Europawahl, Maidan und die Linke

Kommunikationsfehler Der Aufstieg der Rechten basiert (auch) auf Fehlern der Linken, ihrer Sprache und ihrem Unverständnis der Widersprüche im Denken der "Abgehängten".

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Es ist zum verzweifeln!

Ist es zum verzweifeln?

Jedenfalls: ganz schön viel auf einmal!

Die Rechtspopulisten gewinnen die parlamentarische Mehrheit in Frankreich und Großbritannien, die Linke muss bei Kommunalwahlen in Brandenburg heftige Niederlage einstecken kann dies aber kaum zu geben ( geschweige denn Ursachenanalyse betreiben), bei den Montagsdemos engagieren sich zigtausende von Menschen, die bisher niemals politisch aktiv waren, aber in der Linkspartei wird ein Abgrenzungsbeschluss gefasst, fast wie weiland Anfang der 70er Jahre in der SPD, als unter dem Parteiratsvorsitzende Richard Löwenthal die Zusammenarbeit mit Kommunisten mit Parteiausschluss geahndet wurde

Wohin also marschiert Europa?

Nach rechts oder nach links?

Kein Zweifel: Europa hat Angst.

Viele haben Angst vor Krieg in der Ukraine. Noch viel mehr haben Angst vor Arbeitslosigkeit, abrutschen in die Armut, dass in Deutschland zum Synonym dafür gewordene verfluchte Wort: "Hartz IV".
Manche haben Angst vor Terroristen.

Millionen sind erfasst von Ablehnung und Wut auf einen Turbokapitalismus, indem der Profit, sei es aus Lebensmittelspekulationen, Ausrüstungsexporten, oder aus immer weiterem Abbau von Arbeitnehmerrechten, wichtiger ist als eine Zukunft für uns alle, in der wir das arbeiten können, was uns gemäß ist und Spaß macht, in der wir unser Beitrag zur Erholung der ausgebeuteten Natur leisten können, in der wir lernen Konflikte als Bereicherung und nicht als Bedrohung anzusehen weil wir lernen, sie gewaltlos zu lösen, eine Zukunft also, in der Männer und Frauen, Jung und Alt, Einheimische und Fremde, Arm und Reich, solidarisch in ihrer Vielfalt zusammen leben können.

Europa hat Angst.

Und die Linke?

Manche rezitieren Antworten aus dem Vokabular des letzten Jahrhunderts. Sie wissen sich abzugrenzen und auszugrenzen innerhalb der eigenen Reihen und erst recht von potentiellen Bündnispartnern.

Die Realos gegen die Fundis, die Regierungsbefürworter gegen die Anti-Kapitalisten, die Machos gegen die Feministinnen, die alte Friedensbewegung gegen die neue Friedensbewegung, die Gewerkschafter gegen Freelancer, die Teilnehmer an Wahlen gegen Wahlverweigerer, die um ökonomische Rechte kämpfenden gegen die für digitale Rechte kämpfenden, die alte Arbeiterbewegung, gegen neue Bewegungen, die analoge gegen die digitale Welt.

Die Europastraße 50 von Frankreich bis in die Ukraine - Wäscheleine für die Kommunikationsfehler der Linken!

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Im Jahre 2009 sind Margot, meine Frau und ich mit unserem Wohnmobil nach Uschgorod in die Ukraine gefahren. Den größten Teil der Strecke fuhren wir auf der Europastraße 50, die die mit 6000 km die längste durchgängige Straße Europas ist, die sich vom äußersten Westen in Brest in der französischen Bretagne durch Deutschland, Tschechien, die Slowakei, die Ukraine bis nach Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan hinzieht.

An der E 50 kann man alle ungelösten Fragen der europäischen Linken wie an einer Wäscheleine aufhängen.

In den meisten Wahlkreisen der E 50 auf französischem Staatsgebiet hat die rechtsradikale Front National die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht.

Nach der deutsch-französischen Grenze durchkreuzt die E 50 viele Städte, in denen seit einigen Wochen die so genannten Montags- Mahnwachen der "neuen Friedensbewegung" stattfinden, so in Saarbrücken, in Mannheim, und in Nürnberg.

Von dieser Stadt aus haben wir vor fünf Jahren die E 50 bis an die Ukrainische Grenze befahren. Als ich kurz kurz vor der Ukrainerchen Grenze an einem riesigen Werk der deutschen Waffenschmiede Krauss-Maffei vorbeikam, erinnerte ich mich, dass schon vor 1989 die damalige CSSR zu den größten Waffenproduzenten der Welt gehörte und diese Fabriken zum Teil nahtlos in westeuropäischer Rüstungskonzerne integriert worden sind.

Und ich erinnerte mich daran dass eben auf dieser E 50 1968 im August die russischen Panzer fuhren, die dem letzten Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz ein brutales Ende setzten.

Jenseits der Slowakisch-Ukrainischen Grenze liegt das Städtchen Uzgorod. Dorthin führte uns 1980, in der kleinen westdeutschen Studentengruppe an der Moskauer Komsomol-Hochschule die Studiendelegation zum Titel "sozialistische Demokratie". Niemals vorher oder nachher habe ich so deprimierend den Worthülsencharakter, die Verlogenheit, einer "sozialistischen Demokratie" als Potemkisches Dorf erlebt, hinter der sich eine eiskalte staatsbürokratische Diktatur verbarg.

Knapp 35 Jahre später wird die Ukraine zum Zankapfel zweier imperialistischer Großmächte, der USA und der mit ihr verbündeten NATO einerseits und dem postsowjetischen Putin-Imperium andererseits.

Was hat die Ukraine mit den Montagsmahnwachen wie den Wahlergebnissen der Front National in Frankreich zu tun?

Überall geht es darum, dass aus meiner Sicht viele Linke in einer Art Projektion die Faktoren linker Politik, der linken Vergangenheit, die Versäumnisse sozialistischer oder linker Politiker ausblenden, wenn es darum geht nicht-Linke, ungewohnte, ja häufig auch inhumane, einzelne Menschengruppen ausgrenzende Reaktionen großer Bevölkerungsteile auf die kapitalistische Krise, auf das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu erklären.

Auf Facebook, in der "alten Friedensbewegung" - auch in weiten Teilen der Linkspartei - wird inflationär auf Bewegungen, die sich von Russland und dem imperialen Einfluss des Putin-Regimes befreien wollen, das Etikett "faschistisch" geklebt.

Völlig ausgeblendet wird dabei die Rolle des Stalinismus als Wegbereiter pro-faschistischer und nationalistischer Ideologien.

  • Ausgeblendet wird das nach dem Tod von über 3.000.000 Ukrainern durch Stalins Terror für so manche dort die deutschen Truppen als Befreier angesehen wurden, und nach dem Sieg der sowjetischen Armee völlig unverhältnismäßig echte wie vermeintliche Kollaborateuren mit der Hitler-Wehrmacht ohne jegliche gerichtliche Nachprüfung an die Wand gestellt wurden.
  • Ausgeblendet wird, daß der Maidan-Protest zunächst - nach meinem Wissen - die erste Revolution der neueren Geschichte war, die sich generell gegen alle Parteien gerichtet hat und erst als sowohl vom Maidan wie auch der damaligen Ukrainischen Regierung blutige Gewalt ausgeübt wurde, faschistische Kräfte - bei der Ausübung von Waffengewalt ähnlich geübt, wie die postsozialistischen Armee und Sicherheitsbehörden - erheblichen Einfluss auf die Bewegung bekam, ohne dass sich das in den jüngsten Präsidentschaftswahlen relevant in Wählerstimmen niederschlug.
  • Ausgeblendet wird, dass den ukrainischen Oligarchen ja nicht etwa russische Demokraten ,sondern auf der anderen Seite der Grenze ebenfalls völlig undemokratische kapitalistische Strukturen und postsowjetische Oligarchien gegenüberstehen.
  • Ausgeblendet wird schließlich dass der Begriff "Faschist" in Russland seit nunmehr mehr als 80 Jahren millionenhaft als Etikett zur Vernichtung von Dissidenten, von abweichenden Kommunisten, von anders Denkenden missbraucht wurde.

Wer aber glaubt mit dem Begriff "Faschist" habe sich jede weitere inhaltliche Auseinandersetzung erledigt, wird in der Isolation bleiben, die Ursachen der Probleme nicht erkennen, und was das Schlimmste ist - den wirklichen Faschisten Menschen in die Arme treiben, die dort nicht hin gehören.

Und die Montagsmahnwachen?

Auf perfide Art und Weise erlebe ich dasselbe, wie beim denunzieren des Maidan als faschistisch.

Wer die Montagsmahnwachen als "neue rechts" ab tut, blendet die sträflichen Versäumnisse der "altlinke" Friedensbewegung aus.

Seit Jahren ist die Friedensbewegung, die Anfang der Achtzigerjahre große Teile der Kirchen, vor allem kirchlichen Jugendgruppen, der Schüler und Studentenbewegung, der Gewerkschaften, und vieler Kulturschaffender umfasste, immer enger geworden, hat sich immer weiter reduziert auf einen Teil der linken, antikapitalistischen Bewegung.

Das ging soweit, dass in Nordrhein-Westfalen die Friedensbewegung zur Wahl der Linkspartei aufgefordert hat.

Absurder Höhepunkt des Sektierertuma sind Erklärungen des Sprechers des Kasseler Friedensratschlages, Peter Stytinski, der sich in die innerparteiliche Auseinandersetzung der Linkspartei zwischen antikapitalistischer Linker und Forum demokratischer Sozialismus im vermeintlichen Namen der Friedensbewegung auf die Seite der Ersteren schlägt.

Dass auf Friedensdemos und Ostermärschen, die optisch nur noch von den roten Fahnen der Linkspartei und ihre befreundeten Organisationen definiert wurden, immer weniger anders Denkende einfanden, dürfte nicht verwundern.

Ausgeblendet wird völlig die Frage, was für Versäumnisse der alten Friedensbewegung zum Entstehen jener anderen so genannten neuen führten.

Hier, wo nicht die straffe Organisation einer Partei gilt, sondern dass Open Microfon, und die Vielfalt zelebriert wird, da versammelt sich schon auch mal Unsinniges, Bizarres und leider immer noch auch Antisemitisches, Verschwörungstheoretisches, oder offen Homophobes und anderes rechtsradikales Gedankengut.

Dass aber jene die auf diese Mahnwachen gehen, dort sprechen oder Kulturbeiträge leisten, um Homophobie, Antisemitismus, Verschwörungstheorien zurückzudrängen, argumentativ sich auseinandersetzen, wie zum Beispiel der selbst jahrelang von Neonazis bedrängte, bekennende Schwule Florian Kirner, alias Prinz Chaos II., nun gemobbt und diffamiert werden, ausgegrenzt werden sollen, macht mich fassungslos.

Und es erinnert mich an den SPD-Parteiratsbeschluss Anfang der siebziger Jahre, in der Richard Löwenthal vom SPD Parteirat glaubte, die Aktionseinheit von Sozialdemokraten und Kommunisten dadurch verhindern zu können, dass für SPD Mitglieder diese mit Parteiausschluss bedroht wurde.

Und Le Pen?

Nein, niemand soll mir unterstellen, dass ich in den ausländerfeindlichen, homophoben und anderen Forderungen der französischen Neonazis irgendetwas erkennen wollte, an das man anknüpfen könnte oder sollte.

Dennoch: 25 % der Wählenden aus dem Land der französischen Revolution, sind keine Faschisten.

In Thüringer Dörfern haben Neonazis den Satz plakatiert: "Wir nehmen eure Wut ernst!".
Nimmt die Linke dieWut, die Gefühlswelt der Abgehängten, ihre Ängste denn wirklich ernst?

Solange die Linke sich nicht fragt, warum die mutlosen, die wütenden, die Prekarisiertenm die ausgestoßene nicht zu ihren Kundgebungen kommen, ihr Kreuz nicht hinter ihrem Parteinamen abgeben sondern Krisen-Protest der in anderen Formen verläuft, immer wieder und einfach und schnell als rechtsradikal diffamieren, solange hat eine linke Antwort auf den Neoliberalismus offenbar keine Chance.

Epilog:

Ganz zu Beginn der Willkommenskultur in Wandlitz, nachdem ich auf der größten Bürgerversammlung seit der Wende im Herbst 2012 bei der die Mehrheit der 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich gegen ein neues Asylbewerberheim in Wandlitz ausgesprochen hatten, um Verständnis für die Flüchtlinge bat bei gleichzeitiger Akzeptanz, dass es Ängste vor neuem und unbekanntem gäbe, da rief mich wenige Tage später eine Frau an und sagte mir am Telefon, dass sie Kleider Spenden für die "Fidschi und Neger" abzugeben habe.

Zwar habe ich geschluckt, aber ich habe zunächst mit ihr nicht über korrekte Begrifflichkeit gesprochen, sondern die Abholung vereinbart. Im alten Dorf von Wandlitz traf ich eine Hartz IV Empfängern an, die trotz zweier 1 Euro Jobs zweimal im Monat in der Arbeitsagentur um Aufstockung betteln muss, die drei Jungens großgezogen hat und nun in stundenlanger Arbeit Kleidung aus der ihre Söhne herausgewachsen waren, gewaschen, gebügelt und zusammengelegt hatte. Das große Kuscheltier oben auf wollte sie dem "Neger Kind" schenken, dass wenige Tage vorher auf der Titelseite der Regionalzeitung beim Eintreffen der ersten Flüchtlinge abgebildet worden war.

Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet an diesem Tag bei der Übergabe der Spenden an Flüchtlinge und ihre Kinder das regionale Fernsehen anwesend war und am Abend in der Sendung "Brandenburg aktuell" Bilder ausgestrahlt wurden, wo eben jener dreijährige Kameruner von mir dieses großen Kuscheltier die in Empfang nimmt.

Als ich nachhause kam, hörte ich auf dem Anrufbeantworter eine weinende Frau die mir sagte: "Herr Oberhof, sie haben mir die größte Freude meines Lebens gemacht!" Ich habe zurückgerufen und habe ihr gesagt, nicht ich sondern sie selbst haben sich diese Freude gemacht!

Ist diese Frau Rassistin? Gar rechtsradikal?

Natürlich nicht. Voller Empathie, fleißig, selbstlos und solidarisch. Nur die neuesten Begriffe für Farbige oder Flüchtlinge aus dem asiatischen Raum sind ihr nicht geläufig.

Wenn wir Linke nicht lernen, Verständnis zu haben, und mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen, wird das alles nichts!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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