Gibt es etwas "schönes" im Lockdown

CORONA-"schooling" Wenn ja, was und warum? Ich hab es mal zusammen getragen, was mir Mut und Ausdauer für den 3. Lockdown verschaffen soll.

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Heute habe ich auf Facebook diese Frage gelesen: „was war für dich bisher das schönste an Corona?“. Und nach manch verständnisloser oder gar empörter Rückfrage dann die korrigierte Formulierung: „was war bisher das schönste während des Lockdowns?“

Meine erste Reaktion war: Endlich fragt mal eine!

Und dann habe ich mich hingesetzt, und hab mal versucht so viel wie möglich aufzuschreiben. Ich hab ja nun auch viel mehr Zeit, zum Schreiben. (Vielleicht hast du auch die Zeit zum Lesen)

Inhalt:

  • Ich habe ein schlechtes Gewissen
  • Meine Schwiegermutter + mein ältester Sohn hatten Corona
  • Erster Schritt: ich weise die Angst in die Schranken
  • Das wichtigste: Entschleunigung
  • Wie ging es meiner Mutter in Faschismus und Krieg?
  • Stolz auf handwerkliche und künstlerische Projekte
  • Mit dem Telefon in der Zeitmaschine rückwärts
  • Zeit für ausmisten, Zeit für teilen
  • Quarantäne heißt auch: Zeit für Zweisamkeit
  • Corona-Not macht Video-erfinderisch
  • Damit meine Gäste mich besser verstehen: Neue Technik für Videogespräche
  • Man gibt weniger Aus, weil man weniger ausgeben kann
  • Ich sehne mich nach Enkeln, Umarmungen und gemeinsamer Kultur
  • Die Zeit danach
  • wir brauchen Kraft für die AHA Regeln: fokussieren auf die Rosinen

Ich habe ein schlechtes Gewissen.

Ich habe von Anfang an ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich festgestellt habe: mir (und meiner Frau) geht es gut! Zugegeben, wir sind privilegiert: ich bin 70 Jahre alt, wir beide beziehen (keine allzu große) staatliche Rente und wir leben am Speckgürtel von Berlin im Grünen umgeben von Wäldern und Seen. Und ja, ich hatte von Anfang an Angst vor zufälliger und sinnloser Ansteckung.

Und ja ich weiß selten hat ein alle Menschen betreffendes Ereignis so unterschiedliche Auswirkungen gehabt: die einen haben Angst vor Einkommensverlust, die anderen um ihren Arbeitsplatz, die dritten um ihre Existenz. Die einen (Künstler) werden bald wahnsinnig weil sie ihrer entscheidenden Ausdruckskraft im Leben beraubt zu sein scheinen, bei anderen treibt die Situation ihre Wut auf Regierung, ist herrbestimmend und die da oben auf die Spitze und treibt sie in den Verschwörungswahnsinn.

Und ja, es ist eine Menschheitskatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes (die Staatstrauer von fünf Tagen in den USA finde ich mehr als angemessen!)

Meine Schwiegermutter und mein ältester Sohn hatten Corona

(Aber schon hier auch der Zusatz: meiner 88-jährige Schwiegermutter hat Corona Gott-sei-Dank, wenn auch erst nach vier Wochen, aber trotzdem symptomfrei üüberstanden, mein ältester Sohn hat Corona mit mittelschweren Symptomen überstanden<allerdings auch nachweislich mindestens 18(!) Menschen angesteckt, noch bevor die Symptome ausbrachen> und ihn konnte ich schon vor drei Monaten ja wieder problemlos und umso herzlicher umarmen!)

Erster Schritt: Ich weise die Angst in die Schranken

Von 19:00 bis 20:00 Uhr ist bei uns zu Hause die Zeit für Angst und traurige Nachrichten: Inzidenzwerte, R-Faktor, Infektionen und Mutanten, und fast jede Interessengruppe bete zu Sankt Florian: befreit uns von den Lockerungen, andere sind die Superspreader, sie sollen Abstand halten. Das ist natürlich polemisch formuliert, denn neben Widersprüchlichem, Unverständlichem, und dem typischen parteipolitischen Hickhack, das ja nicht erst durch Corona entstanden ist (!), gibt es ja auch sachliches, gibt es wissenschaftliche Fakten, tolle Menschen, die ehrlich und mutig nach vorne blicken, die Drostens, Mylabs, Ranga Jogeschwar und viele andere mehr

Aber bitte: nicht den ganzen Tag Corona Fakten. 60 Minuten zwischen 19:00 und 20:00 Uhr sind genug, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Das Wichtigste: Entschleunigung

Vor allem aber: die Entschleunigung hat bei mir zahllose Aktivitäten geweckt, die ohne Quarantäne nicht oder nicht so schnell geweckt worden wären. Ich habe (erst jetzt, als ich glaubte, dafür Zeit zu haben) das Manuskript, das meine Mutter vor 20 Jahren kurz vor ihrem Tod über ihre Jugend geschrieben hat, erstmals gelesen und in den Computer diktiert.

Wie ging es meiner Mutter in Faschismus und Krieg?

Und dabei natürlich festgestellt dass, wer 1917 geboren wurde bei der Machtergreifung der Nazis 16 war und am Ende des Krieges 28 Jahre alt, Dinge erlebt hat, die alles in den Schatten stellt, was uns heute bedrückt.

Aber auch so profane Sachen, wie der Stolz, in meinem Alter eine Vielzahl von handwerklichen Erfolgserlebnissen zu erleben.

Stolz auf so viele handwerkliche und künstlerische Projekte

Die Reparatur der Kupplung des Motorrasenmähers, des Vertikutierers, der Ausbaus alter stillgelegte Heizungskörper und die Anbringung eines neuen.

Seit Jahren hatte ich mir vorgenommen, ein kleines Studio mir einzurichten und mit eigenen Texten Cover-Versionen der „Lieder meines Lebens“ zu produzieren. Erst in der Quarantäne habe ich das Projekt angefangen. Ich habe das erste Mal mit mir selbst im Duett gesungen (sehr witzig: die Android-App Acapella!)

Mit dem Telefon in die Zeitmaschine rückwärts

https://mathisoberhof.files.wordpress.com/2021/02/screenshot-295.png?w=767Mit dem Telefon das Leben zurücktelefonieren. Das geht. Ich habs erlebt!

Ich hatte mir im März letzten Jahres vorgenommen, Menschen die ich seit langer Zeit, Jahren oder Jahrzehnte nicht mehr gesprochen habe, anzurufen. Inzwischen sind es 15 Menschen geworden, einschließlich meiner ersten Liebe, einschließlich von Schulkameraden die ich seit mehr als 50 Jahren nicht gesprochen habe, ehemalige Chefs, Menschen mit denen ich vor Jahrzehnten im Bösen auseinandergegangen bin: was für wunderbare Erlebnisse, die meine eigene Sicht auf mein Leben und auf diese Menschen nachhaltig (und überwiegend positiv) verändert hat.

Zeit für ausmisten, Zeit für teilen

Wenn man aufräumt und ausgemistet, muss man echt nicht alles wegschmeißen. Weil an unserem Haus ein viel frequentierte Fahrradweg zum in der Nähe gelegenen Badesee vorbeiführt, haben wir zunächst ein altes Regal vor die Tür gestellt mit Büchern, die wir gelesen haben und nicht mehr behalten wollen. In einer Woche haben 120 literarische Werke die Besitzer/in gewechselt und sind nicht im Container gelandet. In einer zweiten Phase haben wir Haushaltsgeräte, die wir nicht mehr schön finden, die wir nicht mehr brauchen, oder die wir doppelt haben, ins Regal gestellt – die 40 Gegenstände waren noch schneller weg als die Literatur!

Quarantäne heißt auch Zeit für Zweisamkeit

https://mathisoberhof.files.wordpress.com/2021/02/screenshot-294-1.png?w=1024

Obwohl wir seit zehn Jahren in diesem schönen Grundstück wohnen, saßen wir nie zuvor während des Sommers so oft am Abend statt des Films oder nach dem Film im Garten. Unterm Sternenhimmel. Um zu schweigen. Und dann das zur Sprache kommen zu lassen was ohne das Schweigen versteckt geblieben wäre. Und jeden Tag abends für 20 Minuten das kurze Gespräch, wie war dein Tag, was hatte dir gefallen, geschmeckt, Freude gemacht? Wo habe ich mich über dich geärgert? (Unglaublich was wir feststellten, welche aufregende Dinge an diesem Tag so passierten!) und ist es ein Zufall, dass ich mich nie zuvor in meinem Leben so oft an die nächtlichen Träume erinnerte? Und auch begann, sie frühmorgens als erstes aufzuschreiben?

Corona-Not macht Video-erfinderisch

Obwohl ich seit zehn Jahren YouTube Videos herstelle, habe ich in den letzten zwölf Monaten mehr über Videoschnittprogramme, über Tontechnik und gute Ausleuchtung gelernt als zuvor.

Als evangelischer Christ, der höchstens vier oder fünf mal im Jahr in die Kirche geht, war ich noch nie so oft in der Kirche, wie, seit ich nicht mehr in die Kirche gehen darf. (Digitale Gottesdienste, abrufbar zu jedem Wochentag und zu jeder Tageszeit!).

Und ich habe den ersten Zoom-Gottesdienst erlebt, wo nicht alle nach vorne zu Pfarrerin, zum Pfarrer oder zum Kreuz geblickt haben sondern auf so viele Menschen wie gerade auf meinen Bildschirm an Kacheln passen. Ihre Mimik, ihre Handbewegungen, ihr zu Hause, und dann in Kleingruppen in den Breakrooms: offene und intensive Gespräche mit wildfremden Menschen! Ich habe bei online Workshops witzige Typen aus der ganzen Welt kennengelernt, die sich zugeschaltet hatten und in den kleinen Untergruppen ganz nahegekommen sind.

Damit meine digitalen Gäste mich besser verstehen: neue Technik für Zoomgespräche

(Ich muss dazu sagen, weil ich nicht mehr soviel Ausgaben (Tanken, Restaurants, Konzerte, Theater und Kinos, unnützes Shopping) hatte, habe ich stattdessen einen NEUEN Router, einen neuen WLAN-Repeater, ein Mikrofon und eine Video-Leuchte gekauft, meine Gesprächspartner sollen mich ja erkennen können. Und verstehen!)

Meine Frau, die in früheren Jahren auf den (oft bitterkalten) Weihnachtsmärkten ihre wunderbaren Waldorfpuppen verkaufte, hat über eBay Kleinanzeigen einen deutschlandweiten Kundenstamm entdeckt, genauso viel schönes Feedback wie analog vor dem Marktstand bekommen und viel Freude bereiten dürfen.

Man gibt weniger aus, weil man weniger ausgeben kann

Allein die Tatsache, dass wir nur noch in drei Wochen Rhythmus Einkäufe machen, hat auf unsichtbare Weise mein Konto ansteigen lassen (weil ich viel weniger unsinniges non food gekauft habe, zu dem ich mich sonst habe verleiten lassen).

Ich sehne mich nach meinen Enkeln, nach Umarmungen, nachhaltig und gemeinschaftlicher Kultur

Ja ich sehne mich danach, meine Enkel wieder umarmen zu dürfen, ich spüre wie auch bei Menschen, die mir nicht ganz nah sind, Dinge wie (angenehmer) Körpergeruch, das „Haptische“, Körpersprache, eben eine Ausstrahlung, die sich auf dem Bildschirm nicht abbildet, fehlt.

Die Zeit danach:

Und ich bin mir sicher, dass die Umarmung, die Wertschätzung, aber auch die Bedeutung von Langsamkeit am Ende der Pandemie (wann immer man von einem Ende sprechen wird können) zunimmt und vor allem die Bedeutung von Kultur, von Theater, von Restaurant, von Gemeinschaftserlebnissen, von Chor-Singen und vielem anderen mehr, die wir in der Quarantäne so schmerzlich vermissen, enorm gewachsen sein wird. Leicht wird es nicht aber sehr spannend!

Wir brauchen Kraft für die AHAL Regeln: fokussieren auf die Rosinen im blöden Quarantäne-Kuchen

https://mathisoberhof.files.wordpress.com/2021/02/screenshot-291-1.png?w=1024

Und letztens: wo sollen wir denn die Kraft für die Disziplin, für die blöden Masken, für das Abstand halten in jeder Situation, für den Verzicht auf unnötige Kontakte und so vieles andere hernehmen, wenn wir nicht auch die Augen öffnen für die Rosinen in dieser Katastrophensituation, für „Corona schooling“: Das, was uns Corona lehren kann!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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