A
Amerika Bis 1914 gab es in den USA Hunderte deutschsprachige Zeitungen und muttersprachlichen Unterricht für Kinder deutscher Auswanderer. Nach dem Kriegseintritt der USA 1917 wurde Deutsch sogar als Fremdsprache an höheren Schulen abgeschafft, und Präsident Woodrow Wilson verdächtigte Menschen, die sich als Deutsch-Amerikaner bezeichneten, nur illoyale „hyphenated Americans“ (Bindestrich-Amerikaner) zu sein. Den Bindestrich nannte Wilson einen Dolch, den die unzuverlässigen Elemente den USA in den Rücken stoßen würden. Es kam sogar zu Lynchjustiz: Zahlreiche „Germanisten“ wurden geteert und gefedert und der in Dresden geborene Gelegenheitsarbeiter und Sozialist Robert P. Prager von einem Mob als „Verräter“ gehenkt.
Die deutsche Sprache war damit in den USA nicht von einem Tag auf den anderen ausradiert (➝ Zukunft), doch sie erholte sich nie wieder von den Kampagnen in den Jahren 1917 und 1918.
B
Berlin Im Zuge der antigermanischen Hysterie kam es in den alliierten Ländern auch zu zahlreichen Umbenennungen. Am bekanntesten sind die Fälle von St. Petersburg, das auf Befehl des Zaren schon 1914 zu Petrograd wurde, und des englischen Königshauses Saxe-Coburg and Gotha, das seinen Namen 1917 zu Windsor änderte. Aber es gab viel mehr solcher Neu-Taufen. Australische Berge und Flüsse oder französische Straßen waren davon genauso betroffen wie amerikanisches Fastfood und bestimmte Hunderassen.
Erst ab 1917 setzte sich in den USA die Bezeichnung „Hot Dog“ gegen das ältere „Frankfurter“ durch. Der tragischste Fall ist Berlin in Kanada, das unter dem Druck (➝ Grabenkämpfe) einer als Besatzung in die Stadt gelegten Soldateska 1916 nach einer Volksabstimmungs-Farce in Kitchener umbenannt wurde.
E
Expansion Bis 1914 war Deutsch eine expandierende Sprache. Einerseits räumlich: Sie dehnte ihren Geltungsbereich im östlichen Europa (➝ Osten) immer weiter aus – teils durch mehr oder weniger freiwillige Assimilation, teils durch Zwangsmaßnahmen – und sie wurde in den afrikanischen und pazifischen Kolonien des Reichs an den Schulen gelehrt und in Pidgin-Varianten zur Kommunikation mit den Einheimischen genutzt.
Andererseits, was ihre Geltung in Wissenschaft und Kultur betraf: Nicht nur Wörter wie „Übermensch“, „Kindergarden“ oder „Zeitgeist“ im Englischen zeugen vom deutschen Kulturexport,sondern auch zahlreiche Fachausdrücke beispielsweise der Chemie und des Bergbaus. Durch den Ersten Weltkrieg wurde diese Ausbreitung gestoppt. Es begann, sowohl was die Verbreitung als auch was die Geltung des Deutschen betrifft, ein Schrumpfungsprozess, den wir gemeinhin erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Verbindung bringen. Kurzfristig profitierte davon das Französische, langfristig wurde der (auch durch andere Faktoren begünstigte) Aufstieg des Englischen zur globalen Lingua Franca eingeleitet.
G
Grabenkämpfe Wir benutzen heute noch viele Wörter, die im Ersten Weltkrieg geprägt wurden, oft ohne im Geringsten noch ihre vormalige militärische Bedeutung zu kennen: „Grabenkämpfe“ – heute meist als politische Metapher, „Burgfrieden“ für einen vorübergehend beigelegten Konflikt (Vorbild war das Stillhalteabkommen zwischen den Beharrungskräften des Kaiserreichs einerseits und der SPD andererseits nach Ausbruch des Krieges).
Aus dem U-Boot-Krieg (➝ Amerika) stammen „auf Tauchstation gehen“ und „abtauchen“. Der Luftkrieg hat uns „verfranzen“ fürs Verirren beschert, denn der für die Navigation zuständige Flieger wurde „Franz“ genannt.
H
Hochdeutsch Wenn heute Schweizer ihren Dialekt als nationales Symbol hochhalten und selbst in gebildeten Zirkeln (➝ Wissenschaft) des Landes ganz selbstverständlich Dialekt gepflegt wird, hat das auch mit dem Ersten Weltkrieg zu tun.
Vor allem in der Ostschweiz mit ihrer Metropole Zürich war Hochdeutsch als Umgangssprache um 1900 schon schier allgegenwärtig. Das änderte sich von 1914 an: Die zahlreichen deutschen Gastarbeiter, die die Sprachlandschaft der Eidgenossenschaft mitgeprägt hatten, kehrten ins Reich zurück. Und die Schweizer spürten das Bedürfnis, sich vom großen, aggressiven Nachbarn im Norden abzugrenzen. Es kam zur ersten „Mundartwelle“.
I
Italien Als Ergebnis der Niederlage Deutschlands und Österreichs gelangte ein Gebiet unter italienische Herrschaft, das seit dem Mittelalter von Bajuwaren besiedelt war und nie zu Italien gehört hatte: Südtirol. Die Annexion war das Ergebnis eines Geheimvertrages im Jahre 1915, mit dem Italien seinen Seitenwechsel aus dem Lager der Achsenmächte zu den Alliierten einleitete. Bald nach dem Krieg begann in Südtirol eine rabiate Italianisierungspolitik, die sich noch verschärfte, als 1922 Mussolinis Faschisten an die Macht kamen. Zahlreiche Orte und Berge, die nie zuvor italienische Namen getragen hatten, bekamen nun neue Bezeichnungen, und ganz allgemein sollte den Südtirolern die deutsche Sprache ausgetrieben werden. Wenn wir heute Speck aus dem Alto Adige essen, ahnen wir nicht, dass der Name „Oberetsch“ eine künstliche Schöpfung ist, die die Erinnerung daran auslöschen sollte, dass Tirol je zum deutschen Sprachraum gehörte.
K
Kafka Bei den Simpsons gibt es eine Halloween-Story, deren gruselige Handlung von Franz Kafkas Die Verwandlung inspiriert ist. Papa Homer verwandelt sich darin in ein Insekt. Am Schluss erscheint ein Schild, auf dem das Wort „konec“ steht, tschechisch für: „Ende“. Autor und Zeichner gingen davon aus, dass ein Schriftsteller, der in Prag lebte, auf Tschechisch geschrieben hätte. Dabei war Prag bis zum Kriegsende eine deutschsprachige Stadt gewesen: Hier residierten deutsche Kaiser (➝ Unserdeutsch), eine der ersten Bibelübersetzungen, die Wenzelsbibel, wurde hier angefertigt, und das Prager Deutsch galt lange Zeit als das schönste überhaupt. Tschechisch blieb lange zweitrangig, bis im 19. Jahrhundert der Sprachnationalismus aufflammte.
Auch nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei blühte noch die deutsche Kultur in Prag – wie ja gerade das Beispiel Kafka beweist. Aber es begann die Entwicklung, die 1945 mit der Auslöschung des Deutschen dort endete.
O
Osten Der Osten Europas war vor dem Ersten Weltkrieg bis zur russischen Grenze Einflussgebiet (➝ Expansion) der deutschen Sprache. Das galt für das Deutsche Reich, wo in West- und Ostpreußen Deutsch Pflichtsprache war, wie auch für Österreich-Ungarn, wo Deutsch die Kommandosprache des Militärs oder die Sprache des Wiener Reichstags blieb.
Vorreiter der deutschen Kultur waren übrigens sehr häufig Juden. Der im ost-galizischen Brody geborene Joseph Roth rühmte sich noch um 1930, seine deutschen Klassiker besser zu kennen als die Anhänger Hitlers. Nach 1918 schrumpfte durch die Abtrennung Westpreußens und das Auseinanderfallen Österreich-Ungarns der Wirkungsbereich der deutschen Sprache im Osten erheblich.
S
Sarrazin August 1914: „Mit Urgewalt hat sich die Erkenntnis durchgerungen, daß die unverfälschte Muttersprache des Deutschtums festestes Band, seine vornehmste und stärkste Stütze, seine unerschütterliche Grundfeste ist!“ Das Volk stand auf, der Sturm brach los – der Sturm auch wider „die Schänder der deutschen Edelsprache, wider das alte Erbübel der deutschen Fremdtümelei, wider alle würdelose Ausländerei, wider Engländerei und Französelei“.
Verfasst hat die Tirade Otto Sarrazin, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, der im Kriege seinen Kampf gegen Fremdwörter zur nationalen Raserei steigerte. Verdeutschungen (➝ Kafka) wie „Briefumschlag“ oder „Bahnsteig“ für „Couvert“ oder „Perron“ setzten sich erst in dieser Zeit durch.
U
Unserdeutsch Bis heute sprechen etwa 150 Menschen die einzige Kreolsprache auf der Basis des Deutschen. Das sogenannte Unserdeutsch entwickelte sich im Umfeld einer katholischen Missionsschule in Rabaul in der Kolonie Kaiser-Wilhelmsland (heute Neuguinea). Dort wurden vor allem mixed race Kinder unterrichtet. Da diese weder bei Weißen noch bei Papuas angesehen waren, heirateten sie oft untereinander und gaben ihr spezielles Deutsch als Muttersprache an ihre Kinder weiter. Nach der Unabhängigkeit Neuguineas gingen fast alle Unserdeutsch-Sprecher nach Ostaustralien, wo ein Germanist (➝ Wissenschaft) um 1970 diese bis dahin unbekannte Sonderform des Deutschen entdeckte.
W
Wissenschaft Bis 1914 war Deutsch eine Weltsprache der Wissenschaft. Die Höchstleistungen deutschsprachiger Forscher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Ruhm deutscher und österreichischer Universitäten hatten ihm diese Stellung beschert. Zwar konkurrierte es mit der alten Wissenschaftssprache Französisch und dem aufsteigenden Englisch,aber es gab weite Bereiche der Naturwissenschaften, in denen die wichtigsten Zeitschriften alle deutschsprachig waren und Deutschkenntnisse (➝ Hochdeutsch) unerlässlich.
Der russische Begründer des Behaviorismus, Iwan P. Pawlow, der später durch seine konditionierten Hunde sprichwörtlich wurde, stieg erst zum Nobelpreiskandidaten auf, als 1898 sein Buch Die Arbeit der Verdauungsdrüsen ins Deutsche übersetzt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg erschütterten lang anhaltende Boykotte, die vor allem von Franzosen und Engländern organisiert wurden, die Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache erstmals nachhaltig.
Z
Zukunft Ohne den Ersten Weltkrieg hätte die Zukunft des Deutschen nach 1914 anders ausgesehen. Vielleicht würde in vielen Gegenden Osteuropas heute noch Deutsch gesprochen, denn der Zweite Weltkrieg, der nach 1945 zur Vertreibung der Deutschen von dort führte, war ja eine Folgeerscheinung des Ersten.
Vielleicht gäbe es nicht nur in Namibia eine eigenständige Variante des Deutschen, sondern es existierten auch andere Kolonialdeutschs, die wiederum auf die Sprache in Deutschland zurückwirken würden, wie es die „Englishes of the world“ auf die Sprache in Großbritannien tun. Möglicherweise gäbe es einen deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger aus Papua-Neuguinea, Prager Deutsch gälte immer noch als vorbildlich, und Jugendliche würden hierzulande den Jargon deutschsprachiger Rapper aus Togo oder Kamerun imitieren.
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