Ganz schön neoliberal

Buch Das „Schwarzbuch Deutschland“ beobachtet die Lage der Nation. In seiner Ausrichtung entspricht es exakt dem politischen Horizont der parlamentarischen Restlinken

Jeder fünfte junge Deutsche ist nach offizieller Definition arm. Zählt man die Inländer ohne deutsche Staatsbürgerschaft hinzu, sind es noch einmal deutlich mehr. 6,5 Millionen Menschen verdienen nur einen Niedriglohn; das entspricht 22 Prozent aller Beschäftigten. Gegenüber 1995 ist ihre Zahl um 43 Prozent gestiegen.

Seitdem Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt wurden, steigt der Zahl derer, die arbeiten und zusätzlich Arbeitslosengeld II erhalten: Mittlerweile sind 21 Prozent der Hartz-IV-Empfänger erwerbstätig. Drei Viertel von ihnen haben ihre Berufsausbildung oder ihr Studium abgeschlossen. Der Stundenlohn von Frauen liegt im Schnitt 22 Prozent niedriger als der von Männern.

Diese Tatsachen müssen jeden empören, dem an gesellschaftlicher Gleichheit etwas liegt. Das sollen sie auch. Das Schwarzbuch Deutschland – Handbuch der vermissten Informationen, in dem sie versammelt sind, macht aus seiner Parteilichkeit kein Geheimnis. „Die politische Agenda der Bundesrepublik Deutschland beruht vielfach auf krassen Fehlinformationen, Halbwahrheiten, Einseitigkeiten und Versatzstücken neoliberaler Propaganda“, schreiben die Herausgeber, die Kölner Journalisten Gabrielle Gillen und Walter van Rossum. Dieser Agenda der politischen Klasse wollen sie Fakten und Zusammenhänge entgegen setzen, „Gegenöffentlichkeit herstellen“.

Die „alphabetisch sortierte Lagebeschreibung des Landes“ ist mehr oder weniger wie ein Lexikon aufgebaut. Insgesamt 39 gesellschaftspolitische Felder werden beschrieben, von „Altersvorsorge“ bis „Kinder und Familie“, von „Armut und Reichtum“ bis „Rüstungspolitik“. Viele Autoren sind Experten auf dem Feld, das sie darstellen. Der Kölner Politikprofessor Christoph Butterwegge beschreibt den Zustand des „Sozialstaats“ und kritisiert die Sozialstaatskritik von rechts, der Journalist Werner Rügemer schreibt über „Korruption“, Gerd Bosbach über „Bevölkerungsentwicklung“.

Art und Güte der Artikel unterscheiden sich deutlich. Nicht alle Autorinnen und Autoren nehmen die Idee mit dem Lexikon ernst und sorgen entsprechend für Querverweise. Teilweise stellen sie prägnante Einzelfälle beispielhaft heraus. Da kommt es öfter mal zu Überschneidungen, und viele Beiträge nehmen die Form von Leitartikeln an, die kaum etwas enthalten, was der gefestigte Linke nicht ohnehin schon einmal gehört hätte. Um „verschwundene Informationen“ handelt es sich jedenfalls nicht, worauf die Herausgeber auch selbst hinweisen, eher um unbeachtete.

Dabei hätte es brillant werden können – eine dichte Beschreibung dieses Landes, ein alternatives data mining. Aber in Auswahl und Argumentationsstruktur folgt dieses Buch leider oft der neoliberalen Agenda – nur eben seitenverkehrt: Empören die einen sich über Sozialbetrug, tun die anderen es über Managergehälter, sagen die einen Globalisierung, sagen die anderen Binnennachfrage, die einen wollen mehr Markt und die anderen mehr Staat.

Die Unterschicht ist gespalten

Insgesamt entspricht die Ausrichtung exakt dem politischen Horizont der parlamentarischen Restlinken. „Irgendwas läuft falsch in einer Demokratie, in der 95 Prozent des Parlaments dem Neoliberalismus huldigen“, heißt es im Vorwort dieses „Buchs zum Wahljahr 2009“ – Der Leser kann sich denken, wer mit den übrigen fünf Prozent gemeint ist, und nimmt die Empfehlung für die kommende Bundestagswahl zur Kenntnis.

„Die Parteien haben sich – bis auf eine Ausnahme – gegen die Bürger zusammengeschlossen“, schreiben Gillen und van Rossum. Das klingt gut, wird aber der Lage und ihrem Ernst nicht gerecht. Es steht hierzulande nicht eine neoliberale Elite dem Rest der Gesellschaft gegenüber, sondern die Unterschicht dieses Landes ist auf vielfältige Weise gespalten, in (noch) Beschäftigte und Arbeitslose, in Deutsche und Migranten, in Modernisierungsgewinner und prekäre Existenzen.

Das nicht unter den Teppich zu kehren, hätte weh getan, aber dafür hätte man die deutschen Verhältnisse realistisch, in ihrem ganzen Elend gezeigt. Aber für Widersprüche ist leider in den meisten Artikeln kein Platz. Besonders deutlich wird das, wo es unangenehm wird. Der Beitrag über die deutschen Gewerkschaften beispielsweise geht über deren konzept-, weil prinzipienlose Politik großzügig hinweg. Wie passt es zusammen, die Regierung Schröder mit ins Amt zu hieven, über die Hartz-Gesetze zu verhandeln und sich dann zu beschweren, dass man keine Kampfkraft mehr hat?

Der Autor Hans-Jürgen Arlt geht denn auch auf die Geschichte der „Arbeitnehmervertretung“ dieses Landes nur ganz, ganz allgemein ein und macht stattdessen als zentrales Problem aus, „dass die Gewerkschaften ihre Gründungs- und Kampfgeschichte ideologisch fortgeschrieben und die bedrohlich-konfliktorischen Aspekte des Arbeitsverhältnisses ... einseitig hervorgehoben haben.“ Die deutschen Gewerkschaften träten demnach nicht positiv genug auf! Das ist eine der wenigen originellen Stellen dieses Buch.

Das ist nicht ganz gerecht. Andere Kapitel lösen den Anspruch, einen kritischen Überblick über das Thema zu liefern, durchaus ein, etwa der über die deutsche „Asyl- und Ausländerpolitik“ oder „Rechtsstaat“. Als komprimierte Faktensammlung und Geschenk an die FDP-wählende Tante taugt dieses „Schwarzbuch Deutschland“ auf jeden Fall.

Schwarzbuch Deutschland: Das Handbuch der vermissten Informationen Gabrielle Gillen / Walter van Rossum, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009, 650 S., 24,90

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