Jetzt seid ihr alle Spreewaldgurken

Vorwärts immer, rückwärts nimmer Die neue Ostalgie ist ein typisch westdeutscher Reflex

Das Feine an den Ostalgie-Shows, die neuerdings so zahlreich wie Koch-, Gerichts- und Ausgesetzte-Hunde-Ermittlungssendungen sind, ist das Geräusch, das moralisierende Klappern, das sie beim Auftreffen in der Gesellschaft erzeugen. Es klingt auf die Nuance genau so, wie damals, als das Fernsehen Menschen in einem Zwinger heimisch werden ließ und wir abwarten sollten, bis sie ihren Trieben freien Lauf lassen würden. Damals lautete die Frage, wie sie heute lautet: Darf man das? Und damals wie heute ist die Antwort völlig egal.

So fangen sie alle an: Ein gespielt erschrockenes Innehalten der Moderatoren, bevor es daran geht, mit verbundenen Augen herauszufinden, ob man gerade Nutella oder Nudossi isst. Darf man in die DDR gucken, ohne Täter zu entlarven, Opfer leiden und Mütter nach ihren (angeblich) zwangsadoptierten Säuglingen rufen zu lassen? Natürlich darf man das, weil sich die Zuschauer im Westen von den Gruselstories nicht mehr unterhalten fühlen. Sie haben inzwischen ihre übermenschliche Mission erfüllt, das Gute in die Zone getragen sowie das Böse gründlich vergrämt. Sie wollen nicht mehr hören, dass sie es besser hatten - denn so gut geht es ihnen im Moment auch nicht mehr. Sie haben ein Recht auf Versöhnung. Es ist an der Zeit, das Völkchen putzig zu finden, das da im Osten ungeachtet erheblicher Aufwendungen an Steuermitteln gerade ausstirbt. Leuten, die mit solchen Autos fuhren, kann man doch nicht mehr ernstlich böse sein. Täter? Opfer? Jetzt sind sie alle Spreewaldgurken, und das sollen sie auch bleiben.

Das Westfernsehen ist für den Westen da. Oder glaubt jemand, für die paar Ostdeutschen, und würden die auch hundertprozentig und im Sippenverband vor den Bildröhren hocken, würde sich der Aufwand lohnen? Die Ostler schlagen nicht ins Quotenkontor. Freilich, Schröder hat die Wahlen im Osten gewonnen - aber dazu reichten schon ein paar Stimmen. Nein - die Ostalgie ist ein typisch westdeutscher Reflex, der auf siegreiche Eroberung, Ausplünderung und "Neuordnung" folgt. Sie ist das Mittel gegen das schlechte Gewissen: Was jetzt im Osten noch übrig ist, ist ja wirklich nur noch pittoresk. Good bye, Lenin hat aufbrechen lassen, was da subkutan an Gefühligkeit lauerte. Jetzt wird die Wiedervereinigung vollendet. Jetzt lieben sie den Osten, so, wie er ihnen medial entgegenkommt: als widerständisch gemütlicher Emmerlich, als der Beutel-Sachse Stumpi und die naiv beglückte Carmen Nebel. Alles Sachsen, weil der Osten bekanntlich Sachsen ist.

Und wie auf Stichwort treffen wir die Bürgerrechtler wieder, die versagt haben, als es nicht mehr um Kopf und Kragen ging: Arnold Vaatz, Vera Lengsfeld, Günter Nooke. Die Reflexe funktionieren noch. Sie sind entgeistert. Die Ostalgie der Wessis nimmt ihnen von ihrer legendären Gefährlichkeit. Wenn es so lustig war in der DDR, zwischen der Rhombentapete und in den Wartegemeinschaften, dann sind Bürgerrechtler nur noch komisch. Von der anderen Seite kommt Manfred Stolpe daherspaziert und sagt, die DDR sei kein KZ gewesen. Gewiss, Grausamkeiten gab es viele - Dagmar Frederic, Achim Menzel und "Erna kommt" von Lippi - aber gab es so was nicht im Westen auch?

Grassiert im ehemaligen Reichsbahngebiet die Ostalgie? Wer hat die je gemessen? Die "Ehemaligen" pflegen Trotz und aggressives Schweigen. Man will, dass nicht alles umsonst gewesen ist. Man will sich nicht für Frank Schöbel, für die Küchenmaschine Mulinette aus der Konsumgüterproduktion und für die Aktivistennadel schämen müssen. An diesem Wunsch halten sich SuperIllu und MDR schadlos. Und es gibt Resignation, weil man nie dazugehören durfte zur neuen Gesellschaft der fröhlichen Konsumenten, weil alles zu Ende ging, als es anfangen sollte.

"Doch ein Rückwärts gibt es für uns nicht", wie es im Lied der Spanienkämpfer hieß. Ostalgie-Shows trösten sie nicht - "jetzt kommt der Wessi uns auch noch auf diese Tour!", sagen sie, und mögen auch ein Dutzend alte DDR-Schlagersänger auf den Kulissensofas sitzen. Bei den Jungen aber ist die DDR seit Jahren Pop und Retrochic. Die brauchen keinen bräsigen Emmerlich, im Gegenteil: die ekeln sich. Doch das wird den Pop nicht töten. Wenn doch, kommt etwas anderes auf die T-Shirts.

Ein hübscher, quasi linker Gedanke wäre dieser: Jetzt gibt der Westen - mit seinen propagandistischen Massenmedien - den Ostdeutschen Spiele, weil er ihnen Brot nicht mehr geben kann. Schade nur, dass es im Bundeskanzleramt kein Staatliches Komitee für Rundfunk und Fernsehen gibt, das sich solches ausdenken könnte. Nötig wäre ein derartiges Komitee aber unbedingt! Denn man kann es einfach nicht mehr hören, wenn die Westler nölen: In der DDR war auch nicht alles schlecht.

s. auch Text von Thomas Ahbe in dieser Ausgabe

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