Nicht alle

Platzecks Flapsigkeit und andere Entgleisungen Wie dank Schönbohm jeder ein Süppchen kocht, das er schon lange auf dem Feuer hat

Bis Redaktionsschluss war der Brandenburger Innenminister nicht zurückgetreten. Das wird er jedoch noch, es sei denn, man wollte ihn - wozu einige politische Beobachter, aber auch nicht wenige seiner Landeskinder neigen - für verrückt erklären. Dann hieße die Schlussfolgerung aber: Er ist zu krank - nämlich unfähig zur unverzerrten Widerspiegelung von Realität - um zurückzutreten. Und das wäre auch nicht gut.

Als der Skandal noch frisch war, glaubte dieser und jener, Schönbohms Entgleisungen damit bagatellisieren zu können, einem ohnehin verschrobenen, rechthaberischen älteren Herrn seien zusätzlich die Synapsen übergekocht. Den Anfang machte kein Politikerkollege, sondern die alte DDR-Stimmungskanone "Lütte" (Angelika Mann), die - als "Sprachrohr des Ostens" - vom Regionalfernsehen um ein Statement gebeten worden war. Sie meinte, mit Schönbohm sei der Schmerz angesichts der Babyleichen durchgegangen, er habe das nicht so gemeint. Die Leute rannten aus den Häusern und erklärten einander über die Gartenzäune hinweg die Dame für "bescheuert". Doch der Ministerpräsident des Landes schloss sich ihr wenig später an. Er formulierte die unglaubliche Flapsigkeit: "Einen Fehler hat jeder frei."

Fortan galt Platzeck als Spießgeselle seines Stellvertreters, mochte er auch ins Fernsehen eilen und die warme Fürsorglichkeit von DDR-Müttern - besonders seiner eigenen - als Schutzraum vor der SED-Diktatur preisen. Denn Brandenburger mögen zwar gelegentlich Babys meucheln, aber dumm sind sie nicht: Sie erinnern vom Innenminister eine Kette von rüden Ausfällen, jedes Jahr zwei bis drei, die sämtlich als "Aufarbeitung der Diktatur" getarnt waren, doch immer nur eins sagen sollten, nämlich dass Neonazis und Linke (denke: SED) im Prinzip dasselbe sind.

Platzeck hat in den folgenden Tagen schnell dazu gelernt und dann mit beachtlichem Verbalaufwand auf dem Landesparteitag der SPD Abscheu vor dem Schönbohmschen Unflat demonstriert, so dass sich sein Kanzler anschließen konnte. Inzwischen ist auch Schönbohm so weit. Gottseidank gibt es E-Mail, so dass seine Untertanen zu ihm durchdringen können! Er muss von wütenden, bösen, traurigen Texten überschüttet worden sein. Auch Parteifreunde blieben nicht stumm. Auf seine hinterhältige Entschuldigung "bei allen, die sich beleidigt fühlen" (ha, Brandenburger und Gefühle!) folgt nun Zerknirschung. Die Strategie ist noch immer richtig: um täglich neu den Kommunismus zu besiegen, ist jedes Mittel angemessen. Aber taktisch "hat es geschadet".

Aufschlussreich und interessant, wie jeder ein Süppchen kocht, das er schon lange auf dem Feuer hat. Thierse bittet die DDR-Bürger, darüber nachzudenken, ob sie nach der Wende die Wessis nicht noch in westlichem Egoismus "überbieten" wollten - und deshalb auch mal Neugeborene ins Klo geben? Der Psychologe Maaz, der seit 15 Jahren den ostdeutschen "Gefühlstau" beschreibt, sieht sie wieder, die "strukturschwachen Menschen". Steffen Reiche, sehr gern als Schöngeist und früher als Brandenburger Bildungsminister unterwegs, ist nahe bei Schönbohm und beklagt die Vertreibung der Intellektuellen aus der DDR in den fünfziger Jahren, in der dann natürlich nur Leute wie die Kindsmörderin übrig blieben. Und Angela Merkel hält sich mit staatsmännisch abstrakten Erklärungen den Rücken frei. Sie will auf keinen Fall als Ossa argumentieren, gerade jetzt nicht, wo man - dank Schönbohm - deren "Verproletarisierung" diskutiert.

Bündig in seiner DDR-Verachtung war Historiker Hubertus Knabe, der auf einer Vollzeitstelle Schulklassen durch das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen führt. Man könne nicht sagen, so Knabe, "alle Ostdeutschen töten Kinder." Alle? Das hat ja auch keiner behauptet.


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