Was kommt uns da aus dem Westen entgegen?

Jubiläum VIII Devote Funktionierer, renommiersüchtige Schnösel

Krach der Deutschen

Im Frühjahr 1991 verfestigt sich der Eindruck, dass die steinerne Grenze zwischen Deutschland Ost und Deutschland West zusehends von einer gedachten abgelöst wird. Den Westlern geht der ewig klagende Ost-Typ auf die Nerven, den Ostlern der ewig alles besser wissende West-Typ. Da entschließt sich die Freitag-Redaktion, als Ost-West-Wochenzeitung dem "Krach der Deutschen" in einer Artikel-Serie Zeit und Raum zu geben. Wir erinnern daran, durch zwei Ausschnitte. Sie stammen aus den damaligen Texten zweier Protagonisten dieser Debatte: Mathias Wedel (Ost) und Norbert Mappes-Niediek (West) konnten von sich sagen, recht eindeutig plädiert zu haben.


Es ist üblich, auf die psychischen Deformationen der Ostdeutschen zu deuten, die ihnen der Sozialismus beigebracht hat - Impulsschwäche und Achselschweiß. Was für ein Menschenschlag kommt uns aber da aus dem Westen entgegen, was hat der Wirtschaftswunderstaat sich da erzogen! Devote Funktionierer (diese stille, scheinbar "lockere" Akzeptanz aller Hierarchien), auf private Idylle zurückgeworfene Autisten, durch Ausschluss aus der Gesellschaft verblödete Frauen, renommiersüchtige Schnösel, Ausstattungsaffen. Ich dachte immer, es sei ein Quäntchen Selbstironie dabei, wenn sie Tipps verteilen, wie man sich bei einem Bewerbungsgespräch anziehen und wie hoch die Krawattennadel sitzen muss. Ist es aber nicht. Die funktionieren so! 50 Prozent ihrer Kreativität, ihrer Zeit, ihres Geldes, ihrer Libido müssen sie darauf verwenden, mehr zu scheinen, als sie sind. Was das in Mark und Pfennig ausmacht, rechnen sie sofort aus (sie können auch Libido in DM ausdrücken).

Das Finanzamt gesteht auch mir Werbungskosten zu. Wofür soll ich denn werben, frage ich mich immer. Jetzt habe ich es raus: Die braucht man für die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Betrug und Selbstbetrug sind die individuellen Übersetzungen von Angebot und Nachfrage. Betrug und Selbstbetrug binden des Westlers ganze Kraft, so dass er mit allem anderen rasch zufrieden zu stellen ist. Zum Beispiel hält er seine Demokratie tatsächlich für eine, und auch zur Pressefreiheit fällt ihm nichts mehr ein! Und er ist ehrlich gekränkt, wenn ausgerechnet die in der Diktatur verkümmerten Zonis da Erwartungen formulieren. Westler sprechen locker und frei - aber ihre Lexik ist extrem verkümmert.

Ihr Denken verläuft im Algorithmus von Geben und Nehmen. In diesem Algorithmus ist das Schenken der exorbitante emotionale Übertritt - die Vorstufe zum Göttlichen. Jetzt schenken sie uns, was sie nichts kostet, vor allem Freiheit. Höher steht für sie eigentlich nur ein Niedrigzins-Kredit. Nein, sie erwarten keinen Dank (sie wissen ja, wir können nicht zahlen), sondern nur den Satz: Wir haben 40 Jahre lang nicht gelebt! Teilen heißt bei ihnen Dividieren, und das ist eine Rechenoperation und keine moralische Kategorie.

Als de Maizière zum ersten Mal von "Teilen" sprach, vorsichtig, in ein Sprachspiel gekleidet, hörte man es förmlich knacken in deutschen Landen. Das war ein Knacken im Kulturniveau. Es ist nicht zufällig, dass neben der ostdeutschen Wirtschaft, die billig erworben werden soll, gerade auch die Kultur im Osten zerstört wird.


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