Der MarxFilm würde auch Kurt Hager gefallen!

Entfremdete "Entfremdung" Retro statt Relaunch. Der Film "Der junge Marx" zeichnet das Bild des alten. So wie ihn die staatssozialistischen Ideologen zeichnen wollten. Und das in schönen Farben.

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Warum wollte ich diesen Film sehen?

Schon vor 35 Jahren – als ich noch Kommunist war – interessierte mich das, was die DKP/SED-Parteiideologen als dem hegelianischen, den unreifen Marx denunzierten: der junge Marx. Seine Erkenntnisse zum Thema Entfremdung seien zu idealistisch, zu psychologisch, und würden von den harten Fakten der politischen Ökonomie ablenken. Deshalb vor allem war ich gespannt auf einen Film der sich ausdrücklich mit dem von den Parteiideologen verfemten „jungen“ Marx geschäftigen sollte.

Und mir fiel auf, wie sehr das „Neue Deutschland“ aber auch viele prominente Linken-PolitikerInnen wie Petra Pau, Dagmar Enkelmann, Caren Lay und andere den Film als Paten bewarben. Und - ich gebe es zu - auch die Spitzenriege deutscher Top-Schauspieler von August Diehl als Marx über Vicky Krieps als Jenny Marx bis zu Hans Uwe Bauer als Ruge haben mich angelockt.

Mit dem Positiven beginnen!

Wenn man von der politischen Botschaft absieht (war schwer möglich erscheint), ist es ein farbenfroher Kostümfilm, zeigte uns eine fast heldenhaft überhöhte Jenny Marx, und lässt uns (wenn auch nur ein wenig) das Gefühlsdilemma des Friedrich Engels als Sohn eines brutalen Manchester-Kapitalisten nachfühlen.

ABER: Dem Film „der junge Marx“ ist der Entfremdung-Begriff des jungen Marx entfremdet.

Auch der Hauptdarsteller August Diehl sieht die aktuelle Bedeutung des jungen Marx vor allem in der Kategorie Entfremdung. Bei einem ehemaligen Waldorf-Schüler und Absolventen einer Schauspielschule, die den Namen des kommunistischen Spanien-Kämpfers Ernst Busch trägt, scheint das auch nicht überraschend. In einem RBB-Interview meinte er: "Wir sind von Produkten und Dingen umgeben, von denen wir entfremdet sind, weil andere sie herstellen. Und deswegen entfremden wir uns auch von der Welt. Aus diesem Grund ist Marx nicht nur ein Wirtschaftsdenker, sondern ein Philosoph."

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Nur schade, dass in dem Film Entfremdung so gut wie keine Rolle spielt. Dabei wäre doch genau dieses Thema der aktuellste Bezug zur Gegenwart. Die Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit, die Entfremdung zu seinen Arbeitsverhältnissen, die Entfremdung des Vollzeitbeschäftigten zum HartzIV-Empfänger, die Entfremdung des deutschen Arbeitplatzbesitzes zum Einwanderer aus Syrien, die Entfremdung gegenüber der formalen Demokratie, die Spaltung und Marginalisierung (Zur aktuellen Entfremdung-Diskussion siehe auch diesen Artikel in der TAZ).

Klassenfragen statt Gattungsfragen

Der ganze Film wabert im Geiste eines der zentralen Sätze des Kommunistischen Manifestes: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft, ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Es ist natürlich Marx kein Vorwurf zu machen, dass er mit diesem Satz nicht vorher gesehen hat, dass dies, zwar für „bisherige Gesellschaften“, nicht aber für alle Zukunft Gültigkeit hatte. https://mathisoberhof.files.wordpress.com/2017/03/raoul-peck.jpg

Von einem südamerikanischen Filmregisseur (Raoul Peck, Foto) der sich selbst als Marxist bezeichnet und im taz- Interview gesteht, wie wichtig die jahrelangen Kapital-Schulungen an der Freien Universität Berlin für ihn waren, sollte man aber schon erwarten können, was selbst beinharte SED-Ideologen kurz vor dem Untergang ihrer stalinistischen Ordnungen zugestanden haben, dass es neben Klassenfragen auf Fragen der ganze Menschheit gibt. Sie nannten es Gattungsfragen. Der Erhalt des Friedens, die Vermeidung des Atomkriegs wurde genauso dazu gezählt wie die Verhinderung einer Klimakatastrophe. Die Auseinandersetzung mit den Folgen der Digitalisierung würden sie vermutlich heute genauso wie die Bekämpfung des internationalen Terrorismus (und damit untrennbar verbunden die Überwindung des Hungers auf der Südhalbkugel) dazu zählen.

Wer von diesen Fragestellungen des angehenden 21. Jahrhunderts aus einen Film über den jungen Marx drehen wollte, könnte nach Antworten von damals für die Welt von morgen suchen. Und er könnte sie auch finden.

Im letzten Teil beschreibt der Film die Entstehung des Kommunistischen Manifests. Dass der Regisseur um den (mit millionenfachem Mord und unverstellbarem Leid verbundenen) Begriff der im Kommunistischen Manifest erstmals erwähnten "Diktatur des Proletariats“ ein Bogen gemacht wird (mit Ausnahme einer scheußlichen Entgleisung bei der Darstellung von Weitling – siehe weiter unten), halte ich noch für nachvollziehbar.

Wäre es den Autoren aber nicht nur um Nostalgie gegangen sondern um Zukunftsfragen, hätten sie Marx und Engels vielleicht dargestellt, wie sie zu dem folgenden Satz aus dem vierten Kapitel des Kommunistischen Manifestes gekommen sind (wobei man aus meiner Sicht hier für den Begriff „Kommunisten“ auch wahlweise „Sozialisten“, „Progressive“ oder auch „Humanisten“ setzen könnte):

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. "

Der erste Teil des Satzes könnte als schallende Ohrfeige für solche linken-Politiker wie Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht verstanden werden, der zweite Teil des Satzes verpflichtet alle Linken sich grundsätzlich als „Scharnier“ der verschiedenen Bürgerbewegungen zu verstehen, seien es die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung, die Friedensbewegung, die Flüchtlings-Solidaritäts-Bewegung, die Bewegung gegen Bespitzelung und digitale Freiheitsberaubung und andere demokratische Bewegungen.

Schade, wer diesen Film gesehen hat, kriegt davon nichts mit.

Der Tiefpunkt: die Karikatur des christlichen Sozialisten Wilhelm Weitling

Während Marx und Engels in dieser Zeit den sogenannten „wissenschaftlichen“ Sozialismus" vertreten, ist Wilhelm Weitling der führende Vertreter des christlichen Sozialismus. Er argumentiert ausgehend vom Befreiungsauftrag des Evangeliums. Seine Schrift „Das Evangelium der armen Sünder“ liest sich wie eine frühe Schrift der Theologie der Befreiung, wie sie 100 Jahre später in ersten Zügen von Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth entwickelt und später von Ernesto Cardenal und vor allem Leonardo Boff konzipiert worden und die heute in Lateinamerika Millionen von Menschen motiviert aus christlichem Verständnis heraus für Veränderungen in Richtung Gerechtigkeit und Demokratie einzustehen.

Wenn Wikipedia schreibt: In der Weitling-Forschung ist – nicht zuletzt durch die Kampfschriften von Karl Marx – sein „geschichtlicher Rang unklar und umstritten“, so bleibt unser südamerikanische Regisseur hier leider auf dem Niveau dumpfer Vorurteile der staatssozialistischen Parteiideologen stehen. Wilhelm Weitling wird als Schwärmer mit überschlagender Stimme karikiert.

Das erlebt seinen Tiefpunkt in einer Szene, in der Weitling Marx und seine Anhänger vor der autoritären Entartung ihres Sozialismuskonzepts warnt mit der visionären Aussage: "Wenn Ihr solchermaßen auf Gewalt setzt, werden eines Tages wir alle und schließlich auch ihr am Galgen enden." (Zitiert sinngemäß)

Zur Geschichte des Marxismus gehört eben auch seine brutale Verzerrung ins Gegenteil unter Stalin, Mao, Polpot und den staatssozialistischen Ländern bis 1989. Diesen Gedanken als Hysterie eines Schwärmer mit sich überschlagender Stimme darzustellen, empfinde ich als unverzeihliche Geschichtsvergessenheit des Regisseurs.

Und wenn Wilhelm Weitling den aggressiven Aufrufen zur Gewalt von Marx und Engels ein Konzept der „Revolution der Liebe“ entgegenhält, so kann man daran erinnern, das nach allen gescheiterten sozialen Revolutionen - auf der größten Synchron-Demonstration der Geschichte einen Tag nach Donald Trumps "Inauguration, dem Women's March vom 21. Januar 2017, die „Revolution der Liebe" eine verbindende Idee vieler Akteure war.

Das Film-Finale mit der doppeldeutig in Botschaft von Illusion und Resignation

So ist es einerseits nur konsequent, dass eine Bilderfolge am Ende des Films genauso geschichtsvergessen vermeintliche oder echte Erfolge von Massenbewegungen wie die Befreiung von Apartheid in Südafrika oder Streiks und Demonstrationen an vielen Orten der Welt mischt mit (völlig angemessen und berechtigten kritischen) Bildern von Lebensmittelvernichtung und Hunger andererseits in der Gegenwart. Als ob das alles so einfach wäre, wie vor 150 Jahren im Kommunistischen Manifest beschrieben...

Wem es aber nicht gelingt die Veränderung des Kapitalismus, des demokratischen Systems, der Massenbeeinflussung und der Individualisierung der Menschen in Relation zu Marxens Erkenntnissen zu stellen, der beraubt sich der Fähigkeit auf die Ursachen der Siegeszüge von Trump bis Orbán von AfD bis Le Pen Antworten zu finden.

Antworten auf Identitätsverlust, diffuse Ängste die sich nicht nur ökonomische sondern vor allem auch auf kulturelle Veränderungen beziehen. Entfremdung als ein zentraler Begriff und gleichzeitig einstehen für die breitesten mögliche Front gegen Unmenschlichkeit, Ausgrenzung, Spaltung und Marginalisierung – diese Bezug des jungen Marx auf die Probleme der Gegenwart hat dieser leider Film verfehlt.

Irgendwann kam mir die bittere, aber wahre Erkenntnis: dieser Film hätte dem fortschrittsfeindlichen, stalinistischen Kulturhäuptling der SED, Kurt Hager gefallen. Mit Einschränkungen seine Vorführ-Rechte in einer DDR, die sich Perestroika und Glasnost widersetzte, hätte der Film nicht zu fürchten gehabt.

So war es dann auch nicht verwunderlich, dass in der Vorstellung die ich besuchte, im Kino in der Kulturbrauerei in Berlin Prenzlauer Berg ich neben drei Ehepaaren die allesamt locker das Abzeichen für 50 Jahre Mitgliedschaft in der sozialistischen Einheitspartei verdient hätten, ich mit meinen 66 Jahren fast der jüngste Zuschauer war. Nein, auch einen jüngeres Pärchen hatte sich verirrt, die Attraktivität des Marxismus auch bei Teilen der Jugend scheint ungebrochen, umso wichtiger den aktuellen Marx und nicht den überholten zu verbreiten.

Nur wer die demokratischen Auseinandersetzung auf Klassenkämpfe reduziert, der mag dann Bob Dylan Recht geben, wenn er zu diesen schönen Bilder linke Erfolge ganz im Gegensatz im Abspann singt: "How does it feel? To be on your own, with no direction home, like a complete unknown, like a rolling stone?"„Wie fühlt sich das an? Ganz allein zu sein, so ganz ohne Zuhause, als eine vollkommen unbekannte, als eine entwurzelte?“

Retro-Linke -allein zu Haus... Schade.

https://mathisoberhof.files.wordpress.com/2017/03/how-does-it-feel-to-be-on-your-own-with-no-direction-home-like-a-complete-unknown-like-a-bob-dylan-225862.jpg?w=1496

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Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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