Ein Märchen vom Fall der Mauer

9. NOVEMBER 1999 Einheit nach zehn Jahren Annäherung

In dieser Woche fällt die Mauer. Es ist noch nicht ganz sicher, ob am Donnerstag oder am Freitag, ob unter Intonierung beider Hymnen oder nur einer oder ganz ohne. Aber das ist nicht spannend. Der Mauerfall hängt nicht mehr davon ab, ob sich jemand in der DDR-Regierung kopf- oder ruchlos auf einer Pressekonferenz verplaudert. Der Termin steht fest. Vor genau zehn Jahren hat die erste freigewählte DDR-Regierung sie beschlossen - in einem Anfall von Mut, gewissermaßen in einem Atemzug mit der Aufhebung des alten Grenzregimes, das fast vierzig Jahre lang den DDR-Bürgern das Grundrecht der Freizügigkeit verwehrt hatte.

Millionen Leute sind in den letzten Jahren zwischen den beiden Deutschlands hin- und hergefahren. Es wird keinen Massenauflauf geben, wenn Ende der Woche die Mauer "fällt". Vielleicht fällt sie auch gar nicht, sondern man lässt sie stehen, zur Erinnerung und weil sie inzwischen so schön mit Efeu überwachsen ist (die Straßen und Brücken sind ja längst offen). Niemand wird sich um Bananen balgen und der Verkehr in Westberlin wird nicht zusammenbrechen. Natürlich wird man die Ostberliner "drüben" auch nicht euphorisch mit Sekt und Streuselkuchen begrüßen. Man kennt sich seit langem, viele pendeln - vor allem Spezialisten sind auf der jeweils anderen Seite willkommen.

Natürlich lag es im November vor zehn Jahren nahe, mit dem alten Grenzregime zugleich die deutsche Zweistaatlichkeit aufzugeben. Im Osten wollten das viele und im Westen war es grundgesetzliches Gebot. Aber weil zwei demokratisch gewählte Regierungen da waren, musste sich nicht die eine, die des kleineren, des schwächeren, des instabileren Landes, von den Ereignissen bedroht fühlen. Und Helmut Kohl hatte - wie von ihm zu erwarten war - ein untrügliches Gespür für den angemessenen Lauf der Geschichte. Dem Chef der deutschen Industrie, den Herren von der Deutschen Bank und in den Unternehmerverbänden sagte er: Die DDR könnt ihr auch noch später verfrühstücken, jetzt muss sie erstmal wieder fett werden. (Damals gab es das noch nicht, dass die Politik der Bundesregierung in den Konzernzentralen gemacht wurde.)

Es gab freilich im Westen ein ziemliches Geschrei: Die Stimme des Blutes! Die gemeinsamen deutschen Wurzeln! Der Teuteburger Wald! Das dränge doch zusammen, wie der Bock auf die Ziege!

Ja, ja, sagte der weise Bundeskanzler. Ihr werdet euch schon noch besteigen können; vielleicht lassen Gleichberechtigung, Chancengleichheit, freie Entscheidungen auf beiden Seiten besser zusammenwachsen, was zusammengehört, als wir es uns in unseren Sonntagsreden am 17. Juni jemals träumen ließen.

So ähnlich sagte er das auch den Ossis, als die ihn in Dresden, im Dezember 1989, zum Kaiser aller Deutschen krönen wollten und ihren Herrn Modrow nicht mal mehr mit dem Hintern angucken mochten. Vor allem hat er sich gehütet, ihnen blühende Landschaften unter die Sohlen und gebratene Tauben in die Mäuler zu zaubern. Dem Kohl haben beide deutsche Staaten einiges zu verdanken.

Weil beide Seiten wussten, dass sie irgendwann einmal heiraten wollten, hat sich jede natürlich ungeheure Mühe gegeben, der anderen gegenüber liebreizend und verlässlich zu erscheinen. Sie waren sich klar darüber, dass man eine Verlobung nicht länger als zehn Jahre hinziehen kann.

Damit die Ostler in ihrem Land in Ruhe wirtschaften konnten, hat die Bundesregierung einen Entschädigungsfond für diejenigen ihrer Bürger aufgelegt, die in SBZ und DDR zu Unrecht enteignet wurden. Die Produktivität war in der DDR noch niedrig, die Löhne und die Preise auch. So konnten sich die ostdeutschen Betriebe ihre Handelspartner in den ehemaligen sozialistischen Ländern erhalten. Außerdem gab es viele große Investitionen aus dem Westen. Ein bilateral vereinbartes Niedriglohngebiet - das war doch ein Fressen für die BRD-Unternehmen. Die Arbeitslosigkeit blieb niedrig, deshalb hielt es auch die meisten der einstmals sozialistischen Werktätigen in der DDR, nachdem sie sich die Chose bei den Brüdern und Schwestern in Ruhe angesehen hatten. Die öffentlichen Kassen im Osten mussten nicht viele Milliarden Mark in die Sozialfürsorge und die Arbeitsförderung stecken, sondern man konnte Zuwendungen für Projekte geben, die Produktivität ankurbelten. Einige eklige Kostenpunkte, die NVA, die Stasi, die Grenztruppen, die teure Propaganda mit Paraden und Pfingsttreffen der FDJ, waren verschwunden. (Als einmal Oderflut war, half die Bundeswehr). Nur der Zoll wurde noch gebraucht, weil viele Westler gern in den Osten zum billigen Einkauf fuhren, erst recht, seit sich ostdeutsche Produkte langsam, ganz langsam mit westlicher Qualität messen konnten.

Der Einkaufstourismus hatte natürlich auch eine gute Seite: Kohl ließ ostdeutsche Autobahnen bauen. Überhaupt galt als Faustregel: Für den Osten ist uns nichts zu schade, was wir dann, nach der Hochzeit, auch noch gemeinsam nutzen können.

Die Ossis hatten viel mit sich zu tun. Es galt abzurechnen, aufzuarbeiten. Sie richteten dafür unter anderem eine Behörde ein, die sie dem Pfarrer Gauck unterstellten. Es ging manchmal haarig zu, es gab Grobheiten und Verletzungen. Diejenigen, die sich schuldig gemacht hatten, mussten sich vor den Leuten erklären, denen gegenüber sie sich schuldig gemacht hatten. Die Ostler hatten nicht das Gefühl, sich den Westlern und einem vom Westen definierten Tugendkanon zuliebe streiten zu müssen.

Für die Zukunft der Deutschen sind ab heute, wo am Donnerstag oder Freitag die Mauer fällt, alle Deutschen zugelassen. Heute können die Ostdeutschen den Westdeutschen sagen: Wir haben unsere Angelegenheiten geklärt - ihr eure hoffentlich auch. Leichen im Keller werden in die Staatsehe nicht mit eingebracht.

Nicht wenig stolz sind die Ostler, was sie mit einer freien Presse, Kultur, Literatur und ihrem Fernsehsender erreicht haben. Die Herren Reiter und Rosenbauer, die gerne geholfen hätten, waren nicht nötig und mussten beim Bayerischen Rundfunk und beim WDR endversorgt werden. Denn die DDR hatte auf allen Gebieten gut ausgebildetete Leute, die das Lebensnotwendige - und da gehört natürlich das Fernsehen dazu - selber organisieren konnten. Manchmal schossen sie mit ihrem Selbstbewusstsein auch übers Ziel hinaus, und man nannte sie im Westen dann "die Besser-Ossis".

Für die Angleichung der Rechtssysteme nahmen sich die Ostdeutschen und Westdeutschen auch zehn Jahre Zeit. Sie waren sich klar darüber: In keinem Land hebt es die Stimmung, wenn die Richter eines fremden Landes über die eingeborenen Straftäter zu Gericht sitzen oder über Nachbarschaftstreit aus einem fremden Gesetzbuch entschieden wird. Heute, wenn Donnerstag oder Freitag die Mauer fällt, sind die Westler auch nicht wenig zufrieden mit ihrer Geduld: Ihre Zivilgesetze sind viel einfacher geworden und lassen sich sogar verstehen.

Wenn am Donnerstag oder am Freitag beiläufig die Mauer "fällt", werden die Westdeutschen die Ostdeutschen nicht komischer, fauler, verstockter finden, als sie eben sind. Vor allem werden sie nicht fürchten müssen, dass ihnen was weggenommen wird, sich nicht davor gruseln, aus ihren Lebensbahnen gedrängelt zu werden und niemand wird ihnen erklären, dass man das Messer in der rechten und die Gabel in der linken Pfote hält. Und sie werden nicht hoffen dürfen, dass ihnen nun irgendwas geschenkt wird. Die beiden, der Ostler und der Westler, werden wissen, was sie voneinander zu halten haben. Sie haben sich ein Jahrzehnt lang aufeinander zugerappelt.

Das ist nur ein Märchen. Märchen ist immer Idylle. Aber auch im Märchen gibt es manchmal Rachsucht, Vergeltung, Erniedrigungen, Neid ... Im Märchen werden sogar Großmütter gefressen. In diesem aber nicht. Doch nicht nur deshalb stimmt es hinten und vorne nicht, nicht im Ganzen und nicht im Detail.

Aber wenn man die Augen zumacht, kann man sich für ein paar Minuten vorstellen, dass es genau so gewesen sein könnte. Dann muss man die Augen aber ganz rasch wieder aufmachen. Es nützt ja nichts ...

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