Aus dem Netz auf den Tisch

Handel Amazon steigt in die Online-Bestellung von Lebensmitteln ein. Kann das funktionieren?
Ausgabe 08/2017
Traditionalisten greifen noch selbst zum Produkt
Traditionalisten greifen noch selbst zum Produkt

Foto: Theisen/Imagebroker/Imago

Heult hier die Sirene auf, muss alles ganz schnell gehen: Im Logistikzentrum von Amazon am Kurfürstendamm in Berlin eilt ein Mitarbeiter durch die Gänge, vorbei an Wänden, auf denen in großen Lettern die „Leadership-Prinzipien“ des Unternehmens prangen, „Think Big“ etwa. Der Scanner in der Hand zeigt den kürzesten Weg zur bestellten Ware an. Kopfhörer, Tastaturen, Rasierschaum oder DVDs, was in dem 3.000-Quadratmeter-Areal in braunen Plastiktüten verstaut und Kurieren übergeben wird, das muss den Kunden innerhalb einer Stunde erreichen. Denn das garantiert Amazon mit seinem Lieferservice Prime Now.

Seit Mai 2016 ist der Dienst über die App in den zentralen Lagen Berlins aktiv, seit August auch im Großraum München. Wer einen Jahresbeitrag von 49 Euro zahlt, kann sich mit Prime Now noch am Tag der Bestellung beliefern lassen. Für eine Gebühr von knapp sieben Euro verspricht der US-Konzern sogar die Auslieferung innerhalb einer Stunde. „Wir bieten so weit über zehntausend Produkte an und bauen das Sortiment immer noch aus“, sagt Amazon-Sprecher Stephan Eichenseher bei einem Rundgang durch das Logistikzentrum. „Seit unserem Start in Deutschland lernen wir.“ Doch Amazon lernt nicht nur für die Aussicht auf größere Marktanteile in seinem altbekannten Sortiment. Das wäre wohl nicht groß genug gedacht. Die Produktpalette am Kurfürstendamm lässt ein neues Geschäftsfeld zum Vorschein kommen: den Versand von Lebensmitteln.

Der erwartete Angriff

Seit Jahren rechnen Branchenexperten mit einem Angriff Amazons auf den rund 171 Milliarden Euro schweren deutschen Markt des Lebensmitteleinzelhandels. In den USA, Großbritannien oder auch Italien gibt es bereits einen Lieferservice für Lebensmittel aller Art, unter der Marke Amazon Fresh. Und tatsächlich lassen sich in Deutschland nun seit Monaten über Prime Now mehrere tausend Lebensmittel bestellen, haltbare oder tiefgekühlte Produkte, auch Frisches wie Obst und Gemüse. Für die deutschen Marktführer Edeka, Rewe, Aldi, Lidl und Kaufland könnte das weitreichende Folgen haben. Wenn Amazon versuchen sollte, den Einkauf im Supermarkt zu ersetzen, stünden sie vor gewaltigen Umbrüchen, wie sie eine Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman vorzeichnet: 15 Prozent der deutschen Vollsortimenter könnten mittelfristig durch Online-Angebote ersetzt, 40.000 Arbeitsplätze in den Onlinebereich verschoben werden, zwischen vier und acht Milliarden Euro aus dem stationären Handel abfließen. „Fehlen den durchschnittlichen Warenkörben nur ein bis drei Euro pro Kauf, operieren viele Filialen nicht mehr positiv“, heißt es in der Analyse. Im Großraum München würden jährlich bereits Umsätze von 40 bis 50 Millionen Euro ins Onlinegeschäft wandern. „Wenn Amazon einen realistischen Anteil von fünf Prozent des Marktes mit seinem Versprechen erobert, Lebensmittel binnen einer Stunde oder einem frei gewählten Zweistundenfenster zu liefern, steigt diese Größe auf bis zu 400 bis 500 Millionen Euro“ allein im Raum München, heißt es in der Studie.

„Was wir bisher gesehen haben, ist noch ein Test“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Gerrit Heinemann, Leiter des Forschungszentrums für Online-Handel der Hochschule Niederrhein. „Derzeit sammelt Amazon mit Prime Now Erfahrung für den großflächigeren Start unter der Marke Fresh.“ Der Start in Metropolen erkläre sich aus der gebündelten Nachfrage und der guten Infrastruktur dort.

In Großbritannien startete Fresh im Juni 2016 in einigen Stadtteilen Londons. Voraus ging auch dort ein Lieferservice nach dem Prime-Modell. Eine Mitgliedschaft bei Prime Now ist für die Kunden noch immer Voraussetzung, um Lebensmittel bestellen zu können. Und die Marktanteile wachsen: In den USA, wo Amazon mittlerweile seinen ersten stationären Markt testet, konnte Amazon mit der Lieferung von Lebensmitteln im vergangenen Jahr einen Milliardenbetrag umsetzen.

„Der Einzelhandel in Deutschland ist auf einen Start von Fresh denkbar schlecht vorbereitet“, sagt Heinemann. Über Jahrzehnte hätten die großen Akteure harte Preiskämpfe geführt. Die Gewinnmargen seien so gering, dass schon lange Kapital fehle, um Neues auszuprobieren. „Es fehlt schlicht an Raum für Innovation.“ Nicht einmal ein Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes durch Lebensmittel erwirtschafte der Einzelhandel bisher online.

Das liegt auch daran, dass bislang kaum ein Vollsortimenter einen umfangreichen Lieferservice aufgezogen hat: Lidl verschickt derzeit nur haltbare Lebensmittel. Kauflands erster Online-Markt im Berliner Raum ist erst seit vergangenem Oktober aktiv. Aldi ist im digitalen Liefergeschäft noch gar nicht vertreten.

Lediglich Rewe erscheint vorbereitet. Vor fünf Jahren schuf die Supermarktkette einen Lieferservice, seit 2014 unter der Marke Rewe digital, samt Fahrzeugflotte, eigener Lagerlogistik und festangestellten Fahrern. „In diesen drei Jahren haben wir viel in Service, Strukturen, Prozesse und Personal investiert und sind stark gewachsen“, sagt Christoph Eltze, einer der Geschäftsführer von Rewe digital. 12.000 Produkte lassen sich mittlerweile online bestellen, pro Einkauf fällt eine Liefergebühr von bis zu 5,90 Euro an. Ausgehend von dichtbesiedelten Ballungsräumen könne der Lieferservice mittlerweile 40 Prozent der Bevölkerung bedienen, sagt Eltze. Und es gebe keinen Grund, warum der Markt nicht weiter wachsen solle. In Großbritannien sei der Online-Einkauf schließlich schon bei einem Anteil von sieben Prozent. Ob der Lieferservice bereits Gewinn einfährt, will Eltze nicht verraten. Auch zum Start von Amazon Fresh fällt kein Wort.

Die Probleme für Rewe und andere beschreibt Gerrit Heinemann so: „Transporterflotte, Lagerlogistik, Lohnkosten. Angesichts des notwendigen Aufwands kann ich mir nicht vorstellen, dass sich ein Lieferservice für den Wocheneinkauf überhaupt rechnet“, sagt er. Wenn es aber jemand schaffe, dann wohl Amazon. „Das macht den Etablierten Angst“, meint Heinemann. Dazu sei die Prime-Mitgliedschaft ein hervorragendes Kundenbindungsprogramm. „Gerade die Verbindung mit Produkten aus anderen Segmenten könnte es rentabel machen“, sagt Sascha Berens, der am EHI Retail Institute, einer Forschungseinrichtung von 350 Unternehmen, Branchenverbänden und Produzenten, den Bereich IT und E-Commerce leitet. „Amazons ausgeklügelte Logistik und die niedrige Lohn- und die niedrige Kostenstruktur sind enorme Vorteile gegenüber der Konkurrenz“, fährt er fort.

Digitaler Fordismus

Es sind Vorteile gegenüber der Konkurrenz, die sich an Tarife gebunden hat, sagt der Einzelhandelsexperte der Gewerkschaft Verdi, Thomas Voß. „Was Amazon betreibt, ist Fordismus im digitalen Zeitalter.“ Voß spricht von harten Arbeitsbedingungen und Vorgaben in den Versandzentren, die hohe körperliche und psychische Belastungen der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Folge hätten. „Bei Prime Now ist das System der Arbeit doch nicht anders“ als in anderen Geschäftsbereichen des Konzerns, sagt Voß, und nun attackiere Amazon auch den Lebensmitteleinzelhandel auf diese Weise.

30 Prozent der Mitarbeiter der Amazon-Logistikzentren in Deutschland sind bei der Gewerkschaft organisiert; bereits seit drei Jahren bestreikt Verdi das Unternehmen im Kampf für höhere Löhne nach dem Einzelhandelstarif. Verhandlungen darüber lehnt der US-Konzern noch immer ab. Gern bezeichnet sich Amazon in der Debatte als Logistikunternehmen. „Die Argumentation ist natürlich Taktik, um das Lohngefüge möglichst gering zu halten“, sagt Voß. Und um die „Vorteile“ gegenüber vielen Etablierten zu behaupten.

Jene Etablierten verfügen allerdings selbst über einen anderen, eigenen Vorteil: die Gewohnheit ihrer Kunden. Eine Studie des Marktforschungsunternehmens Nielsen ergab, dass lediglich 17 Prozent der Deutschen Waren des täglichen Bedarfs online einkaufen. Gerade beim Erwerb von Obst, Gemüse, Fleisch oder Meeresfrüchten bevorzugten Verbraucher nach wie vor die Kaufhalle. Knapp die Hälfte der Befragten empfinde den Gang dorthin als „angenehm“ oder schätze ihn sogar als „Einkaufserlebnis“. Als „Traditionalisten“ des Einkaufs bezeichnete die Studie deutsche Verbraucher daher, nicht ohne gleich zu mahnen: Sollten die Kunden „es aber einmal durchrechnen, Fahrtkosten und Zeit“ für den Einkauf also kalkulieren, „dann könnte sich das Blatt wenden“.

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Geschrieben von

Matthias Jauch

Freier Journalist, Berlin|Hamburg, unter anderem beim Freitag, twittert unter @MatthiasJauch

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