Etwa 4,2 Millionen Menschen arbeiten hierzulande im Gesundheitssektor; der jährliche Umsatz beträgt über zweihundert Milliarden Euro. Wie viel von dem Geld allerdings seinen Zweck nicht erfüllen kann, weil es durch Betrug, Missbrauch und Korruption verschleudert wird, lässt sich nur schätzen. Amerikanische und britische Experten gehen davon aus, dass es in ihren Ländern zwischen drei und zehn Prozent der Ausgaben sind. Für Deutschland hieße das: Zwischen sechs und zwanzig Milliarden Euro landen zweckentfremdet in privaten Taschen.
Diese Zahlen finden sich in der diesjährigen Ausgabe des Jahrbuchs Korruption, herausgegeben von Transparency International (TI), einer Organisation, die sich der Bekämpfung von Korruption in Politik und Wirts
Politik und Wirtschaft widmet. Seit 1996 erscheinen die weltweiten Bestandsaufnahmen, das Schwerpunktthema diesmal: Bestechung und Vorteilnahme im Gesundheitswesen. Die Versorgung von Kranken ist besonders korruptionsanfällig, auch weil Informationen grundsätzlich ungleich zwischen Ärzten, Patienten und Staatsbeamten verteilt sind: "Ärzte haben mehr Informationen über Krankheiten als Patienten, Pharmaunternehmen und Hersteller medizinischer Geräte wissen mehr über ihre Produkte, als die Amtsträger, die über die Ausgaben entscheiden." Diese notorische Intransparenz verleitet. Dazu kommt, dass in vielen Ländern des Südens Löhne gezahlt werden, von denen sich kaum leben lässt.Aber auch im Norden ist Korruption verbreitet. Hier bescheinigt TI dem deutschen Gesundheitssystem, es sei, auch im Vergleich mit anderen Ländern, äußerst undurchsichtig. Geprägt von einem Dschungel gegenseitiger Abhängigkeiten, sei Korruption daher strukturell angelegt: "Bei der Korruptionsbekämpfung ist Deutschland Entwicklungsland." Hart geht die Anti-Korruptionsorganisation ins Gericht mit der Selbstverwaltung durch Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen. Als öffentlich-rechtliche Körperschaften unterstehen sie der Rechtsaufsicht durch die Sozialministerien der Bundesländer, die regelmäßig davor zurückscheuen, sich mit den einflussreichen Ärzteorganisationen oder gar der Pharmaindustrie anzulegen. Anke Martiny von der TI-Arbeitsgruppe "Korruption im Gesundheitswesen": "Die Aufsicht ist gegenüber der hartnäckigen Vetternwirtschaft zu zögerlich."Die Anti-Korruptionsorganisation verteilt den Tadel einigermaßen gleichmäßig auf alle Akteure im Gesundheitswesen, auf Patienten wie Ärzte, ermahnt die gesetzlichen Krankenkassen ebenso wie die Pharmaindustrie. Aber natürlich kann derjenige besonders großen Schaden anrichten, der Zugang zu den Ressourcen hat oder ihn kontrolliert. Das gilt besonders für die Ärzte, deren Abrechnungen durch die Kassen kaum nachvollzogen werden. Seit Jahren sollen ihre Leistungen durch immer neue Systeme verbilligt werden. Um Einkommenseinbußen abzuwenden, rechnen viele unnötige, aber nicht budgetierte beziehungsweise gar nicht erbrachte Leistungen ab. TI spricht von einer systematischen Fehlsteuerung des Abrechnungssystems: "Wichtige ärztliche Maßnahmen unterbleiben, weil sie sich nicht lohnen; unwichtige oder überflüssige werden durchgeführt." Niedergelassene Ärzte sind Freiberufler, daher gelten für sie nicht die Antikorruptionsrichtlinien des öffentlichen Dienstes, und gesetzlich Versicherte bekommen die Rechnung an die Kasse gar nicht zu Gesicht.Außerdem sind Arzneimittel, Medizinprodukte und andere medizinische Leistungen in der Schweiz und Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern deutlich teurer. Da liegt es nahe, sie aus dem Ausland einzuführen, aber zu den hier gültigen Tarifen abzurechnen. Konsequenzen müssen Betrüger selbst in Fällen mit beachtlicher krimineller Energie nicht fürchten. So betrieb die Firma Globudent zusammen mit 478 deutschen Zahnärzten ihren eigenen kleinen multinationalen Konzern: Die Modelle für den Zahnersatz wurden nach China geschickt, dort gefertigt und später den Kassen zu deutschen Preisen verkauft. Häufig bestechen Untersuchungslabore Ärzte, die ihnen dann Patienten zuschleusen.Eine korrumpierende Schlüsselrolle spielen die Arzneimittelhersteller. Was die Pharmaindustrie tut und lässt, gilt als Betriebsgeheimnis; ihre Einflussnahme auf Ärzte, Gutachter und zunehmend auch Selbsthilfegruppen wird kaum kontrolliert. Rezeptpflichtige Medikamente dürfen bekanntlich nicht beworben werden, weshalb die Patientengruppen für die Pharmaindustrie zu attraktiven, weil vorgeblich unabhängigen Werbeträgern werden. Besonders ärgern TI die so genannten "Anwendungsbeobachtungen", eine legale Praxis, die kaum etwas von Bestechung unterscheidet: Die Herstellerfirma zahlt dem Arzt ein Entgelt für jeden Patienten, dem dieses Medikament verschrieben wurde, um angeblich die Effekte dieses Medikaments weiter zu erforschen, in Wirklichkeit aber, um den Umsatz zu steigern.In den vergangenen Jahren spüren die Arzneimittelhersteller immer stärkeren Kostendruck. Sie investieren daher weniger in langfristige und teure Forschungsprojekte, sondern vermarkten lieber mit enormen Werbeetats kaum veränderte Generika. Die Kosten ihres Marketings im Verdrängungswettbewerb können sich internationale Pharmakonzerne in Deutschland sogar zum Teil als Entwicklungskosten bezahlen lassen. Peter Schönhofer von TI beschreibt den Zusammenhang so: "Die Industrie passt die Produktion der Vermarktung an, nicht umgekehrt. Ihre Scheininnovationen drückt sie mit gewaltigem Aufwand in den Markt, indem sie die Meinungsbildner kauft."Zulassungsverfahren für Medikamente sind selbst für medizinische Experten kaum nachzuvollziehen. Eine zentrale Forderung von TI lautet daher: "Eine öffentliche Datenbank mit den Protokollen und Ergebnissen aller klinischen Studien muss aufgebaut werden. Die Berichterstattung der Pharmaindustrie über klinische Studien sowie die Offenlegung aller finanziellen Beiträge von Pharmaunternehmen für medizinische Forschungseinrichtungen muss verpflichtend gemacht werden." Ob sich unter den deutschen Politikern Freiwillige finden, die diese Forderung demnächst im Parlament vertreten?