Ein Mann hat Torschlusspanik

Rente mit 70 Ein Luftballon aus dem Berliner Rathaus

Kürzlich wurde Klaus Wowereit bei etwas ertappt, was man jedem anderen mit einem Achselzucken hätte durchgehen lassen. Denn was einer im stillen Kämmerlein macht, ist seine Sache. Sein Tun lag indes so weit neben dem, was die Öffentlichkeit von Wowereit gewohnt ist, dass es Schlagzeilen verursachte. Sie lauteten: "Wowereit denkt nach".

Ein kontemplativ versunkener Wowereit! Man kennt ihn dreist, polternd, aufgekratzt, witzig, anzüglich, staatsmännisch, angeheitert, verstockt, beleidigt, kumpelhaft. Nachdenklich kennt man ihn nicht. Er selbst muss von seiner neuen Eigenschaft berührt gewesen sein, denn er ließ flugs über Agenturen von ihr künden.

Die Nachricht legte als Lotsenboot in den Redaktionen an, ein tiefgängiges "vorab verbreitetes Redemanuskript" im Schlepptau. Die Rede sollte vor dem Stadtforum gehalten werden, von dem keiner sagen kann, was es ist - der Rotarierklub, der Rat der Volkskommissare oder eine Arena für wechselnde Events. Jedenfalls wurde nunmehr der Gegenstand Wowereitscher Nachdenklichkeit endlich sichtbar, und die Blätter titelten: "Wowereit denkt über die Rente mit 70 nach".

Die Rente mit 70 gab es bisher nur als bitteren Witz. Wowereit hat daraus ein spitzbübisches "Warum eigentlich nicht?" gemacht. Ein typischer Wowereit: Aus der Hüfte geschossen, unverbindlich, krawallig, ironisch (also nicht so ernst gemeint) und irgendwie hip, Luftbewegung, heiße Luft. Image, nicht Politik.

Und so klingt´s im Scheindebatten-Sound. Erste Stufe - hineinärscheln in einen "Diskurs": "Wir streiten derzeit über die Rente mit 67". Gar nicht wahr! Die Rente mit 67 ist sicher, will sagen: Gesetz, so unstrittig wie die StVO. Sie wird nur viel mehr Tote fordern. Zweite Stufe - es dräut die Katastrophe: "Immer deutlicher wird, dass wir uns mit der Methode Frühverrentung weder wirtschafts- noch arbeitsmarktpolitisch einen Gefallen tun." (Methodische Flucht in die Frührente - Staatsdoktrin oder Massenwahn?). Drittens zuckt ein Geistesblitzchen über Klausens Lausbubengesicht: "Warum denken wir nicht darüber nach, ob vielleicht eine Rente mit 70 dann möglich ist, wenn der Beschäftigte ab 60 zehn Jahre lang halbtags arbeitet?". Im Finale das trümmerfrauen-gerechte, luftbrücken-erprobte Berlin-Feeling: "Eure Kraft wird weiter gebraucht!", ruft "der Regierende" seinem Stadtforum zu.

Ist er nicht keck, der kleiner Klaus? Ein Filou der Nachdenklichkeit. Er denkt nach, warum wir nicht nachdenken! Er zückt ein verschmitztes "Vielleicht" und kitzelt uns mit einem federleichten "Was wäre, wenn": Was wäre, wenn die 60-Jährige von der Supermarktkasse und die Krankenschwester von der Inneren noch zehn Jahre lang bis Mittag durch die Gegend schlurfen und ihr "Erfahrungswissen" zur Verfügung stellten? Ein Gaudi wäre das!

Wenn es nicht auch noch hinterhältig wäre. Jeder kann heute so lange "sein Erfahrungswissen zur Verfügung stellen", wie er will und einen Arbeitsplatz hat - muss aber nicht. Die Rente mit 67 aber ist ein lebenszeitlich verlängerter Arbeits- und Erwerbszwang. Da hängt sich Wowereit dran, da will er das Gewinde fester ziehen, da wird selbst der Dampfplauderer prinzipiell: "Deshalb plädiere ich eindringlich für flexiblere Regelungen beim Renteneintritt."

Der Mann hat Torschlusspanik. Vor reichlich einem Jahr (Focus-Interview im August 2006) erstrahlte er noch als "Wowi", der metrosexuelle juvenile Sonnenprinz, und war eindeutig zu Höherem berufen. Die Bundespolitik schien förmlich nach ihm zu gieren, und Wowereit scharrte mit dem Füßen: "In Zukunft möchte ich mich bundespolitisch deutlicher artikulieren und mehr mitreden. Nach der Wahl (in Berlin vom 17. September 2006 - die Red.) werde ich sicher auch mehr Kapazitäten für die Bundespolitik haben." Seinen Berliner Fraktionschef ließ er ausrichten: "Der kommt für jeden Rolle in Frage". Nur nicht Papst. Damals war Wowereit "deutschlandweit" so bekannt, wie Dieter Bohlen - aber viel beliebter. Die Bekanntheitsquote hat er noch, doch es hat sich ausgewowiet. Als sein letzter Coup - die Finanzierung Berlins dem Bund anzuhängen und so ein für alle mal seinen Schreibtisch frei zu kriegen - gescheitert war, verfiel er in ein langes, divenhaftes Schmollen. Wie ein Kind, das im Rinnstein sitzt und zittert: Das hat meine Mutter nun davon, dass ich friere - warum zieht sie mir keine Handschuhe an! Jetzt wird er wieder öfter in der Oper gesichtet, wo er als amtlicher Schöngeist der Metropole hingehört. Der langjährige Sänger Klaus Hoffmann hat ihm ein Lied geschenkt, es war rührend. Und dann ist ja auch noch die "Herausforderung" Tempelhof! "Was macht Klaus Wowereit heute?", fragt sich Bild täglich bang. Oh, lauter todschicke Sachen! Doch manchmal (selten) steht da geschrieben: Der Regierende hat heute keinen politischen Termin. Dann, ist zu fürchten, denkt er nach.


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