärkt aus Ost- und Südosteuropa, aber auch aus Afrika und Asien. Als in den siebziger Jahren die Öl- und Weltwirtschaftskrise den bundesdeutschen Traum von der Vollbeschäftigung beendete, kamen verstärkt auch Drogen- vor allem der Heroinabhängige hinzu.

"Service, Sicherheit und Sauberkeit" heißen heute die Zauberwörter für die Zukunft des Unternehmens Bahn. In den letzten sieben Jahren wurden 3,4 Milliarden Mark in die Renovierung und den Umbau der immer als verdreckt kritisierten Bahnhöfe investiert.

Die Bahnhofsmissionen, zwar meist wie am Bahnhof Zoo im Abseits der Hauptreiseströme untergebracht, mussten so zwangsläufig in ein Dilemma geraten. Bis zur Shopping und Service-Offensive der Bahn Mitte der neunziger Jahre war die Abmachung klar: Die Bahn stellte die Räumlichkeiten, Strom und Wasser zur Verfügung und die Bahnhofsmission ihre sozialen Dienstleistungen. Nun ist die Bahnhofsmission ungewollt zum Teil des "Erlebniszentrums" Bahnhof geworden.

In einer Pressemitteilung hatte die Bahn im Oktober 2001 bekannt gegeben, dass sie die in ihren Bahnhöfen untergebrachten Bahnhofsmissionen nicht mehr in der aktuellen Form unterstützen möchte. Ein klassischer Fall schlechter PR-Arbeit, die Empörung war groß. Ungewollt drohte Hartmut Mehdorn zum unsozialen Saubermann zu werden, zum "Mister McClean", wie die neuen Bahnhofstoiletten heißen.

Übernachten kann man heute nur noch in Ausnahmefällen in den Bahnhofsmissionen, sie vermitteln allenfalls andere Schlafgelegenheiten und schon heute werden nur noch in den Großstadtmissionen Berlin, Frankfurt am Main und München Essen ausgegeben, kein warmes, sondern nur Brötchen und Säfte. Doch selbst der Armen-Imbiss scheint zu viel, zur Zeit werden konkrete Vorbereitungen getroffen, die Essensausgabe vom Berliner Bahnhof Zoo unter die abseits gelegenen Bögen der S-Bahn-Station Tiergarten zu verlegen. Noch wird - mit harten Bandagen - über den Umzug verhandelt und ob die Bahn sich mit ihrem Anliegen durchsetzen wird, hängt nicht zuletzt vom Gegen-Druck ab, den Initiativen und die Öffentlichkeit auf die saubere Bahn ausüben.

Obwohl die Zukunft der Institution Bahnhofsmission als solcher nicht gefährdet erscheint - auch der neue Berliner Megabahnhof Lehrter Stadtbahnhof wird eine beherbergen - bleibt die Frage bestehen, ob man eine alte soziale Institution - frei nach Mister McClean - einfach trocken legen kann.

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