Lieber Andrej Hermlin, unser Krim-Dissens

Krim, Stalin & Linke Versuch, die tiefe Kluft zur Krim-Annexion zwischen Linken zu überwinden

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Andrej Hermlin sandte mir am 9.3.2014 auf facebook diesen Text:
Sag mal Mathis, was willst Du eigentlich mit all dem bezwecken?
Du weißt, dass wir beide manche Standpunkte teilen, aber hier verstehe ich Dich überhaupt nicht.
Die Swoboda sprach noch vor 12 Monaten (!!) von der russisch-jüdischen Verschwörung, der es entgegenzutreten gelte? Schon vergessen? Ich verstehe nicht, warum Du und andere versuchen, die faschistischen Tendenzen in der Ukraine klein zu reden. Einige der Minister in der neuen Regierung bekennen sich offen zum Rechtsextremismus. Das ist keine Kremlpropaganda, sondern eigenes Bekenntnis. Und es ist ein Unterschied, ob Nazis in Sachsen im Landtag sitzen (schlimm genug, dass das der Fall ist), oder ob sie der Regierung eines Staates angehören. Das Bild von Stefan Bandera ist auch nicht rein retouchiert, sondern hängt an der Bühne des Majdan und in Reden wird immer wieder auf ihn Bezug genommen!
Man kann doch nicht, weil man Putin und seine Politik falsch findet, die Augen schließen und alles ausblenden, was nicht in das Bild von der friedlichen demokratischen Volksbewegung passt.
Und das Juden sagen, sie fühlten sich nicht bedroht, bedeutet noch lange nicht, dass sie es nicht sind. (Mein jüdischer Großvater dachte ähnlich und landete am 9.11.38 im KZ Sachsenhausen)
Warum diese ganze Propaganda?? Immer und immer wieder!!
In Eurem Widerwillen gegen Putin (inzwischen von manchen Kommentatoren schon mit Hitler verglichen - was für eine monströse Verdrehung!),
wollt Ihr nicht sehen, dass diejenigen, die jetzt in Kiew das Sagen haben, nicht die sind, für die Ihr sie haltet.
Dabei ist es so leicht. Russisch lernen und lesen und hören, was diese Leute selbst von sich geben. Es ist mir unbegreiflich, wie Linke diese Nachkommen der Bandera Leute sympathisch finden können.
Putin ist nicht links, und ich unterstütze ihn überhaupt nicht!!
Aber wer die Swoboda und den Rechten Sektor nicht als faschistisch erkennt, ist - bei allem Respekt - entweder blind oder grenzenlos naiv - oder beides.
Meine Antwort:
Lieber Andrej,
ich teile deine Besorgnis, „dass wir uns nicht verstehen“.
Ich fühle mich an die schrecklichen Tage im August 1968 erinnert, wo die ganz frisch und hoffnungsvoll erstarkte Linke in Westdeutschland, nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der CSSR, gespalten und wesentlich geschwächt wurde.
(Ich weiß, das man weiß-Gott den Prager Frühling nicht mit dem Maidan verwechseln darf, doch auch damals wurde zur Begründung des militärischen Eingreifens die „faschistische Gefahr der Wiedererrichtung der Macht Sudetendeutscher Revanchisten“ an die Wand gemalt).
Ich will zunächst mich bemühen, anzusprechen, wo wir vermutlich einer Meinung sind:
1.
Außenpolitisch: nie wieder Krieg! Das schließt all die Errungenschaften der Menschheit ein, die sich die Völker und Regierungen nach zwei schrecklichen Weltkriegen gegeben haben: das Völkerrecht, das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die Respektierung der Grenzen und der Souveränität der Staaten. Obwohl diese Normen niemals geheißen haben, dass wir schweigen zu Unrecht in souveränen Staaten (das faschistische Chile, die faschistischen Regierungen in Griechenland und Spanien, das Apartheidregime in Südafrika, und viele andere mehr) haben Pazifisten und Linke dennoch immer auf dem Prinzip bestanden, dass die Völker ihre Angelegenheiten selbst regeln und bestimmen müssen. (Dass es ganz wenige Ausnahmen gab, wie den deutschen Faschismus mit dem Holocaust, oder aber den Völkermord in Ruanda, war immer die Ausnahme, die die Regel bestätigt).
2.
Wirtschaftspolitisch: neben anderen, massenpsychologischen, (religions-) fundamentalistischen, nationalistischen Motiven ist es vor allem das kapitalistische Profitprinzip, dass einer der wichtigsten Kräfte für immer neue Kriege darstellt. Seien es die Profite aus Waffenexporten, seien es die Jagd nach Rohstoffen und Bodenschätzen, der militärisch industrielle Komplex in den USA, genauso wie die Oligarchen, die hinter der Putin-Regierung stehen (und wenn sie könnten, sicherlich ebenso die Oligarchien die beispielsweise hinter Julia Timoschenko stehen) sie alle sind bereit für immer neue maximal Profite Waffen zu produzieren und in Anwendung zu bringen.
3.
Einig sind wir uns sicher auch darin, dass eine solidarische Gesellschaft der Zukunft nur eine solche sein kann, in der die „Freiheit immer die Freiheit des Anders-Denkenden“ ist, oder wie Marx es ausdrückt, alle Verhältnisse umzuwerfen (sind), in denen der Mensch ein... ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Wenn wir uns, lieber André über diese drei Punkte einig sind, wäre das doch schon einmal ein ganz schönes Fundament für gemeinsames Diskutieren und gemeinsames Handeln. Ich fürchte was uns trennt, ist eine unterschiedliche Einschätzung darüber, in welchem Ausmaße die Verbrechen der Stalin-Zeit, aber auch die Unterdrückung nationaler Minderheiten in der nachfolgenden Phase, die euphemistisch beschrieben wurde mit „sozialistische Menschengemeinschaft der UdSSR“.
Dazu nur ganz wenige Zahlen:
Nachdem 1932 Stalins Schwiegersohn, der damals der Chef des ukrainischen Geheimdienstes GPU war, 2000 Kolchos-Vorsitzende verhaften ließ, um den Kampf gegen die „Kulaken“ und „ausländischen Agenten“ zu intensivieren, löste er damit und mit weiteren Maßnahmen der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine eine unvorstellbare Hungersnot aus, der mindestens 3,5 Millionen Bürger der Ukrainer (manche Historiker sprechen sogar von 14 Millionen) durch Hungers-Tod zum Opfer fielen.
Selbst wenn dies kein bewusster Schachzug von Stalin zur Auslöschung der Ukrainischen Kulaken war, ist es nachvollziehbar, dass die russischen Kommunisten sich in diesem Land für Generationen tiefe Feinde geschaffen hatten.
Als nach dem Hitler-Stalin Pakt 1939 sowjetische Truppen in das damals zu Polen gehörende Gebiet der heutigen West-Ukraine eindrangen, wurde nicht nur das Massaker von Katyn verübt, sondern auch Zigtausende von Gegnern der Sowjetmacht nach Sibirien deportiert. Dies führte wiederum dazu, dass nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion in der Ukraine wie auch im Baltikum überdurchschnittlich viel Einwohner die deutschen Truppen als „Befreiung“ feierten. Leidtragende waren vor allem die Juden, die nur durch die effektive und breite Unterstützung der einheimischen Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit aufgespürt, verhaftet und liquidiert wurden.
Nach dem Vorrücken der Roten Armee gegen Ende des Zweiten Weltkrieges führte dies nun fast automatisch zu neuen Verhaftungswellen. Aber aber eben nicht nur reale Kollaborateure sondern auch viele, die unschuldig denunziert wurden, oder einfach wegen der angestrebten „Planüber-Erfüllung“ der örtlichen NKWD-Stellen, wurden verhaftet, sofort erschossen, oder dem Hungertod in sibirischen Lagern überstellt.
Während in Polen, dass in dieser Zeit gleichermaßen unter dem faschistischen Terror wie der stalinistischen Vernichtungswut gegen die polnische Intelligenz zu leiden hatte, die katholische Kirche als einzige Institution die nationale Identität verteidigte, gab es offensichtlich in der Ukrainer nur die „Organisationen ukrainischer Nationalisten“ unter Führung des Faschisten Stefan Banderas.
Für den von der OUN ermordeten Juden, Kommunisten, oder Polen, macht es keinen Unterschied, aus welchen Gründen er sein Leben lassen musste, für die Einordnung des ukrainischen Nationalismus aber dürfen gerade Linke die Ursache für seine Entstehung durch Millionen von Toten, die im Ergebnis der Politik der KPDSU in der Ukraine zu beklagen waren, NICHT vernachlässigt werden.

Aus Platzgründen erspare ich uns die entsprechenden Zahlen bei der Liquidierung, Vertreibung und Umsiedlung der Krimtataren, die die wesentliche Ursache dafür sind, dass diese "Ur-Einwohner“ der Krim heute so sehr die Minderheit geworden sind.

Zusammenfassend: Faschist bleibt Faschist. Nationalist bleibt Nationalist. Dies gilt aber eben nicht nur in der Ukraine, sondern so wie in Ungarn, in Frankreich, aber auch in Russland selbst, das gerade in diesen Monaten jedwede zivilgesellschaftliche Aktivität mit dem Etikett „ausländische Agenten„ in die Illegalität treibt.

Was bleibt, ist die unterschiedliche Einordnung rechtsradikaler, rassistischer, ultranationalistische Kräfte auf dem Maidan und in der Ukrainischen Übergangsregierung, die am 25. Mai durch eine frei gewählte Regierung abgelöst werden soll. Dass die Svoboda Partei in Umfragen derzeit bei 2,5 % liegt (also etwa dem Stimmenanteil, den die NPD bei den letzten Bundestagswahlen hier in Wandlitz erhielt) und der rechte Sektor sogar nur auf 1,5 % kam, lässt mich offenbar mutiger in die demokratische, partizipativen ukrainische Zukunft blicken, als dich und andere Linke. Solange dieser Dissens ohne Waffen, ohne Besetzung, und ohne Bruch des Völkerrechts ausgetragen werden kann, wäre uns allen geholfen.
Denn vielleicht sind wir uns ja auch in diesem Punkt einig:
die kulturelle Barbarei, die Agonie und völlige Gleichgültigkeit in der großen Masse der Völker der ehemaligen UdSSR (wie sie Wladimir Kaminer in seinem Beitrag als nationalbewusster Russe so traurig beschrieben hat) ist das Erbe von 70 Jahren Gewaltherrschaft, die überwiegend die Menschen nicht selbstbewusst gemacht hat sondern in der Untertätigkeit belassen hat, in die sie jahrhundertelang der Zar und der „wirklicher Herrscher Russlands“, der Wodka (Zitat Lenin) gehalten hat.
Es grüßt dich herzlich
Mathis Oberhof

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Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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