Der Bürgerkrieg war noch nicht entschieden, die Volksrepublik existierte noch nicht, als Mao Zedong im Jahr 1945 dem 7. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas ein Märchen erzählte. Es war das alte Gleichnis vom närrischen Alten Yü Gung, der beschließt, die zwei Berge vor seiner Haustür abzutragen. Ein anderer Greis namens "Weiser Alter" lacht ihn aus, denn das Vorhaben ist offensichtlich unmöglich. Aber Yü Gung macht sich unverdrossen an die Arbeit. "Das rührte Gott, und er schickte zwei seiner Boten auf die Erde, die beide Berge auf dem Rücken davontrugen", heißt es in der Geschichte, die Mao nun folgendermaßen auslegte: Die Berge seien der Feudalismus und der Imperialismus, der närrische Alte entspricht der kommun
munistischen Partei - und Gott? "Unser Gott ist niemand anders als die Volksmassen Chinas. Wenn sich das ganze Volk erhebt, mit uns gemeinsam diese Berge abzutragen, sollten wir sie da etwa nicht abtragen können?"Der Narr ist weise und der Weise dumm - was mögen die versammelten Kader gedacht haben, als ihr frisch gewählter Parteivorsitzender ihnen dieses mystische (daoistische, nicht maoistische) Gleichnis präsentierte? Mit der Geschichte vom närrischen Alten lässt sich der Maoismus recht gut charakterisieren. Nicht der Glaube versetzt Berge, sondern Opferbereitschaft und Anstrengung. Mao und seine Anhänger zeigten schon damals, lange vor der Kulturrevolution, eine fatale Neigung zum Voluntarismus.In dem neuen Sammelband über Ideengeschichte und revolutionären Geist des Maoismus ist die schöne Geschichte von Yü Gung leider nicht enthalten, dafür aber viele andere aufschlussreiche Texte, vom Großen Vorsitzenden selbst und von einigen seiner Anhänger. Der Band ist klar und sinnvoll gegliedert und die beste Veröffentlichung über die chinesische Revolution seit langer Zeit. Deer Herausgeber Felix Wemheuer ist zwar durchaus kritisch, aber er denunziert den Mann nicht. Mao Zedong erscheint hier weder als machtbesessener Dämon, noch als Held. Stattdessen werden seine Konzepte historisch eingeordnet.Als marxistischer Theoretiker war Mao sicher kein Genie (übrigens auch nicht als Militärstratege, wie Wemheuer en passant klar macht). Was also bleibt vom "Maoismus"? Nicht viel. Interessant ist er aus historischen Gründen. Die chinesischen Kommunisten teilten das Problem der Bolschewisten - Bauern, nicht die Proletarier waren das entscheidende Subjekt der Revolte. Maos Genie glich dem Lenins auch insofern, als dass beide mit den Vorstellungen von Karl Marx brachen und den Übergang von einer feudalistischen zu einer sozialistischen Gesellschaft für möglich hielten - wohlgemerkt: unter der Führung einer kommunistischen Partei. Im Gegensatz zu Lenin war Mao aber klar, dass diese Modernisierung mittelfristig auch dem Kapitalismus den Weg bereiten könne. Theoretisch wie praktisch suchte er nach einer Antwort auf die Gefahr einer "kapitalistischen Restauration". Immer wieder mobilisierte er die "Massen" gegen die Bürokratisierung innerhalb seiner Partei und gegen die "Machthaber des kapitalistischen Weges", wie es später in der Kulturrevolution hieß.Gerade der Gedanke einer Revolution in Permanenz machte den Maoismus für die Neue Linke in Europa und Nordamerika attraktiv. Sie interpretierte Mao anti-stalinistisch, als Gewaltkur gegen das Verknöchern der Revolution - ein produktives Missverständnis. So lobte im Jahr 1970 die italienische Zeitung Il Manifesto, die chinesischen Revolutionäre hätten die Vorstellung einer Revolution in zwei Etappen - vom Sozialismus zum Kommunismus - überwunden und setzten deshalb "auf eine parallele Beschleunigung der strukturellen und politischen Transformation": "Die chinesische Revolution greift die Produktionsverhältnisse und die Produktionsweise an, betont die Frage der Egalität, kritisiert die Hierarchie, welche durch die gesellschaftliche Teilung der Arbeit entsteht, verneint die vermeintliche Neutralität von Wissen und Technik." Die entsprechende Parole "Die Politik nimmt das Kommando!" fand nach 1968 auch im Westen zahlreiche Anhänger, darunter erstaunlich viele Intellektuelle, die heute Redaktionen, Parteizentralen, hier und da sogar sogar Unternehmensvorstände bevölkern. "Vielleicht ist auf dem Gebiet der Theorie der falsche, im Westen konstruierte Mao interessanter als der echte Mao", schreibt Wemheuer. In seinem Buch finden sich Texte des französischen Ökonomen Charles Bettelheim, der italienischen Linken Rossana Rossanda und auch die Mitschrift einer Diskussion von 1971 über Volksjustiz durch die Gerichte oder die Massen?. Es diskutierten damals Benny Lévy, der damalige Vorsitzende der französischen maoistischen Partei "Gauche Prolétarienne", und ein gewisser Michel Foucault - ein in jeder Hinsicht merkwürdiges Dokument.Lévy und Foucault debattieren die (bedenkenswerte) Frage, welche Rolle das bürgerliche Recht und die Justiz in einer Übergangsgesellschaft spielen können. Es geht mithin um revolutionäre Gewalt, und Lévy ist merklich unwohl dabei, diese der Spontaneität der Massen zu überlassen. "In einem Land wie Frankreich" werde man "wahrscheinlich" nicht alle Unternehmer hinrichten, sagt er, "mit den vielen kleinen und mittleren Unternehmen würde das zu viele Leute ausmachen." Und der Philosoph, der große Foucault? Er widerspricht: "Die Massen werden eine Art und Weise finden, mit ihren Feinden abzurechnen." Jeder Versuch, die revolutionäre Gewalt in der Form des bürgerlichen Rechts einfangen zu wollen, sei falsch. Auf die konkrete Situation in China geht er wohlgemerkt nicht ein. Nach Schätzungen wurden in der Kulturrevolution zwischen 750.000 und anderthalb Millionen Menschen umgebracht. Das Dokument zeigt eindrucksvoll, was die chinesische Revolution für die westlichen Intellektuellen vor allem anderen war: Projektionsfläche.Felix Wemheuer (Hg.)Maoismus: Ideengeschichte und revolutionärer Geist. Edition Linke Klassiker. Promedia. Wien 2008, 176 S., 12,90 EUR