Und was tragen wir morgen?

Fashion Week Nichts ist schwieriger, als in die Zukunft zu schauen. Und nichts wird in der Modewelt öfter versucht. Das Trendforschungsinstitut WGSN versucht, der Zeit voraus zu sein

"Wenn die Mode die Regisseurin des Alltags ist, dann verdient der Modeschöpfer, der über die Zukunft mehr sinniert als jeder große Staatsmann, die höchste Aufmerksamkeit des Gesellschaftsbeobachters." François Mitterrand, 1986

Der Mensch sehnt sich nach Sensationen, besonders in der Mode. Erst im Januar widmete V Magazine seine gesamte Frühjahrsausgabe Frauen mit Übergröße. Richtig übergewichtig waren sie nicht, eher rubenesk, die Modewelt zeigte sich dennoch beeindruckt. Als Miuccia Prada im Februar kurvige Looks über den Runway schickte – zugegebenermaßen nicht zum ersten Mal – fragte sich Sarah Mower von Style.com, wer dem Trend dieser Ikone wohl folgen würde.

Doch schon im Mai 2009 hatte die Trendforschungsgröße WGSN (World Global Style Network) in einem Bericht die Vorhersage getroffen, dass mollige Frauen nicht mehr die Wühltische der Massenwarenhersteller anvisieren, sondern inzwischen oft genauso viel Freude an Shoppingtouren haben wie schlanke. „Die Mentalität hat sich im Hinblick auf Übergrößen und Modetabus grundlegend verändert. Heute sind Kleidungsstücke auch in großen Größen modern und zeitgemäß, die Verarbeitung ist qualitativ hochwertiger”, erklärte Barry Zelan, Vizepräsident und Geschäftsführer von Liz Claiborne Women, Anfang 2009. Also wer bitte, liebe Sarah, ist hier eigentlich der Vorreiter? Besser noch: Wer folgt hier eigentlich wem? Mut ist nicht mehr besonders rebellisch, wenn er schon sieben Monate vorher vorprogrammiert wurde.

Das 1998 gegründete WGSN ist eine der wenigen renommierten Trendforschungsagenturen und gilt als Schrittmacher, wenn es um die Kommunikation mittels Netzwerktechnologien geht. Mit 24 Dependancen und ungefähr 250 Mitarbeitern weltweit hat es das WGSN geschafft, einer Branche, die bislang auf Handwerk setzte – Stoffe und Farbmuster wurden traditionell in Buchform an den Einkäufer gebracht – online eine Flut an Möglichkeiten zu eröffnen. "Unser Ansatz ist eher anthropologischer Natur", verriet mir erst kürzlich Cher Potter, die bei WGSN im Think Tank für so genannte Makro-Trends arbeitet.

Zehn Jahre in die Zukunft schauen?

Die Analyse von Verbraucherbedürfnissen ist nur ein kleiner Teil dessen, was die schier unerschöpfliche Datenbank des Londoner Unternehmens zu bieten hat. Eine umfangreiche Fotobibliothek hält Muster, Maße, Farben, die Lichtdurchlässigkeit von Materialien fest – "empfindliche Gewebe" genauso wie "zweckmäßige Stoffe"; Alltagsgegenstände aus aller Welt, von den Harems Istanbuls bis zu den mittelalterlichen Apotheken Italiens. Zu finden sind auch Interviews mit Neurowissenschaftlern etwa über die Ähnlichkeiten der Reaktionen unseres Gehirns, wenn ihm eine neue Handtasche oder Sex in Aussicht gestellt werden, oder über den Unterschied zwischen Verlangen und Anziehungskraft. "Die Aufgabe unseres Think Tanks ist es, fünf bis zehn Jahre in die Zukunft zu schauen", fährt Potter fort. "Wir setzen uns mit weitreichenden Ideen auseinander, die noch nicht in der Modewelt angekommen sind. Wir erschaffen Ideen."

Das Wunderbare an Potters Abteilung beim WGSN ist, dass sie innerhalb einer narrativen Utopie zu arbeiten scheint, fernab der Konventionen unserer Realität. "Die Analyse von Verbraucherverhalten ist ein Teil der Arbeit", erklärt Potter. "Daraus ergibt sich die Zahlengrundlage, die in den Journalismus und die geschäftliche Seite einfließt. Solche Dinge kann man anhand von ökonomischen, politischen und technologischen Entwicklungen prognostizieren, doch sehr weit kommt man damit nicht. Meine Abteilung beschäftigt sich mit der Prognose von Ästhetik, um dann Stimmungen innerhalb der Gesellschaft abzuleiten. Einen wirklichen Bedarf an Zahlen gibt es in der Ästhetik nicht. Genau das wollen wir weiterentwickeln: das Konzept kultureller Prognosen, die auf ästhetischen Vorstellungen basieren. Im Prinzip ein Science-Fiction-Gesellschaftsmodell."

Das immer zwanghaftere Denken der Modeindustrie in strengen zeitlichen Bezügen wie Frühjahr/Sommer, Herbst/Winter, scheint hier in weite Ferne gerückt. "Wir schauen kaum auf den Catwalk, denn dort geschieht alles in Echtzeit. Für uns ist das schon Vergangenheit", erläutert Potter.

Genau solche Konzepte sind es, die die Modewelt braucht, damit Designer den Trends auf der Spur bleiben können. In einem Interview erklärt Alber Elbaz, der für das französische Modelabel Lanvin tätig ist: „Man kann keine sechs Bücher in einem Jahr schreiben, keine sechs Filme produzieren. Man kann keine sechs Kollektionen innerhalb eines Jahres entwerfen. Das macht Mode heute aus.”

Trendforschung polarisiert

Ich frage mich, wer wohl hinter der innovativen Materialforschung von Lanvin stecken mag – schließlich macht auch sie die heutige Mode aus. Leider gibt das WGSN keinen Einblick in seine Kundenkartei oder sein Ideenportfolio, aus gutem Grund. „Unser Unternehmen kann ganz schön polarisieren. Fördert es Forschung und Kreativität in der Modeindustrie oder engt es den einzelnen Kreativen nur ein? Aus meiner Sicht liefern wir die Forschungsergebnisse, und unsere Kunden verfahren damit, wie sie wollen. Wenn sie selbst kreativ genug sind, brauchen sie sie nicht. Wenn nicht, wird unsere Recherche zum Motor des ständigen Neuerfindungsprozesses der Modewelt.“

Der Designer als herausragendes Orakel weiblicher (und männlicher) Modebedürfnisse ist ein Modell, das schon lange nicht mehr aktuell ist – auch wenn die Medien uns gern vom Gegenteil überzeugen möchten. Während die Modewelt in Nostalgie schwelgt – man denke nur an Marc Jacobs’ als „Retrospektive” getarnte Herbstkollektion 2010 – und so viele Schwarzmaler sich immer weiter vom Optimismus entfernen, fühlt sich eine Tour durch die Datenbank des WGSN wie ein erfrischender Ausflug in Willy Wonkas Schokoladenfabrik an: Hier ist zu lesen, dass bereits 2005 die Entwicklung von Augmented Reality in den Medien und im Einzelhandel diskutiert wurde; mit ihren Prognosen behalten sie in über 97 Prozent der Fälle Recht.

Aber es gibt Ästhetik, und es gibt ästhetische Streitfragen. Das WGSN hat ein Verständnis dafür entwickelt, doch seine Latenz in der breiteren kulturellen Öffentlichkeit erlaubt es ihm auch, sich am Rande der noch immer primär neokonservativen Agenda der meisten Marken aufzuhalten. Es ist einfach, sich der Kritik zu entziehen, wenn man es sich zur Aufgabe gemacht hat, Schicksale zu besiegeln. "Unsere Kunden denken mehr und mehr global, wir sprechen dennoch in einem stilistischen Modus der Branche", sagt Potter. "Er nimmt ortsspezifische Züge an, wenn es wirklich konkret um Politik geht, allerdings kommt Politik nur bei der Definition des Verbrauchers ins Spiel, nicht aber als eine politische Haltung."

Einfluss gesellschaftlicher Ereignisse

Inspire Africa Inspire, ein vor kurzem erschienener Report des WGSN, berichtet über den mutmaßlichen Einfluss der Fußballweltmeisterschaft 2010 auf die Modeindustrie, insbesondere Sportbekleidung, und ist ein gutes Beispiel für die ästhetische Abstraktion eines brisanten gesellschaftlichen Kontextes. Wenngleich „Inspire Africa Inspire” wie eine Losung und Lobpreisung klingt, verweigert sich der Titel zugleich jeder Interpretation. Der Report zeigt unter anderem Auftragsarbeiten des afroamerikanischen Künstlers Kehinde Wiley für Puma. Wileys Werke, bekannt für ihre kritische Kommentierung der Kunstgeschichte und der Black Culture, werden hier einfach zu Exponenten des Fußballs gemacht. „Das ist nun einmal der wunde Punkt der Mode, nicht wahr?” argumentiert Potter. „Sie wurde nie als authentisches Produkt der Kultur, als ein Träger von Moral betrachtet.”

Vielleicht ist es an zukünftigen Anthropologen, dies zu untersuchen. Der Vater des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss, sagte einst: „Seit einer ganzen Weile schon geht die Suche nach Korrespondenzen zwischen beobachteten Eigenschaften isolierter Artefakte und den potenziell erklärenden Merkmalen großer sozialer Landschaften vor sich, mit wenig Sinn und Verstand.” Das Netzwerk der WGSN-Forscher und deren unübertroffenes Archiv mögen zukünftigen Anthropologen dabei helfen, solche Korrespondenzen tatsächlich aufzuspüren.

"Man könnte durchaus sagen, dass wir hier ein Artefakt der Zukunft herstellen", sagt Potter. "Unsere Archive sind uns aber nicht so wichtig. Wir blicken nicht zurück; wir benutzen sie lediglich um sicherzustellen, dass wir nichts wiederholen. Letztlich befindet sich das wirklich Gute immer in einem stetigen Wandel."

Dieser Artikel wurde ursprünglich für DERZEIT Fashion Week Berlin Daily verfasst und in einer Beilage der Print-Ausgabe des Freitag vom 07. Juli 2010 veröffentlicht. Mehr Informationen zur Fashion Week in Berlin gibt es hier.

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Übersetzung aus dem Englischen: Therese Hopfmann

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