Die innere Unsicherheit

Das Ende vom Traum der Planbarkeit Mit dem Anschlag auf die Olympischen Spiele am 5. September 1972 forderten internationale Terroristen erstmals die bundesdeutsche Politik heraus

Der damals führende amerikanische Terrorismusexperte, Brian M. Jenkins, schätzte 1980, dass die siebziger Jahre wohl als "Dekade des Terrorismus" in die Geschichte eingehen würden: "Es gab Kriege: Guerillakriege, Bürgerkriege und ausgewachsene militärische Konflikte. Es gab verrückte Bombenleger, Massenmörder und Massensuizide. Es war aber dennoch der politische Terrorist, der die Schlagzeilen der Ära dominierte."

In Westdeutschland wurden die terroristischen Schlagzeilen vom "Deutschen Herbst" beherrscht, der im kollektiven Gedächtnis fast alles Vorherige zum Thema Terrorismus verdrängt hat. Dabei lohnt sich ein unverstellter und nicht ausschließlich auf den Linksterrorismus fokussierter Blick auf die Anfänge terroristischer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa durchaus, denn Wahrnehmung und Regierungshandeln sollten sich in den frühen siebziger Jahren drastisch wandeln.

Vor genau 35 Jahren, hielt der so genannte "internationale Terrorismus", anlässlich der Olympischen Spiele in München für die ganze Welt sichtbar, Einzug in Westdeutschland. Ziemlich unerwartet war die Bundesrepublik Schauplatz des ausstrahlenden Nahostkonflikts geworden. Der offenbar ungerührte Außenminister und spätere Bundespräsident Walter Scheel notierte tags darauf knapp: "Das Leben geht weiter!" Aus heutiger Sicht fast unvorstellbar, spielte der grenzüberschreitende Terrorismus in der zwei Monate später stattfindenden Bundestagswahl keine Rolle mehr.

Palästinensische Terroristen der Gruppe "Schwarzer September" (deren finanziellen Transaktionen, so wird neuerdings vermutet, vom Schweizer Bankier Francois Genoud gemanagt worden sein sollen) nahmen am 5. September 1972 elf israelische Sportler als Geiseln. Sie verlangten die Freilassung von 200 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen. Die deutsche Bundesregierung und die - formal zuständige - bayerische Landesregierung befanden sich in einem Dilemma: Die israelische Regierung unter Golda Meïr lehnte ein Nachgeben kategorisch ab. Eine Stürmung der Sportlerunterkunft war praktisch nicht möglich. In letzter Minute und mit nur fünf Scharfschützen eröffnete die bayerische Polizei das Feuer auf die acht Terroristen. Während Regierungssprecher Conrad Ahlers im Fernsehen erklärte, dass die Geiselbefreiung geglückt sei, waren nach langen Schusswechseln in Wirklichkeit alle elf Geiseln, ein Polizeibeamter und fünf der Terroristen ums Leben gekommen. Die betont "heiter" geplanten Olympischen Spiele, die der Welt ein neues, unverkrampftes und von aller Gewalt geläutertes Deutschland zeigen sollten, wurden zwar nicht abgebrochen, die Flaggen auf Halbmast aber fanden Eingang in das kollektive Gedächtnis.

Der Traum gesteuerter Zukunftsbewältigung

Die Bonner Republik hatte 1972 schon Jahre zunehmend bewaffneter Auseinandersetzung mit protestierenden Studenten und Linksterroristen hinter sich. Ausgehend vom Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 durch Berliner Polizeikräfte radikalisierte sich die Linke schrittweise. Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen, Vietnamkriegsproteste, die gewaltsame Gefangenenbefreiung Andreas Baaders 1970, Sprengstoffanschläge auch auf alliierte Einrichtungen, Schießereien und Banküberfälle waren Meilensteine auf dem Weg in eine immer bedrohlicher werdende innere Unsicherheit.

Die Verwirklichung des Traums einer gesteuerten Zukunftsbewältigung wurde mit massiven finanziellen und personellen Verstärkungen der Bundessicherheitsbehörden vorangetrieben. Die umfassende Computerisierung wurde Kernelement einer neuen, inneren Sicherheit. Kaum jemand ahnte, dass die Festnahmen vom Sommer 1972 erst der Auftakt waren. Auch deshalb waren die Spitzenpolitiker angesichts des Anschlags auf die Olympischen Spiele und nahender Bundestagswahlen wenig geneigt, diese Erfolge wieder in Frage zu stellen. Zudem waren durch die föderal übergreifenden Entscheidungsstrukturen Politiker fast aller Parteien in den Ausgang der Ereignisse von München eingebunden. Somit bot sich kaum Potential für ein erfolgreiches Wahlkampfthema.

Politisch ging das Leben tatsächlich weiter wie bisher. Beamte und Politiker waren ohne Zweifel geschockt, Handlungsimpulse gab es aber kaum. Zwar wurde die Gründung einer Spezialeinheit - der GSG 9 - beschleunigt umgesetzt, zahlreiche Palästinenser, so die internationale Kritik damals, in "Nacht-und-Nebel-Aktionen" des Landes verwiesen und zwei bezugsferne palästinensische Organisationen verboten. Eine grundsätzliche Klärung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, zwischen den vielen formal involvierten Bundesressorts, insbesondere zwischen Innen- und Außenministerium blieb aus. Eine Restrukturierung der anlässlich der sowjetischen Intervention in der CSSR 1968 entwickelten Krisenmechanismen fand nicht statt. Übrigens sahen diese schon damals die Einbeziehung der Oppositionsführer vor, so dass die berühmten "Großen Lagen" beim Bundeskanzler im "Deutschen Herbst" zumindest von der Idee her kein Novum waren.

Ein Stück staatlich sanktionierter Anarchismus

Als es 1972, nur Wochen nach der Geislnahme während der Olympischen Spiele, erneut zu einem Anschlag kam, traf dieser die Krisenstäbe fast ebenso unvorbereitet. Am 29. Oktober 1972 entführten palästinensische Terroristen ein Flugzeug der Lufthansa von Beirut nach Zagreb, um die drei überlebenden Terroristen des ersten Anschlags freizupressen. Auch bedingt durch Kommunikationsprobleme zwischen den vielen Stäben und mangelnden Handlungsspielraum jenseits des Eisernen Vorhangs gaben die Bundesregierung und die bayerische Landesregierung nach und ließen mit den drei Terroristen auch die letzten Handlungspflichten ziehen. Günter Gaus schrieb im Spiegel von "ein[em] Stück staatlich sanktionierte[n] Anarchismus" und kritisierte, wie sehr der Austausch "vom erleichterten Aufatmen [...] begleitet worden" war.

Während in Nahost "die Presse tobe", so der deutsche Botschafter in Tel Aviv, - von "München bei Dachau" sei gar die Rede in Israel und der arabischen Welt -, berührte das die deutsche Politik wenig. Golda Meïr entließ führende Beamte für das Versagen des Sicherheitskonzepts, im arabischen Raum wurden deutsche Botschaften besetzt und Massenkundgebungen abgehalten, in Deutschland blieb alles beim Alten. Die USA strengten multilaterale Verhandlungen und eine - tatsächlich noch immer andauernde - Debatte vor der UNO an, der Bundesrepublik gelang es außer einigen Absichtserklärungen über Jahre hinweg nicht einmal, eine europäische Innenministerkonferenz zu organisieren. Dem Innenministerium fehlte die außenpolitische Erfahrung, dem Außenministerium die Fachkompetenz, und beiden letztlich auch der Wille.

Damit stand die Bundesrepublik aber nicht allein. Viele Länder, Frankreich, Österreich, die Niederlande, Schweden, folgten einer Politik der Nachgiebigkeit gegenüber Terroristen, um unmittelbaren Schaden abzuwenden und wohl in der Hoffnung, die Ereignisse würden einmalig bleiben. Natürlich wussten die damaligen Fachexperten, dass die Lage weitaus komplizierter und beunruhigender war, als dass sie sich mit der Festnahme der RAF-Führer hätte lösen lassen können. Nicht nur gab es zahlreiche gewalterprobte Nachbargruppen, auch hatten sich die RAF-Spitzen früh einer militärischen Ausbildung in den jordanischen Lagern der palästinensischen Fatah unterzogen. Zudem gewährten auch Länder des Warschauer Paktes, etwa die DDR, im Westen gesuchten Terroristen Unterschlupf. Die transnationale Vernetzung und staatliche Duldung der Terroristen war bekannt, wurde jedoch erst nach dem 11. September 2001 ein politisches Thema. Doch schon in den frühen siebziger Jahren nahm die Dimension des globalen Terrorismus ungekannte Ausmaße an. Die Zahl der Flugzeugentführungen stieg Ende der sechziger Jahre exponentiell, aktiv waren kroatische, armenische, kurdische, persische, japanische oder süd-molukkische Gruppierungen, deren Ziel es war, gerade in Drittländern politischen Einfluss für ihre Sache auszuüben.

Transnationaler Terrorismus und nationale Denkräume

Die mangelnde Aufmerksamkeit für die Gefahren durch den transnationalen Terrorismus hat, so zeigen es neuere Forschungen, aber auch etwas mit der Wahrnehmung der unterschiedlichen Terrorismen zu tun. In Westdeutschland wurde der über die Grenzen operierende Terrorismus stets als nachgeordneter Teil des viel gravierender empfundenen nationalen - und das heißt des linksradikalen - Terrorismus empfunden. Sicherheit als politischer Begriff konnte viele Schattierungen haben: wirtschaftlich, sozial, ökologisch, militärisch. Innere Sicherheit und Linksterrorismus aber gehörten in Westdeutschland untrennbar zusammen. Für transnationalen Terrorismus blieb, auch angesichts mangelnder Erfahrungswerte, kein eigener politischer "Denkraum". Ein Blick nach Österreich, das in den frühen siebziger Jahren ebenfalls mehrere terroristische Anschläge vor allem von Palästinensern begegnen musste, zeigt, dass angesichts des Fehlens starker nationalterroristischer Strukturen die Wahrnehmung und internationale Bekämpfung des transnationalen Terrorismus eine sehr viel schärfere war.

Nach den Olympischen Spielen waren es zunächst wieder kleinere Anschläge und Banküberfälle verschiedenster Gruppen, die die deutschen Sicherheitsbehörden beschäftigten. Viele Medien riefen 1975, angesichts weltweiter Anschläge, beispielsweise auf die OPEC-Ministerkonferenz in Wien, das "Jahr des Terrorismus" aus, das auch in Deutschland ein Novum mit sich brachte. Kurz vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Februar 1975 wurde der aussichtsreiche CDU-Kandidat Peter Lorenz von der "Bewegung 2. Juni" entführt, die kurz zuvor den Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann ermordet hatte. Möglicherweise war dies sogar die erste Politikerentführung der Neuzeit.

Eine Woche später hatten die Terroristen ihr Ziel erreicht: Die Krisenstäbe der Bundes- und Landesregierungen gaben nach und ließen fünf inhaftierte, wenn auch nicht führende Linksterroristen in das sozialistische Süd-Jemen ausfliegen. Angeblich war die Aufnahme in Süd-Jemen vorab über palästinensische Mittelsmänner arrangiert worden. Peter Lorenz kam unverletzt frei und hatte in Abwesenheit die Stimmmehrheit für die CDU in Berlin errungen.

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung spielte Bundeskanzler Helmut Schmidt nur eine nachrangige Rolle in der Entscheidungsfindung in den Krisenstäben. Wortführer waren vielmehr die Länder, dominiert von Helmut Kohl, der mit Peter Lorenz privat eng befreundet war und Klaus Schütz, der seinen politischen Rivalen in Berlin nicht opfern konnte. Die neue Strategie der Entführer, nur über die Medien zu kommunizieren, ließen diesen Anschlag zu einem beispiellosen Erfolg für die Terroristen werden.

Als 1977 die linksterroristische Gewalt im Deutschen Herbst und der Ermordung von Siegfried Buback, Jürgen Ponto, und Hanns-Martin Schleyer ihren Höhepunkt fand, konnte die Bundesregierung, anders als 1972, auf Erfahrungswerte im Krisenmanagement zurückgreifen. Jedoch war der Traum der Planbarkeit und vorausschauenden Beherrschung von Unregelmäßigkeiten, der Anfang der siebziger Jahre noch das Regierungshandeln bestimmt hatte, längst zerplatzt. Aus einer Sicherheits- war längst eine Unsicherheitsgesellschaft geworden. Ökonomische und soziale Veränderungen trugen dazu bei, Gewissheiten zu zerstören. Die hoch emotionalen Terrorismusschocks waren jedoch prägend für eine Gesellschaft der "inneren Unsicherheit", die bis heute fortbesteht.

Matthias Dahlke ist Historiker und arbeitet derzeit an einer Studie zu staatlichen Reaktionen auf transnationalen Terrorismus in Westeuropa.


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