Eine Frage der Ehre

NEUE LANDESPARLAMENTE In einer Gesellschaft, die keine wirklichen Alternativen mehr produziert, ist das Wort »Wahl« leer geworden

Die Trabbifahrer von einst laufen über, wenn sie an ihrem neuen Opel einen Mangel entdecken: »Das ist ja wie früher!«, heißt der ostdeutsche Stoßseufzer, der das Neue im Namen des Alten verflucht - und umgekehrt. Dass alle »Transformationen«, Gehirnwäschen, Repressionen, Disziplinierungen in der Demokratie der Westdeutschen bisher im Osten zu nichts anderem geführt haben sollen, als zu Zuständen, die denen »von früher« verdammt ähnlich sind, ist andererseits aber auch eine fröhliche, stabilisierende Lebenserfahrung der in den Zeitläuften arg gebeutelten Ostler. Offensichtlich hängen sie einem idea lischen Bild von Demokratie an. Nach den Wahlfarcen, die sie in ihren Leben hinter sich gebracht haben, soll nun die perfekte demokratische Idylle herrschen. Gerade Wahlen sind für sie heitere Zeiten: Sie erkennen (vermeintlich) alles wieder: Die Parolen, die »früher« Losungen hießen, die Bestückung der Wahllokale mit kleinen Leuten (oft dieselben wie »früher«), die sich Vorteile von ihrer politischen Verfügbarkeit erhoffen, den rotzfrechen Karrierismus der Kandidaten (nicht selten auch die von »früher«), die Abstrafung für falsches Wahlverhalten (man erinnere sich an die politischen Versuche aus Bayern und Baden-Württemberg, die Ostdeutschen für unbotmässige Wahlgänge ökonomisch zu kujonieren). Nur die »Wahlschlepper« und den morgendlichen Wahlgang im Kollektiv der Hausgemeinschaft gibt es nicht mehr. Den Nelkenstrauß für den ersten Wähler des Tages auch nicht.

Das immerhin war »früher« schöner: Nicht wählen gehen, hatte Folgen. Mit der Ankündigung, nicht wählen zu gehen, konnte man intensive gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Einmal konnte man den Spieß umdrehen - einmal den Staat erpressen und nicht der Staat den Bürger. Da war Feiertag. Man konnte für Wahlverweigerung eine größere Wohnung bekommen. Oder es wurde wenigstens das Dach geflickt. Nichtwählen hatte Folgen, Wählen keine.

Heute hat nicht wählen leider keinerlei Folgen. Im Gegenteil: Zu der katastrophal niedrigen Wahlbeteiligung bei den Europawahlen drückte die politische Kaste zwar pflichtgemäß ihr Bedauern aus. Aber bietet ihr ein Volk, das mehrheitlich nicht (mehr) wählt, nicht eigentlich komfortable Verhältnisse? Viele Menschen erheben ihre Stimmen nur noch in Meinungsumfragen, wo sie zu Prozentpunkten zusammenschrumpfen, und bewegt werden sie nur noch durch die Boulevardpresse. Ein homogener Gesellschaftszustand, den nur sehr entwickelte Diktaturen je erreicht haben ...

Nein, Nichtwählen hat keine Folgen. Aber Wählen auch nicht. Sogar angekündigte Regierungswechsel finden nur scheinbar statt, Sehnsüchte nach einem Politikwechsel werden mit Formeln, wie »nicht alles anders, aber vieles besser« machen zu wollen, gleich der Lächerlichkeit preisgegeben. In einer Gesellschaft, die keine wirklichen Alternativen mehr produziert, ist das Wort »Wahl« leer geworden. Es sei denn, der Begriff steht synonym für Bekenntnis zum gesellschaftlichen Status quo. Eben wie »früher«, als die Alternativ- und Perspektivlosigkeit des Gemeinwesens einen überraschend ehrlichen Ausdruck in der Kandidaten-Einheits-Liste der Nationalen Front der DDR fand.

Auf vielen Kandidatenbeinchen sind lauter Einheitslisten unterwegs. Alle Slogans passen zu allen Köpfen, alle Köpfe zu allen Anzügen (»Kandidatenoutfit«), alle Anzüge zu allen Bäuchen, alle Wähler zu allen Parteien. Jeder kann mit jedem. Und es ist nur Zufall, dass F.D.P und Grüne hier praktisch nicht mehr mitspielen dürfen. Fremdkörper wären sie jedenfalls nicht. In Altenhof, im Kaisersaal vom Kaiserhof - so heißen die Lokalitäten Brandenburger Identität neuerdings - begrüßen etwa 30 Bürgerinnen und Bürger die Einheitsliste Barnim - das ist das Gebiet rund um Bernau und Eberswalde. Das Bier kostet 4,50 DM - und allein das ist ein Grund, sich die DDR zurückzuwünschen. Brav aufgereiht sitzen die Kandidaten im »Präsidium«, eingerahmt vom örtlichen Bürgermeister und vom örtlichen Millionär (Immobilien). Die Kandidaten kennen, mögen und duzen einander. Sie klopfen einander auf die Schultern. Bei ihren gemeinsamen Auftritten ist immer ein anderer dran, die Runde Rotwein zu bestellen. Heute ist es der Kai von der CDU.

Am Rande sitzt ein dünnes Männlein, Ausdauerläufer, arbeitslos, parteilos. Er kandidiert für die Brandenburgischen Freien Wähler. Denn er ist dagegen, dass die Brandenburger den Liter Wasser, den sie durchs Klo spülen, teurer als einen Liter Bier bezahlen müssen. Die Presse nennt seinen Verein gern abschätzig »Kanalpartei«. Er ist der einzige, der Bewegung in die Minen der Altenhofer zaubert. Ansonsten starrt die Bürgerschaft mit eingeschlafenen Gesichtern durch die hohen Fenster des Kaisersaals, hinter denen es langsam Nacht wird, und schweigt ausdauernd. Allen voran der Bürgermeister, der doch eigentlich die Kandidaten mit diversen Problemen konfrontieren könnte. Nur keine Miene verziehen, nur nichts anmerken lassen, nur kein Interesse zeigen, weder Beifall noch Verdruss! Wer sich bewegt, ist Mode. Alles, was man politisch äußert, kann gegen einen verwendet werden. Irgendwo im regionalen Filz von Baugenehmigungen, Ausschanklizenzen, ABM-Gelder-Vergabe, Hygienekontrollen, Fischereirechten, Umweltauflagen - irgendwo im Interessengestrüpp, in dem die kleinen Leute zappeln, bei ihrem Versuch mehr als nur zu überleben, lauert die Falle. Es sind auch jüngere Menschen da. Auch sie bleiben stumm. Alles Geschädigte der längst verflossenen Diktatur? Oder ist das ihr in der Demokratie neu erworbenes Sozialverhalten?

Der CDU-Kandidat beginnt. Ein kleiner Mann mit winziger Stimme, der die Leute nicht anschauen mag und sie nicht ihn. Er ist Westberliner und führt seit zwei Jahren ein schillerndes, von Gerüchten und Skandälchen umwittertes Nachwende-Dasein als hochfahrend-cholerischer Bürgermeister der Nachbargemeinde. Er ist Schlagzeilenträger Nr. 1 dieser Region. Fragt man die Leute, dann ist er so unbeliebt, wie ein Westler hier nur sein kann. Er beklagt »die Eiseskälte« der SPD im Lande, die deshalb so eiseskalt sei, weil sie die Mehrheit hat. Übergangslos reitet er sein persönliches Steckenpferd, eingeleitet von dem Satz: «Ich habe den Herrn X hassen gelernt.« Das tiefe Schweigen im Saal wird noch tiefer. Herr X ist ein Mitbürger und zufällig nicht anwesend - Herr X war der erste Bürgermeister von Altenhof nach der Wende, PDS.

Ist das Demokratie? Dass ein Kandidat seine rhetorisch gefeilte Selbstdarstellung mit Hasstiraden eröffnet? Wenn das Demokratie ist, dann sind die Altenhofer mehrheitlich noch nicht reif für sie. Auf die dringliche Bitte, das Gift, dass er gerade verspritzt hat, wieder einzusammeln, bockt der Kandidat. Aber er ärgert sich über sich, starrt vor sich hin, malmt mit dem Kiefer, knetet die Hände.

Die SPD schickt einen zeitig verkahlten, zappeligen Mann, der effektvoll zu spät kam und nun mit Satzungsparagraphen, Verordnungen nebst Anhängen und Durchführungsbestimmungen und Kommunalschuldenumschuldungskonzeptionen um sich werfen kann. Sein Behördenjargon treibt ihn durch die eigene Rede und quasi aus dem Saal heraus. Aber er ist wenigstens Ostler, Verkehrsingenieur. 1990 wurde er Bürgermeister von Wandlitz und hat sich reichlich als der Mann feiern lassen, der aus dem trostlosen Anhäng sel der Bonzensiedlung eine bürgerliche Gemeinde gemacht hat. Er stellt sich selbst die Frage, die ihm keiner stellt: »Sie werden nun sicherlich fragen, warum der Verwaltungsmensch Politiker werden will.« Die Frage kann sich jeder selbst beantworten. Aus Berlin, Eberswalde, Bernau - von überall kennt man die Beispiele von Leuten, die eben noch mäßiger Bäckermeister, schlampige Kosmetikerin oder genialer Gitarrenlehrer waren und sich plötzlich als Stadtrat oder Beigeordneter für Kultur oder Wirtschaftsförderung einen akzeptablen Rentenanspruch erwerben. Im Osten geht man in die Politik, um seine soziale Existenz zu stabilisieren. Das sagt der Kandidat natürlich nicht. Er sagt: »Ich will gestalten.« Die Menschen blicken auf die Tischplatten und in ihre leeren Gläser. Große Bekenntnisse sind eben manchmal schrecklich banal.

Der PDS-Kandidat gilt als Wirtschaftsexperte bei seinen Genossen und steht unter Druck, sich das auch zu beweisen. Denn er war »früher« Philosoph, etwas, was es heute gar nicht mehr gibt. Er wirkt jugendlich, ein Machertyp. Manchmal will er auch ein bisschen zornig scheinen. Das wirkt komisch, denn das passt nicht zur Partei. Aber sagt er wirklich etwas anderes als seine Konkurrenten? Und wenn ja - merkt das einer hier?

Nur ein Bürger führt das Wort, dem Mundlaut nach ein Schwabe, Leiter einer Bankfiliale in der Kreisstadt. Irgendwie dankbar lassen die anderen es geschehen. Er fragt die Kandidaten der Reihe nach ab, laut und präzise, wie das kein Altenhofer je geübt hat: Was soll aus dem Kinderferienlager werden (der »Pionierrepublik«, dem größten Kinder-Erholungszentrum in der DDR)? Wie wollen die Kandidaten mit den katastrophalen Schulden des Ortes umgehen, die ihm westdeutsche Baulöwen mit ihrem überdimensionierten Klärwerk hinterlassen haben?

Der SPD-Kandidat, der vorhin noch »gestalten« wollte, betont daraufhin, er wolle als Politiker vor allem »moderieren«. Als ob wir nicht genau das schon geahnt hätten. Der Kai von der CDU wünscht sich an die Stelle des Kinderferienlagers - bestes Wassergrundstück - lieber Luxuswohnungsbau. Der örtliche Millionär nickt dazu. Damit ist der Kandidat nun endgültig erledigt. Aber keine Angst - nur für diesen Abend, irgendwie kommt er ja doch ins Parlament.

Die drei gehen zum Rotwein über. Nur die »Kanalpartei« ist nicht geladen, sie nippt am Wasser. Langsam, sehr langsam, als könnte in letzter Sekunde noch eine Revolution ausbrechen, die man nicht verpassen darf, verlassen die Altenhofer den Kaisersaal. Einige werfen noch scheue Blicke auf die Kandidaten, als wollten sie sie doch noch etwas fragen. Manche lächeln schon wieder.

Wenn man zu oft über etwas belehrt wird, nun schon zehn Jahre lang, kommt man sich am Schluss vielleicht nur noch kläglich vor, wie einer, der doch nichts versteht. So ist es mit der Demokratie. Allein in diesem Jahr verbreiteten Agenturen ein halbes Dutzend hochoffizieller politischer Äußerungen des Inhalts, dass die Ostdeutschen Demokratie eben (noch) nicht begreifen, »nicht wirklich leben« oder alte Stalinknechte geblieben sind. Seit Schröders und vor allem Thierses Antritt vergeht fast kein Tag, an dem Ostler nicht Drohungen hören, wie »das ist guter demokratischer Brauch« oder »das ist ein Teil lebendiger Demokratie«, »wie es sich in einer Demokratie gehört«.

Gestern kam nun Post von Manne. Stolpe ist bereits der zweite, der schreibt. Die ersten waren die Nazis. Ein Umschlag in Arbeiterrot, auf dem »Bürgerpost« stand. Die Radiosender warnten vor diesem Postwurf wie vor Auswurf in Joghurtbechern bei ALDI. Was immer »Papa Stolpe« von den Nazis trennt - und das dürfte dies das sein - eins verbindet beide: Sie lügen. Und zwar, dass sich die Balken biegen. Immerhin vergisst Stolpe nicht, den frommen Wunsch ins Brandenburger Land zu rufen, »auch (?) die rechten Rattenfänger dürfen bei uns keine Chance haben«.

Genau besehen, lügt er selbst hier. In seiner Musterdemokratie haben die Nazis nicht nur eine Chance - sie gedeihen prächtig. Die völkische Sache liegt längst nicht mehr nur in den Händen einiger Heißsporne, die ab und an - mein Gott, so ist die Welt! - »ein Opfer fordern«. Sie hat sich als gesundes Volksempfinden übers Flachland verbreitet. Der »Verfolgungsdruck« hat lediglich den Druck auf die zuständigen Beamten erhöht, die Statistik zu fälschen. Stolpes Lügen sind nicht grell. Manchmal entlarven sie sich selbst, wie der herrliche, muskelspielende Satz: »Unsere Polizisten bringen die meisten Verbrecher hinter Schloss und Riegel« - den Rest lassen sie eben laufen. Andermal lügt er, in dem er Lösungen vortäuscht, die keine sind: Damit »unsere Kinder« nicht im Rinnstein landen, müssen »Schul-und Ausbildungszeiten ...verkürzt werden«. Wäre es dann nicht besser, man schafft die Schule ganz ab? Und er verschmiert jedes wirkliche Problem mit einer fetten Sozi-Salbe, nennt die soziale Gleichbehandlung von Ostlern und Westlern doch tatsächlich »eine Frage der Ehre«. Geht es auch um schiere Knete, ist das bei der SPD noch lange keine Frage des Geldes.

Komplimente sind natürlich keine Lügen, sondern Dienstleistungen am Wahlbürger. Doch von einem Menschen, der so brachial komplimentiert wie Stolpe, muß man vermuten, dass er seine Landeskinder für dämlich hält. In seinem Wählerbrief stehen sie als pralle deutsche Tugendsäcke vor uns auf. Sie haben »Verantwortungsbewußtsein«, »Fleiß« »Gemeinsinn«, - von allem so reichlich, wie andere Leute Schuppen auf dem Kragen. Sie strotzen vor »Leistungsfähigkeit«, müßten eigentlich ans Bett fixiert werden, weil sie so viel »Schwung« bei der Realisierung Stolpescher Zielvorstellungen entwickeln, und sind Ausbünde an »Geduld«, die Tugend, die jede Regierung schätzt. Nur klug sind sie wahrscheinlich nicht und auch nicht schön. Sonst hätte Stolpe es bestimmt erwähnt.

Mit ihren Primär- und Sekundärtugenden sind »unsere Menschen« prima durch alle Diktaturen gekommen und haben auch die ersten zehn Jahre der Besatzung durch die Wessis »tapfer durchgestanden«, wie's in der Depesche des Kandidaten steht. Dafür viel Dank und Lob. Und dann das Feindbild: »Doch die Opposition macht die Menschen und das Land schlecht. Dort (?) wird gesagt, die Brandenburger kommen nicht aus den Puschen (!!), man muss sie erst auf Trab bringen. Wer so redet, ... redet ihnen übel nach«.

Das ist wohl so ziemlich die gröbste Fahrlässigkeit, die man in- und außerhalb von Wahlkampagnen begehen könnte. »Die Opposition« wird sich hüten! Sie ist den Wählern genauso in der Fenchelbeet-Furche hinterhergekrochen, wie Stolpe das tut. Nun ist sie mit Recht empört. Stolpe warnt sein Volk vor »Experimenten mit ungewissem Ausgang«. Naja, wie Experimente eben so sind. Die Lügen der anderen, prophezeit er, werden noch schrecklicher sein als seine. Nun hat der Bürger die Wahl. Ist das nicht ein schönes Gefühl?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden