Hurra, die Welt geht unter! Der Hip-Hop-Song dröhnt aus Musikboxen in die Berlin-Kreuzberger Abendsonne hinaus. Auf der Straße kicken Kinder metergroße Buchstaben aus Pappe mit Fußbällen um. 200 Menschen jubeln ihnen dabei zu. Die bunten Lettern tragen Unternehmensfarben und bilden ein Wort: Google.
Stefan Klein blickt auf die Backsteinmauern des alten Umspannwerks am Ufer des Landwehrkanals und sagt in ein Mikrofon: „Google will zu den Guten gehören, aber das werden sie hier nicht. Der Campus wird das Viertel komplett verändern.“ Klein ist groß gewachsen, seine schwarzen Haare schimmern gräulich. „Sie wollen die alternative und bunte Szene und merken nicht, dass sie die zerstören“, sagt Klein. „Dieses Unternehmen ist disruptiv.“
Hunderte Internetfirmen haben sich in den vergangenen Jahren in Berlin angesiedelt, firmieren in den zentralen Lagen der Hauptstadt, viele in Mitte oder Prenzlauer Berg. Es sind nicht nur kleine Start-ups oder Kapitalgeber wie Rocket Internet, die jungen Firmen Geld zuschießen. Es sind Investoren, die auf der Suche sind nach dem nächsten großen Ding, einem Investment, das einschlägt wie Facebook, Google oder Amazon. Auch die großen Player haben Berlin für sich entdeckt. Der Kampf von Stefan Klein gilt einem davon. Googles Mutterunternehmen Alphabet ist rund 760 Milliarden Euro schwer. Nun zieht es mit fünf Mitarbeitern ins alte Umspannwerk in Berlin-Kreuzberg. Bald sollen dort täglich bis zu 200 Menschen arbeiten, Workshops besuchen oder Vorträgen folgen, sich zum Netzwerken treffen, das W-Lan ist kostenlos. „Das wird kein gemütliches Café mit 20 Leuten“, sagt Klein. „Der Campus wird Start-ups anziehen wie ein Magnet. Ob die etwas erwirtschaften oder nicht, ist ganz egal. Mieten sind für sie doch fiktive Zahlen. Und der Investor zahlt jede Miete.“
Was Klein umtreibt, ist nicht nur Google – sondern die viel größere Debatte um Gentrifizierung. Nirgendwo auf der Welt steigen die Preise für Immobilien so stark wie in Berlin, allein im letzten Jahr um 15,6 Prozent, und das durchschnittlich. In Kreuzberg und Neukölln, direkt beim Umspannwerk, sogar um 18 beziehungsweise 20 Prozent. Etliche Immobilien wechseln in diesen beliebten Kiezen monatlich den Besitzer. Mieter müssen der Umwandlung in Eigentumswohnungen weichen, alteingesessene Nachbarschaftsläden, Jugendtreffs und Gemüsehändler werden verdrängt. Im April brachte die Wut über die Situation auf dem Wohnungsmarkt in Berlin rund 15.000 Menschen auf die Straße.
Politik ist Fremdbestimmung!
Etliche Start-ups sitzen hier in Kreuzberg, weltweit agierende Co-Working-Spaces stellen Büroräume zur Verfügung. Und jetzt kommen die Internetriesen. In den angesagten Kiezen der Hauptstadt sehen sie genau die Kreativität, die sie für ihren Erfolg brauchen. Immobilienmakler werben in ihren Anzeigen mit der Aussicht auf den noch nicht einmal eröffneten Google-Campus. Was macht es mit einem Kiez, wenn Google kommt? Bleibt das Leben erhalten, das die Nachbarschaften ausmacht? Der Kampf gegen Google ist für die Kiezbewohner mehr als der gegen ein Unternehmen mit kleiner Zweigstelle. Er ist auch ein Ventil für Ängste und Wut gegen eine Verdrängung, die ein gigantisches Ausmaß angenommen hat. Nicht nur Klein wittert in den Google-Plänen daher eine Gefahr.
SO36, wieder Kreuzberg. 400 Menschen quetschen sich in den berühmten Nachtclub in der Oranienstraße, sitzen auf Bierbänken, es ist stickig und eng. Vor ihnen auf dem Podium sitzt Klein und sagt Sätze wie: „Wir wollen verhindern, dass Google aus Kreuzberg ein zweites San Francisco macht“. Niemand wolle eine digitalfreie Zone. „Aber unser Kiez ist verletzlich und verändert sich jetzt schon zu stark. Mit Google gibt es nichts zu reden. Die haben in Kreuzberg nichts verloren.“ Immer wieder applaudiert das Publikum. Doch niemand bekommt die rebellische Stimmung an diesem Abend mehr zu spüren als die linke Berliner Politikerin Katalin Gennburg. Vermummte versperren der Wohnungspolitikerin mit einem Transparent den Blick vom Podium. Eine von ihnen ergreift ein Mikrofon, geißelt in einer Ansprache jede Politik als Fremdbestimmung, kritisiert die Vorstellungen Gennburgs als „vernebelt“. Als Gennburg endlich zu Wort kommt, weist sie darauf hin, dass es im Widerstand gegen steigende Mieten und Leerstand auch nichtrechtsstaatliche Mittel gebe – gemeint sind Besetzungen, die Gennburg jüngst auch öffentlich als „legitimes Mittel“ verteidigte. Das Publikum füllt ihre unglückliche Sprechpause mit schallendem Gelächter.
Klein hingegen, einer der aktivsten Gentrifizierungskritiker in Berlin, ist in seinem Element. 2016 gründete er die Initiative „GloReiche Nachbarschaft“, rettete die Kreuzberger Bäckerei Filou, die es im März 2017 kurzzeitig zum Lokalpolitikum schaffte, kämpfte mit ihr und anderen von Verdrängung bedrohten Geschäften für neue Mietverträge. Klein ist bekannt. Während eines abendlichen Spaziergangs durch den Kiez stoppt ihn ein Kneipier. Vor seinem Lokal scherzen sie über die Veränderungen im Viertel. „Wir stellen jetzt ja um, statt Bier gibt’s Tofu mit integriertem W-Lan. Für die neue Kundschaft, wa?! Nee, Spaß! Wie läuft die neue Homepage?“ Gemeint ist die neue Internetseite „Google ist kein guter Nachbar“, auf der Unterstützer gesammelt werden. „Wir reden hier nicht vom Bergmannkiez oder der Sternschanze“, sagt Klein. „Google würde die Verdrängung ins Unermessliche steigern.“ Er hat das schon selbst einmal erlebt. Als der gebürtige Berliner noch in Frankfurt wohnte, verlor er seine Wohnung im Nordend. Heute werde sie für 1,5 Millionen Euro zum Kauf angeboten.
Später, an einem Freitagabend, stehen zwei Mannschaftswagen der Polizei vor dem Umspannwerk. Der Wachmann einer Sicherheitsfirma patrouilliert vor dem Gebäude. Zwei Dutzend Menschen stehen in kleinen Trauben auf der anderen Straßenseite, schlagen im strömenden Regen auf Kochtöpfe, machen Lärm mit Vuvuzelas und Trillerpfeifen. Sie rufen „Fuck Off, Google“. Einer von ihnen ist Jeff, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Ich habe gesehen, wie Google San Francisco zerstört hat“, sagt der Mittvierziger. „Das müssen wir hier verhindern.“ Vereinzelt fliegen aus anderer Richtung Böller auf das Umspannwerk. Polizisten blicken regungslos auf das Treiben, nähern sich mal rasch an, die Menge weicht kurz zurück. Das Spiel wiederholt sich, an diesem Abend und an jedem ersten Freitag im Monat.
Wie reagiert das Unternehmen auf die Proteste? Ein Sprecher versucht zu beschwichtigen, nennt Initiativen, die man in der Nachbarschaft plane, auch für Schulen in sozialen Brennpunkten. „Wir verstehen die Sorgen der Leute bezüglich der steigenden Mieten, nicht zuletzt weil wir selbst hier mit unseren Familien wohnen. Wir alle lieben diese Stadt und respektieren das, was Berlin und diesen Kiez besonders macht“, sagt Sprecher Ralf Bremer. Im Campus sollen maximal zehn Leute arbeiten, nur ein Viertel der Fläche des Umspannwerks sei angemietet worden. „Google zieht keinen unmittelbaren Nutzen aus dem Campus. Es geht auch nicht darum, sich in die besten Ideen von Gründern einzukaufen.“ Die übergroße Mehrheit der Nachbarn reagiere positiv.
Im Block des Umspannwerkes, wo nun täglich Handwerker ein und aus gehen, liegt auch der anarchistische Bücherladen „Kalabalik“. Das Geschäft befindet sich in einem unscheinbaren Altbau in der Reichenberger Straße. Zweimal im Monat wird es zum „Anti-Google-Café“, einer Anlaufstelle, „um gemeinsam gegen die Eröffnung des Google-Campus in Kreuzberg zu kämpfen, ohne den Appell an Politik, ohne mit der Herrschaft zu verhandeln, sondern kreativ und direkt“, so steht es auf der Homepage des Treffs.
Einer, der regelmäßig kommt, ist Sergey Schmidt. Das Pseudonym ist eine Anspielung auf Google-Gründer Sergey Brin und den ehemaligen Chef des Konzerns Eric Schmidt. Er redet sich gern in Rage, spricht laut und macht kaum einen Punkt. „Das ist keine normale Gentrifizierung. Wenn du Kreuzberg in ein Silicon Valley verwandeln willst, steht da eine Ideologie hinter. Das kann keiner wollen“, sagt er. „Alle sehen immer noch diesen netten Laden mit den zwei Gründern in der Garage. Aber die Evolution dieses Unternehmens ist beängstigend.“ Der Franzose, Ende dreißig, Vollbart und lange Haare, kennt das Geschäft. Über zehn Jahre arbeitete er für NGOs zu Fragen des freien Internets, beriet auch Abgeordnete des Europaparlaments. Nun lebt er in Berlin, sieht sich selbst als Hacker, der sich für frei verfügbare Software stark macht.
Ein kurzer Blick auf seine Homepage, die unter dem Titel „Fuck Off Google“ läuft, zeigt, dass es ihm um mehr als einen Campus in Kreuzberg geht. Im November ging die Seite online, hochgezogen von Schmidt und ein paar Unterstützern. Mehrere Dutzend sollen nun daran mitarbeiten. Die Seite prangert Menschenrechtsverletzungen des Unternehmens an, die Firmenphilosophie, den Kontrollanspruch über Daten und über die Art zu leben. Herrschaft der Algorithmen. „Sie sammeln Informationen und erstellen Profile, aber ihre Ziele bleiben im Schatten“, sagt Schmidt. Lange redet er über das Unternehmen, das jährlich mehrere Hundert Unternehmen kauft, über eine ökonomische Macht, die zur politischen wird, und dabei kaum Steuern zahlt. „Diese Macht wird genutzt, um Trends zu definieren – für mehr Kontrolle.“
Der Späti ist schon weg
Schmidt hat eine Botschaft: „Die Menschen denken, sie haben keine Alternative zu Google. Das müssen wir ändern. Sie sollen selbstbestimmt entscheiden, welche Technologie sie nutzen, ob freie Software und Verschlüsselungstechnologie, auch welche Daten sie aus der Hand geben.“ Nach über einer Stunde wird Schmidt zum ersten Mal ruhig im Gespräch. Er lehnt sich zurück und lächelt. Er ist zuversichtlich, sagt er, dass die Anstrengungen nicht umsonst waren, dazu in einer Stadt, die alle kennen. Die Menschen in Kreuzberg hätten eine starke Haltung, einen Stolz, und der treffe nun auf Google. „Wir haben eine echte Chance, diesen Kampf gewinnen.“
Klein teilt seine Zuversicht. Er blickt aus dem breiten Fenster des Nachbarschaftsladens im Norden Kreuzbergs, das Umspannwerk ist einen Steinwurf entfernt. Auf sanierte Altbaufassaden blickt er, auf ein paar kleine Restaurants, einen Zeitungsladen. Der Späti um die Ecke wurde gerade erst entmietet. Kleins Gesichtsausdruck ist ernst. Das tiefe Einatmen lässt seine Schultern noch breiter erscheinen. „Wir müssen gewinnen. Denn das, was sonst mit diesem Viertel passiert, will wirklich keiner. Und es betrifft alle.“
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