Neuer Chef - neues Glück?

Sonderparteitag Vor der Krönungsmesse am Wochenende in Berlin ist die SPD in der Fläche abgetaucht

Derjenige, der exakt wissen will, wie heute das Wetter in Eberswalde und angrenzenden Gemeinden wird oder wie es um den allergenen Pollenflug bestellt ist, kommt an der Internetseite der Deutschen Sozialdemokratie des SPD-Unterbezirks Barnim nicht vorbei. Seit Tagen kann man dort verfolgen, wie der Lenz hereinbricht. Irgendwie tun die milden Temperaturen natürlich den Sozialdemokraten gut, denn sie sind ja auch nur Menschen. Dass sie in diesen Tagen freudige Erwartungen darüber hinaus hegen, davon hört und liest man jedoch nichts. Kein Wunder: Sie hegen sie nicht. Von der viel zitierten "Aufbruchstimmung" ganz zu schweigen.

Die bevorstehende Inthronisierung ihres neuen Parteivorsitzenden scheint ihnen inzwischen eher peinlich zu sein. Der "spürbare Schub" für Zusammenhalt und Kampfeswillen der Partei, den Franz Müntefering in vielen öffentlichen Äußerungen nach dem angekündigten Rücktritt Gerhard Schröders vom Parteiamt beschwor, war schon verpufft als er angekündigt wurde. Die Zerfallssymptome mehrten sich sogar noch. Die Nörgler und Meckerer wurden mit jedem Tag frecher. Es geschieht, was immer geschieht, wenn Mitläuferschaften bis ins Mark verunsichert sind: Funktionäre der unteren Ebenen bringen ihre Hintern ins Warme, für den Fall, dass es doch noch "andersrum kommt", also die Prinzipienritter der Agenda 2010 einknicken sollten. Ein wutbleicher, Drohungen ausstoßender Franz Müntefering in Erfurt vor den sozialdemokratischen Arbeitnehmervertretern liefert das Bild, das uns erzählt: Der Coup unter dem Arbeitstitel "Neuer Chef - neues Glück" wird nicht gelingen. Als hätten irgendwelche Dunkelmänner von Anfang an Böses gegen den Franz geplant, ist er von mindestens einem halben Dutzend sozialdemokratischer "Gesprächskreise", "Offensiven", "Initiativen" und "Aktionen" flankiert, die für zahlreiche Menschen nun nicht nur den emotionalen, sondern auch organisatorischen Bruch mit der Schröder-SPD einleiten und in die Gründung einer - oder mehrerer? - neuer Parteien münden könnten.

Eigentlich könnte man die Vorsitzenden-Wahl genauso gut absagen. Aber eine Partei braucht nun mal einen Vorsitzenden.

Heute in der SPD zu bleiben - das ist entweder Charakterstärke oder Selbstverleugnung, naiv oder todesmutig. Wenn sich um einen herum die Reihen lichten (die Partei hat heute die niedrigste Mitgliederzahl seit Kriegsende) und nur noch Leute im Ortsverein zusammensitzen, die sich zu Hause einsam fühlen würden oder die glauben, die Traditionen toter Geschlechter pflegen zu müssen, braucht es Stärke, um nicht aufzugeben. Aber bei aller Selbstkasteiung: Irgendwann kommt ja doch die Frage hoch, wozu man denn noch gebraucht wird in einem Verein, in dem seit Jahren nicht mehr oder nur noch harmlos diskutiert werden darf und in dem fast alles, was als offenkundig falsch erscheint, als "alternativlos" gilt. Auch Müntefering hat ja nur angekündigt, dass er "durchziehen" will und "nicht wackeln" werde. Da kommt keine Freude auf. Wenn Müntefering verspricht, er wolle sich "mehr kümmern", klingt das wie eine Drohung. Und seit die Schiedsgerichte tagen, klingt es nicht mehr nur so.

Wo immer bekennende Sozialdemokraten dieser Tage im Barnim auftauchen - zum Beispiel bei den Versammlungen der Volkssolidarität oder der Freiwilligen Feuerwehr -, werden sie deshalb von den Bürgern mit nachsichtiger Milde behandelt. Wie man mit Menschen umgeht, die Schweres durchmachen und denen man nicht noch zusätzlich wehtun will. Niemand fragt: "Na, wie viele seid ihr noch?" oder ruft ihnen den Schlachtruf aller tüchtigen DDR-Flüchtige zu "Der letzte macht das Licht aus." "Ihr könnt ja nichts dafür", sagen die Leute und schenken den Sozis Kaffee nach. Aber nichts dafür zu können - ist das der Sinn einer Parteimitgliedschaft?

"Eigentlich" müssten die Genossen im Unterbezirk Barnim doch jetzt in die Offensive gehen: öffentliche Streitgespräche über die Sozialpolitik der Regierung, ein Rentnerforum in der Sparkasse, eine Talk-Show auf dem Gartenschaugelände mit Hinterbänkler Markus Meckel und der eben "mit traumhaftem Ergebnis" (nämlich mit 100 Prozent) nominierten Kandidatin für den Landtag, der netten, 40-jährigen Britta Stark. Aber nichts!

Für den 1. Mai laden die Barnimer dafür wieder zur Motorradfahrt in den Frühling ein. Ziel ist diesmal Schloss Neuhardenberg, vor dem das Kabinett dereinst hemdsärmelig an langem Tisch im Sonnenschein lümmelte und Franz Müntefering launig bekannte, er habe jetzt umgedacht und sei nun auch ein begeisterter Reformer.

Neben der Mitteilung von Britta Starks "Sieg" findet sich auf der Barnimer Seite aber wenigstens eine Stellungnahme des SPD-Landesvorsitzenden und Ministerpräsidenten Matthias Platzeck vom letzten Montag. Und die hat es in sich! Klar und präzise, wie man ihn schätzt, rechnet er mit der Politik des Sozialabbaus und der Vernichtung von Arbeitnehmerrechten - insbesondere beim Kündigungsschutz - ab. "Was so unverdächtig als Positionspapier zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes daherkommt, ist in Wahrheit ein erneuter Tiefschlag aus der neoliberalen Trickkiste", schreibt er. Hier ist einer am Werke, der das Erbe von Regine Hildebrandt nicht in den Wind geschlagen hat! Furchtlos geißelt er jene Kräfte, die offensichtlich eine "andere Republik" wollen, "in der Arbeitnehmerrechte auf das Niveau des beginnenden 20. Jahrhundert zurückgefahren werden". In der Konsequenz hieße das, sagt Platzeck, "Abschaffung unseres Sozialstaates".

Werden sich die Barnimer Unterbezirkler nunmehr eng um Platzeck scharen müssen, damit er von Müntefering nicht kalt aus der Partei geschmissen wird? Natürlich nicht. Seine Wut verbrauchte er nicht gegen die eigene Parteiführung, sondern ganz und gar gegen das jüngste Sozialpapier der CDU.

Übrigens - nur damit nichts unklar bleibt: Die Teilnahme am sozialdemokratischen Motorradausflug in den Mai "erfolgt auf eigene Gefahr".


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