Sexuelle Aufklärung für Geflüchtete? Und uns!

Über Wörter und Stummsein Ein Text im Netz macht die Runde. Sexuelle Aufklärung, die wir Flüchtlingen geben müssen, regt auch das Aufklärungsbedürfnis unter Einheimischen an. WIR MÜSSEN REDEN.

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Ich bin überrascht!

Ein Link, den ich vor 9 Stunden in meiner Facebook – Chronik gelesen und geteilt habe (http://bit.ly/2irGPNv) , wurde seitdem 15 x geteilt, bekam 30 Likes neun Kommentare und sieben Antworten und wurde seitdem in mindestens drei Blogs oder Nachrichten-Seiten weiterverbreitet (der Webanhalter: http://bit.ly/2jqP7tp, bei Piqd: http://bit.ly/2jqSO2h und www.lana74.wordpress.com : http://bit.ly/2jqUj03 )

Mag ja sein, dass ein so genannter „viraler Hit“ anders ausschaut, mich macht dennoch die für meine Verhältnisse große Resonanz positiv nachdenklich.

Eingebetteter MedieninhaltDer Text “ Worüber ich rede, wenn ich über Sex rede“, handelt von der sexuellen Aufklärungsarbeit, die eine unbekannte (Frau Read-on) nicht nur in indischen Slums, sondern auch in deutschen Flüchtlingsunterkünften aber auch unter Einheimischen leistet.

Schon im Text selbst, aber erst recht in den Kommentaren sowohl im Blog selbst, als auch auf Facebook wird schnell deutlich, dass die Probleme von Tabuisierung, Nicht-reden-können über Details sexueller Praxis, Annäherung und Bedürfnisse zwischen den Geschlechtern (oder auch zwei Gleichgeschlechtlichen) kein Alleinstellungsmerkmal von Flüchtlingen aus dem arabischen, oder asiatischen Kulturraum sind.

Gleich zu Anfang berichtet diese Autoren aus ihrer sexuellen Aufklärung-Arbeit, dass ein Grundsatz nicht nur von Flüchtlingen sondern genauso von Einheimischen darin besteht zunächst nur mal die Geschlechtsteile sachlich benennen zu können, wenn sie schreibt: “ Es ist für viele Männer übrigens nicht nur Flüchtlinge ein Schock, aber auch ein befreiender Moment ihre Geschlechtsteile richtig benennen zu können. Das mütterliche Schniedelwutz und das kumpelhafte F*ckkanone, das es in allen Sprachen gibt, ist nämlich mehr als hinderlich, um Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren.

Die dänische Sexologin Ann-Marlene Henning berichtet parallel dazu in ihren Sendungen wie problematisch für junge Mädchen die Unkenntnis ihrer Klitoris ist, die sie ohne Spiegel im Normalfall nicht sehen können. Wie sollen sie Bedürfnisse erspüren, wenn sie ihre Organe kaum kennen, noch nie gesehen haben?

Natürlich wird man in Mitteleuropa weniger Männer finden die (wie die Autorin berichtet), wenn sie die Flüchtlinge bittet, auf dem Bild eines weiblichen Körpers die Vagina einzuzeichnen, diese in der Nähe des Bauchnabels verorten.

Dennoch habe ich mich sofort daran erinnert dass ich selbst seit meiner Pubertät, dem Erwachen sexuellen Verlangens und dem für mich als Achtundsechziger relativ späten ersten Liebe-machen’s mit einer Frau im Alter von 19 Jahren vor allem von einer Frage gepeinigt wurde: wo genau ist denn diese Vagina, was muss ich tun, um nicht ungeschickt daneben zu treffen, kann es passieren, dass ich in die Harnröhre oder in den After treffe? Und vor allem: Was wird die Partnerin zu dieser dummen Unwissenheit sagen oder denken. Wie stehe ich als Mann dann da? Wie schön, dass, als dann der ersehnte Abend in mein Leben trat, die Frau schon Erfahrung hatte und mir liebevoll über diese scheinbar unüberwindbare Wissenslücke hinweghalf.

Und wenn junge Männer im arabischen Raum (vielleicht) aus ihrem Glauben abgeleitet vor der Ehe mit keiner Frau schlafen wollen, für die Ehe aber nicht genügend Geld haben, um die Ersehnte oder Angebetete „auslösen“ zu können, – und es einer ganzen Generation so geht, dann scheint es mir nur zu verständlich, dass die weibliche Sexualöffnung 20 cm körperaufwärts geortet werden kann.

Sind europäische Männer und Frauen deshalb aufgeklärter? Sind sie in ihrer Mehrheit eher darauf vorbereitet, das andere Geschlecht, seine andere Anatomie, seiner andersgearteten Bedürfnisse kennen zu lernen, sind sie darauf vorbereitet, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu artikulieren? Kennen sie überhaupt ihre Bedürfnisse, haben sie die Mut geheime sexuelle Wünsche der geliebten, dem geliebten Partner/Partnerin zu offenbaren?

Natürlich nicht!

Anlässlich der #Aufschrei-Kampagne habe ich in einem Kommentar (www.bit.ly/aufschreiderlust ) mit den Worten überschrieben:

Wir brauchen den #aufschrei der STOPP sagt, genauso wie den # aufschrei der Lust und Hingabe!

Und unter anderem geschrieben: “ Es wird zu wenig gestreichelt, zu wenig in intimer geschützter Umgebung Begierde ausgelebt, geschaut, gegrabscht und dirty getalkt von Menschen, die sich darauf einigen, dass und was ihnen Lust bringt. Schlafzimmer in Not! Der Bestseller „Ehe, Sex und Liebesmüh“ (www.bit.ly/Liebesmueh) weiss neben vielen Sonnenseiten, auch über die Schatten dokumentarisch zu berichten: die Sprachlosigkeit, die Traurigkeit, Angst und Frustration, dort wo Lust und Lebenskraft sein könnte.

Was hat das alles nun mit jenem Text zu tun:“ Worüber ich rede, wenn ich über Sex rede“?

Vor allem dies eine: Wir müssen reden! Nicht nur in der Übersetzung auf Arabisch oder Farsi und Urdu. Wir müssen reden zwischen Mann und Frau, zwischen Frau und Frau zwischen Mann und Mann. Auch in Deutsch. Das Glückspotenzial der Sexualität ist so viel größer als alles, was wir bisher schon erlebten (so unterschiedlich unsere sexuellen Biografien auch sein mögen). Und das zerstörerische Potenzial der Sexualität könnte so viel mehr verwandelt werden in Lustgewinn zwischen zwei Erwachsenen, die auf gleicher Augenhöhe Vereinbarungen darüber treffen, was sie miteinander und mit ihren Körpern machen wollen,- wenn wir den Mut dazu hätten!

Und so hege ich denn nach dem heutigen Tag einen schönen Verdacht: dass die Flüchtlinge die in unser Land kommen, nicht nur in Fragen der Arbeitskräfteentwicklung, nicht nur zu Problemen des Baus von Wohnungen mit sozialverträglichen Mieten, nicht nur zu Fragen von Inklusion und Diversität, und und nicht nur dazu, dass wir generell das Fremde versuchen, nicht als Bedrohung sondern als Bereicherung anzusehen, weiterbringen.

Sondern dass die Flüchtlinge und das,, was wir ihnen an sexueller Information schenken wollen, auch uns als Einheimische voranbringt.

Mein Buch über die Flüchtlingsarbeit, dem der Goldmann Verlag den Titel „Refugees welcome“ (http://bit.ly/refugeeswelcome_leseprobe) aufdrückte, sollten nach meinem Willen ursprünglich betitelt sein: „WILLKOMMENS-GLÜCK“. Dem Einwand, hinter so einem Titel könne man auch ein Schwangerschaftsbuch vermuten, konnte ich mich nicht entziehen.

Aber ich bleibe dabei: die Flüchtlinge, die zu uns kommen sind eine Chance. Es ist ein Glück, dass sie uns dazu zwingen, vieles neu zu denken und über vieles neu zu reden.

Ach, wie wäre das schön, wenn die Erkenntnis des Kopfes, dass der Fremde aus Irak, die Fremde aus Afghanistan uns bereichern können, uns auch dazu befähigt, mutiger das Fremde in den sexuellen Vorlieben unserer Partnerin/unseres Partners nicht zu fürchten, ja vielleicht sogar dazu befähigt, das in uns selbst tabuisierte und verdrängte Fremde anzuschauen und sich damit auseinanderzusetzen. Es wäre eine wirkliche Bereicherung!

Und wenn Mahatma Gandhi einmal gesagt haben soll: „Wahrer Frieden beginnt in uns selbst!“ Dann wäre das auch – wie ich finde – ein verdammt politischer Transformationsprozess.

Der Text erschien zunächst bei www.mathisoberhof.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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