Dreiundvierzig Jahre geben nichts her. Der Tag des Mauerbaus wird erst im August 2006, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, wieder zünftig gefeiert werden. Überwiegend folkoristisch, wie es sich bewährt hat - ein bisschen Ulbrichts Fistellüge, ein Stündchen Grusel zwischen Sofakissen mit Guido Knopp, etwas gelangweilte Empörung auf Stadtbezirksebene, dass es an geeigneten Denkmälern mangele, eine routinierte Andacht im Reichstag und eine Rangelei mit einem "Maueropfer", weil die PDS irgendwo einen Kranz abwerfen will ("Beleidigung jener, die..."). Danach ist wieder fünf Jahre Ruhe. Und dann ist schon ein halbes Jahrhundert vergangen, seit die DDR zum "Antifaschistischen Schutzwall" griff, gegen den sie reichlich später selber lief und zerschmettert, jedoch noch leidlich atmend, auf dem Kolonnenweg liegen blieb.
Ein halbes Jahrhundert! Die Erzählungen verdichten sich zu Mythen und Familiensagas. Die Mauer steht dann irgendwo zwischen Giftgas in Flandern, Bein ab vor Omsk, der Reise mit der "Völkerfreundschaft", der D-Mark und der restlichen Zeit, die das Zeug zur Historie nicht mehr aufzubringen scheint. Die Mauer wird gespenstisch hochklappen, wenn man den Kindern beibringen will, was der feine Unterschied von Gut und Böse ist. Böse ist es, Frösche aufzublasen, "und wisst ihr, da gab es auch mal eine Mauer, die war auch böse".
Am 13. August 2004 ist eigentlich nur eine Mauertatsache buchenswert: Der Staat, dem die Ostdeutschen vor 14 Jahren zugeordnet wurden, hat die strafrechtliche Verfolgung der "Todesschützen", samt "Befehlsgebern" und "Schreibtischtätern" in der vergangenen Woche mit Urteilen in einem Revisionsverfahren im Wesentlichen abgeschlossen. Der gesamte Vorgang der "juristischen Aufarbeitung" hatte zuweilen dramatische, auch spektakuläre, manchmal komische und manchmal alberne Momente. Die Selbstbespeiung von Günter Schabowski ("Wir waren Schweine")! Der burleske Vollzugsalltag des Egon Krenz, der nachmittags auf PDS-Volksfesten Körperkontakt suchte und zum Abendessen eingeschlossen wurde!
Als die Justiz ihr Werk begann, da war die Welt noch im Lot. Da war noch klar, wer der Sieger der Geschichte zu sein hatte. Das war die Zeit, als sich die Ostdeutschen auf den langen Marsch in die Bundesrepublik machten: zeternd und schleppenden Gangs die einen, eher beschwingt die anderen. Das ist vorbei. Inzwischen hat sich die Republik gründlich verändert. Sie ist unregierbar geworden. Der Fall der Mauer und die zwanghaft auf sie folgende Wiedervereinigung der Deutschen nach dem Kriterium der Blutsverwandtschaft (Brüder und Schwestern) hat ihr alle Sicherheiten genommen. Die Einheit hat sich katastrophal falsch vollzogen. Und zwar nicht nur "mental", als Störung, wie sie zwischen Bayern und Ostfriesen auch vorkommen kann, sondern vor allem auf jenen Gebieten, auf denen das damalige Handeln vorgeblich alternativlos war (Helmut Kohl behauptet das jedenfalls tapfer bis heute). Den Ostdeutschen wurden restlos die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Westens verordnet. Sie befanden sich in der Situation einer Echsenart, die das Fliegen zu lernen hatte, das Sprechen und das Essen mit Besteck. Sie hatten praktisch keinerlei Verfügungsgewalt über ihre Angelegenheiten mehr, und haben bis heute keine wirkliche Teilhabe an der Republik, in der sie wohnen. Und das Erschreckende: Den Westdeutschen war und ist das selbstverständlich.
Mauerfall und Einheit haben den Deutschen Lasten aufgebürdet, die dem Land die Handlungsfähigkeit nehmen. Ursprünglich dachten unsere westdeutschen Freundinnen und Freunde vielleicht, sie kriegen den Osten umsonst - sie brauchen ihn nur zu besetzen. Doch dann stellte sich heraus: Sie müssen ihn auch noch kaufen. Und zwar jährlich aufs Neue - für 90 Milliarden Euro! War die gesamte DDR überhaupt jemals so viel Wert? Einst hatte sich Franz-Josef Strauß das komplette SED-Politbüro für ein Neuntel dieser Summe gekauft. Vielleicht war der famose Einigungsvertrag von 1990 ja gar keine Besitzurkunde, sondern nur eine Art völkerrechtlicher Pachtvertrag für die Kleingartenanlage "Blühende Landschaften" und ihre fünf unergiebigen Parzellen? Dann könnte man ihn eventuell ja auch mal wieder kündigen - sozusagen im gegenseitigen Einvernehmen und wegen anhaltender bilateraler Ekelanfälle.
Heute traut sich niemand mehr neckisch von der "Mauer in der Köpfen" zu sprechen. Das war der verniedlichende Topos Mitte der Neunziger, als die gebremste deutsch-deutsche Libido als quasi ideologische Spätfolge der deutschen Teilung zugeschrieben wurde. Heute spricht auch niemand mehr mit "todesmutiger" Lustigkeit davon, dass die Mauer wieder aufgebaut werden müsse, "aber doppelt so hoch wie vorher" - noch zur Jahrhundertwende ein beliebter Dauerbrenner im ostdeutschen und westdeutschen Kabarett. Denn die Mauer ist da und unüberwindlich. Man findet sie nicht nur im eingefleischten ost-westdeutschen Desinteresse, gerade bei den Jugendlichen. Westdeutschland existiert wirtschaftlich eigenständig als der Zufluchtsort, an dem junge Ossis noch Anstellung als Zimmermädchen in Hotels oder Lehrlinge für Berufe finden, nach denen sich junge Westdeutsche nicht sehnen. Die Teilung ist so manifest, dass ein und dasselbe Gesetz, von Regierung und konservativ-liberaler Opposition auf den Weg gebracht, in beiden deutschen Teilgebieten völlig unterschiedliche Wirkungen entfalten dürfte. Im Westen mag Hartz IV den einen oder anderen Arbeitslosen in Arbeit bringen. Im Osten werden sie in die Armut getrieben - und auf die Straße. Die Montagsdemonstranten von damals - "Die Mauer muss weg!" - sind die Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen von heute und morgen. Sie haben viel erreicht: Wenn sie Glück haben, lässt der Staat sie physisch überleben.
Man muss schon Thierse heißen und zur unfreiwilligen Komik neigen, um sich (in Bild am Sonntag) die gemeinsame Angst vor Hartz IV bei Ostlern und Westlern als Morgengrauen einer vielleicht doch noch kommenden deutschen Einheit schön zu lügen. Wie man vor den Wahlen 2006, zum 45. Jahrestag des Mauerbaus, über das Monstrum denken wird? Einige werden sagen: Es gibt Schlimmeres. Und es werden mehr sein als heute schon.
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