R2G in Berlin muß bleiben

3er-Koalition nach Holm Scherbenhaufen statt Aufbruch. Berlin hat dennoch rotrotgrün verdient. Und nicht die Rechtspopulisten. Die LINKE hat manches falsch eingeschätzt.

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Andrej Holm wird nicht mehr lange Staatssekretär für Wohnungspolitik in Berlin sein. Entweder stimmt die Linke seiner Entlassung zu oder sie steigt aus der Regierung aus.
Wenige Wochen nach dem hoffnungsvollen zweiten Signal einer rot rot-grünen Landesregierung (wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen wie in Thüringen) ist die Aufbruchstimmung dahin. Auch auf meiner Facebook-Timeline brechen mit Gewalt und mich dann doch überraschend völlig neue Bruchlinien auf.
Wer nicht hundertprozentig für das Festhalten an der Ernennung Holm als Staatssekretär festhält, ist schnell in einen Topf geworfen mit Wohnungsspekulanten, Immobilienhaien und – ach ja – der Springer-Presse.
Obwohl sich (fast) alle Kommentatoren einig darin sind, dass das Problem nicht darin besteht, dass in einem totalitären Staat einem 14-jährigen vom Geheimdienst eine Loyalitätserklärung abgerungen wird, sondern, dass das Problem darin besteht, wie er in den letzten Wochen mit dem Thema umgegangen ist (einschließlich der versehentlichen Vergesslichkeit vor elf Jahren sich daran zu erinnern, dass er für 675 DDR-Mark Monatsgehalt hauptamtlich für die Stasi tätig war), lese ich bei Facebook am laufenden Band: es handele sich um Sippenhaft, es müsse endlich Schluss sein, und vor allem immer wieder der unsägliche Vergleich, dass Alt- Nazis in der jungen Bundesrepublik zuhauf Minister – und ja sogar Bundeskanzler werden konnten. (Letzteres ist natürlich bekannt, das rot-rot-grüne Projekt sollte aber vor allem für Politik stehen, die nicht in den Fußstapfen von Globke, Filbinger und Kiesinger steht!)
Wer bis gestern mein Geistesverwandter erschien, hält mir heute vor, dass Holm und anderen in den DDR-Unterdrückungsapparat verstrickten der Judenstern angeheftet werden soll.
Welch ein Stimmungsumschwung in nur wenigen Wochen.
Für mich wird nicht nur das sichtbar, dass das Vertrauen zwischen SPD und Grünen einerseits und Linken andererseits noch sehr schwach entwickelt ist, sondern vor allem, dass das positive Abstimmungsergebnis der Mitgliederbefragung der Linken in Berlin nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass vielen Anhängern und Mitgliedern der Linken offenbar noch immer ein Zusammenwirken mit Andersdenkenden sozialen und ökologischen Demokraten mit dem Ziel der Umkehr der Rechtsentwicklung sehr wesensfremd erscheint.
Da wird dann ganz schnell der Regierende Bürgermeister zur Marionette der Berliner Immobilienmafia.
Die Haltung zur Causa Holm hängt häufig von der Himmelsrichtung der Herkunft ab, Wessis sehen es oft anders als Ossis (wobei solche Wessis, die ihr Leben lang in linken Sekten lebten, nach dem Motto: „viel Feind viel Ehr“, natürlich sich bestätigt fühlen: “wer hat uns verraten: Sozialdemokraten”), aber auch innerhalb der Ostdeutschen tut sich offenbar eine tiefe Kluft zwischen jenen auf, die persönlich oder in ihrem persönlichen Umfeld Psychoterror oder leiblichen Terror des DDR-Unterdrückungsapparates erlebt haben und jenen, die ihre individuelle Lebensleistung delegitimiert schon dadurch fühlen, wenn heute einem weithin anerkannten Stadtsoziologen, dessen akademische Kompetenz – so viel ich weiß – niemals ernsthaft in Zweifel gezogen wurde, wegen seines unsensiblen Umgangs mit seiner jugendlichen Stasi-Verstrickung nicht dafür geeignet erscheint, als erster Ex-Stasimitarbeiter ein Staatssekretär Posten in Deutschland zu übernehmen.
Was mich auch sehr viel beschäftigt, ist die Frage, warum die Berliner Linken-Führung an dieser Stelle abgewichen ist von dem, was in Thüringen und auch in der Regierungsbeteiligung Brandenburg selbstverständlicher Konsens geworden war: keine Kandidaten mit Stasi Verstrickung für ein Ministeramt vorzuschlagen. (Ausgerechnet ein Landesverband, der aus meiner Sicht mit am aktivsten antistalinistische Initiativen unterstützte.)
Es sind übrigens vor allem Gefühle und nicht Argumente die die Debatte bestimmen. Die einen wollen sich nicht „fertig machen lassen“, die anderen „wollen keinen Schlussstrich ziehen“.
Gregor Gysi weist seit Jahrzehnten darauf hin, dass keine westdeutsche Stadt so sehr unter Mauer und Teilung zu leiden hatte wie West-Berlin. Viele der über 100.000 ehemaligen Sozialdemokraten, die vor allem nach dem 17. Juni 1953 sich beruflicher Benachteiligung oder gar dem Gefängnis entziehen wollten, indem sie ihre Heimat verließen und in den Westen flohen, kamen über West Berlin, viele blieben auch dort.
400 Sozialdemokraten wurden in dieser Zeit ermordet oder starben in den Gefängnissen oder in Sibirien, weil sie sich der „Bolschewisierung der SED“ ersetzen.
Natürlich ist es 60 Jahre her, aber die Enkel der Ermordeten leben noch.
Die Linkspartei hat im Westteil gute 10 % und im Osten mehr als 23 % Stimmenanteil geholt. Da aber die Anzahl der Wahlberechtigten im Westen erheblich höher ist, kommen ca. ein Drittel aller Stimmen aus dem Westteil. Und das sind – weiß-Gott – erheblich mehr als die alten PDS Stammwähler und Enkel der SEW. Und auch im Ostteil hat sich ja die Struktur der WählerInnen der Linkspartei nach dem vorübergehenden Hype der Piraten deutlich gewandelt. Junge, libertäre, internet-affine Menschen und Kieze konnten von der LINKEn (wieder-)gewonnen werden. Wenn also davon gesprochen wurde, “dem Klientel der Linkspartei könne ein Rückzug von Holm nicht zugemutet werden können”, dann habe ich daran erhebliche Zweifel.
Wenn in der Debatte um Holm neben individuellen Argumenten seines Lebensweg auch sofort wieder solche Verharmlosungen auftauchten, die allesamt darauf hinauslaufen die anderen haben doch noch viel mehr ermordet (in Vietnam, in Guantanamo, haben Flüchtlinge in Mittelmeer ertrinken lassen usw.), dann hat das alte Wunden neu aufgerissen.
Man darf darauf gespannt sein, wie es dem Landesvorstand der Linken in Berlin nach einem aus meiner Sicht wirklich in weiten Teilen hervorragenden, und vor allem erfolgreichen Wahlkampf, gelingt, jetzt aus eigenen Fehlern solchermaßen Schlussfolgerungen zu ziehen, dass das rot rot-grünen Projekt in Berlin weder scheitert noch stagniert.
Dieses Land bräuchte es dringend!
PS: So viel ich weiß, hat sich an Andrej Holm, der Parteilose, nicht für den Staatssekretär-Posten aufgedrängt. Sondern er hat einer verführerischen Einladung Folge geleistet. Inzwischen hat er mehrfach gesagt, dass er es abgelehnt hätte, wenn er gewusst hätte, was auf ihn zukommt . Dieser herausragende Stadtsoziologe hat es verdient, dass sich jene, die ihn ins Feuer geschickt haben, jetzt auch darum kümmern, dass seine Kompetenzen für eine soziale Wohnungspolitik weiterhin nutzbar gemacht werden können.
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Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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