Nachtreten! Nachtreten!

Schröder, Scharping, Lafontaine Willy Brandts Enkel kennen einander nur noch vom angewiderten Wegsehen

Der Fall ist abgeschlossen - haben wir gelacht! Bis zur letzten Minute seiner politischen Existenz hat Rudolf Scharping unseren Bedarf an Schadenfreude gedeckt: mit unnachahmlicher Grandezza, eben "erhobenen Hauptes und mit geradem Rückgrat" nahm er seine Rauschmissurkunde entgegen, als sei sie ein etwas verwackeltes Abiturzeugnis. Das macht das Leben bunter, wenn man einen hat, der auf Depp abboniert ist, erst recht, wenn er so weit über uns schwebt. Wir lehnen uns zurück und stöhnen wohlig: Die habense doch nich´ alle, die da oben!
Gewiss, der Minister hatte augenscheinlich "eine Macke", wie ihm Parteifeind Clement im Stern bescheinigte. Er war wahrscheinlich ein pathologischer Fall. Genüsslich rechneten ihm jetzt die Magazine seine gröbsten Unfälle bei der Selbsteinschätzung auf. Noch einmal ergötzten wir uns an dem Foto, auf dem er wie ein flügelwunder Kranich auf Gräfin Pilati zufliegt. Oder an der Episode, wie er Friedrich Merz´ Aktentasche aus Sarajewo zur Geliebten nach Mallorca entführte. Zwischenzeitlich hielt er sich für den besseren, auf jeden Fall für den kommenden Bundeskanzler, was Lafontaine vor wenigen Tagen - nachtreten! nachtreten! - in BILD zu dem Urteil veranlasste, Scharping hätte schon 1999 gefeuert werden müssen.
Im Amte war er, allen Quellen nach, kommunikationsunfähig bis zum Exzess, ein trauriger Einzelgänger, ein einsamer Radfahrer. Seine Unterstellten wussten sich nicht mehr zu helfen und nannten ihn, aus dem Munde des Chefs des Bundeswehrverbandes, "eine Witzblattfigur". Falsche Entscheidungen korrigierte er durch falsche Entscheidungen, von denen er annahm, sie nur besser getarnt zu haben - und wurde prompt erwischt: Wie er die Haushälter des Bundestages gelegentlich austricksen wollte, das war rührend, so kindisch, wie es war.
Die Kommunikationsunfähigkeit Scharpings ist aber nicht einfach ein individueller Webfehler, sie ist sozusagen strukturell. Sie betrifft wahrscheinlich das gesamte politische Establishment. Die "Enkel-Generation" der Brandt und Wehner kennt einander nur noch vom angewiderten Wegsehen. Alle diese hochgedienten Juso-Lagerleiter und einstigen Unterbezirkssekretäre hassen einander. In dieser Partei herrscht eine Kälte, von der das Land seinen Teil abkriegt. Sie feuern einander per Handy und reden nur über Agenturen miteinander. Wenn es zum "Gespräch" kommt, dann ist Showdown in Schröders Villa in Hannover angesetzt, damit man dann mit frisch polierter Larve "in die Gremien" und "vor die Medien" gehen kann. Diese beziehungsgestörte Meute braucht Leute wie Hunzinger. Man braucht so eine "Beziehungs-AG", weswegen man allein 1999 Herrn Hunzinger an Aufträgen aus fünf Bundesministerien Geld verdienen ließ. Über Dritte nämlich, zum Beispiel über das ausnehmend spendable Publikum in Hunzingers Salon, kommen die Spitzen der politischen Kaste dann doch noch - nein, nicht ins Gespräch, sondern "in den Diskurs", was nichts anderes heißt, als dass jeder auf seine Weise laut schweigt.
Wie kann es sein, dass die Öffentlichkeit alle Anzeichen gestörter Selbstreflexion bei einem hohen Politiker wahrnimmt - der Kanzler aber jahrelang keine Konsequenzen zieht? Wie war das im Jahr 2000, als Scharping die "Weizsäcker-Kommission" aufforderte, ihm "unkonventionelle Vorschläge ohne Denkverbote" zur Bundeswehrreform zu machen und dann Weizsäckers Ausführungen vor Dutzenden Kameras quasi mit einem ausgezeichnet im Fach Senilität bewertete? Wie kann so einer sich halten?
Die Antwort ist: Scharping befand sich unablässig im Krieg, er war Schröders Kriegsminister. So einen entlässt man nicht, bevor nicht alle Unterstellten, die er in den Krieg geschickt hat, in Sollstärke wieder nach Hause gekommen sind, in welchem Zustand auch immer. Dieses Problem reicht man nicht an einen Amtsnachfolger weiter wie eine Unterschriftenmappe. Das macht zugleich die lebensgefährliche Paradoxie der Personalie Scharping aus: Ein Politiker, dessen stärkstes Talent darin bestand, sich weitgehend von der Realität zu isolieren, verantwortete die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands nach 1945. Scharping entschied, wohin Soldaten zogen und was sie am Ort tun sollten. Bis zur Minute seiner Abberufung verweigerte er dem Bundestag jede Auskunft darüber, was genau deutsche Militärs in Afghanistan treiben. Als Postminister wäre er sicher gut gewesen. Aber es gibt keinen Postminister mehr.
Man darf aber der Öffentlichkeit, einschließlich der veröffentlichten, auch nicht zuviel zutrauen. Ja, jetzt! Jetzt haben es alle schon immer gewusst! Aber als es gen Balkan ging, hat sich der gesamte bürgerliche Medienbetrieb von dem Mann mit der "Macke" (dem der "Nie wieder Auschwitz!"-Fischer sekundierte) manipulieren lassen, und zwar wohlig und gerührt. Scharping schien in diesen Tagen seine Rolle gefunden zu haben - empathisch und angemessen verzweifelt. Heute wissen wir - diese Rolle hat sich Moritz Hunzinger für ihn ausgedacht, der Scharping zum "ersten populären, aber hochintelligenten sozialdemokratischen Soldatenminister" machen wollte. Scharping war unser Feldherr und Kriegsberichterstatter in einem. Er interpretierte Geheimdienstfotos so lange, bis sie Massenmord "belegten". Und er zeigte uns bebend den "Hufeisenplan" in die Kameras, der so gefälscht war, dass ihn bis heute keiner lesen durfte. Dann schickte Deutschland Soldaten, dann gab es "unvermeidliche Opfer im zivilen Bereich". - Gut, dass diese Regierung am Ende ist. Sie hat sich einen Scharping geleistet - das ist Versagen genug.

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