"Für eine offene und tolerante Stadt der Bürgerschaft" steht über einem Thesenpapier, mit dem Jann Jakobs, der Oberbürgermeister von Potsdam, dieser Tage die Einwohner überraschte. Der Sozialdemokrat plant nichts weniger als eine Neuauflage des religiösen "Toleranz-Edikts" von 1685, mit dem seinerzeit Kurfürst Friedrich Wilhelm die Einwanderung der Hugenotten erlaubt und "einen Meilenstein der europäischen Geschichte" gesetzt habe.
Gerade kreist das Stadtgespräch um einen bekannten Potsdamer. Der Modeproduzent Wolfgang Joop wurde im Park Sanssouci durch Wächter unsanft vom Rad geholt und an die Parkordnung erinnert. Auch weil Joop angeblich Hunde frei herumstreunen ließ, kam es bei dieser Begegnung zu einer gewissen Eskalation. Wutentbrannt haben die Streithähne sich inzwischen gegenseitig verklagt.
Ein einig Volk von Bürgern
Da nun schwebt das neue "Toleranzedikt" vom Himmel, ein Angebot zur Bürgerdebatte, wie es heißt. Ausgearbeitet vom Politikprofessor Heinz Kleger und mit Formeln ausgestattet wie: "So wie die Toleranz eine Konsequenz der Freiheit ist, ist die Solidarität eine Konsequenz der Toleranz". Oder: "Liberaler Schein ist noch keine liberale Wirklichkeit." Solche Perlen wirft der in Zürich Geborene vor die Potsdamer. In den nächsten Monaten haben die Bürger Zeit, sich darüber auszutauschen, sagt Bürgermeister Jakobs - das neue "Edikt von Potsdam" werde "von keinem Fürsten verkündet". Es ist ja auch keiner da, der es tun könnte.
Freilich birgt der Begriff "Toleranzedikt" eine eigenartige Wortverbindung. Edikt heißt soviel wie Verordnung oder Erlass, ist also eine Art Befehl. Ein Befehl zur Toleranz? Ist das bewusst preußisch angelegt? Und was bedeutet Toleranz etwa in Religionsdingen, da sich die Tendenz zu Intoleranz und Fanatismus, die jedem Glauben innewohnt, doch an der Geschichte des Christentums eindrucksvoll studieren lässt? Wie auch immer: Man darf gespannt sein, welches Banner demnächst am Maste weht.
Die Minderheit der religiös Gebundenen jedenfalls sieht sich in Potsdam auch jetzt schon an der Einhaltung kultischer Regeln nicht gehindert, weder Katholiken noch Juden, noch Mohammedaner. Der Ausländeranteil ist mit vier Prozent zwar doppelt so hoch wie im übrigen Land Brandenburg, doch ist das nicht ungewöhnlich und hängt vorrangig mit der örtlichen Universität zusammen. Merkwürdig nur, dass Wissenschaftsministerin Johanna Wanka (CDU) kürzlich einräumen musste, diese Hochschule schaffe es nicht, die ausgeschriebene Stelle eines Ausländerbeauftragten zu besetzen. Bundesweit Aufsehen erregte der - später nicht wirklich aufgeklärte - Überfall auf einen Deutsch-Äthiopier vor knapp zwei Jahren. Dennoch gilt Potsdam als liberale Insel in der bodenständig konservativen Mark.
Seit geraumer Zeit allerdings wird die Toleranzbereitschaft der Potsdamer auf harte Proben gestellt. Auf der einen Seite gibt es die Stadt der Jauchs und Joops, der Reichen und Schönen - auf der anderen die der Krethi und Plethi, der Verdrucksten und Verdrängten, die zumeist in den Plattenbauten der Peripherie unterkamen und sich nicht so großzügig ausgestattet finden, um am ausgelassenen, gleichwohl kostspieligen Vergnügungsleben der Stadt teilzuhaben. Beim Anblick ihrer Wohnblöcke würde er am liebsten al-Qaida anrufen, hatte besagter Modeschöpfer wissen lassen. Und die Antworten der zum Abschuss Freigegebenen klangen auch nicht gerade fein. In diese wohlgeordnete Situation hinein platzt nun der Aufruf zu Toleranz, Liberalität und Liebenswürdigkeit.
Denn ob Sonnen- oder Schattenseite, gemeinsam bilden alle Potsdamer natürlich die "Bürgerschaft" und sollen sich als Bürger fühlen, wie es im Thesenblatt gleich mehrfach heißt. Ein einig Volk von Bürgern eben.
Liegt darin der Sinn des Appells? Ein Aufruf zur Gymnastik des Bewussteins? Oder mehr ein Bekenntnis zur Pflege mutmaßlich preußischer Traditionen? Ein solches Motiv ginge indessen von einer falschen Voraussetzung aus: Dem Glauben nämlich, der Staat Preußen sei auch nur eine einzige Sekunde seiner Geschichte tolerant gewesen. Tolerant im heutigen Sinne jedenfalls. Der Verfasser des neuen "Edikts" wusste offenbar nicht, was immerhin die preußischen Könige noch wussten und gelegentlich auch zynisch aussprachen. Dass ihre "Toleranz" nie bedingungslos und in Preußen auch als Maske in Gebrauch war, um Selbst- und Machtsucht zu verbergen.
Gabel, Leberwurst und Soße
Für Herrscher wie den Große Kurfürsten, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. verstand sich die religiöse Toleranz nicht von selbst. Sie bereiteten mit einschlägigen Edikten die Landeskinder darauf vor, dass demnächst Scharen von Ausländern die Streusandbüchse bevölkern würden. Ihre Edikte waren eine mit Nachdruck vorgetragene Warnung an die Eingeborenen: Vertragt euch.
Das heute gefeierte Edict von Potsdam öffnete Evangelisch-Reformierten aus Frankreich die Tür zur Mark wie andere Erlasse später auch Böhmen, Schweizern und anderen. Genau so wie übrigens zur gleichen Zeit das russische Reich deutsche Siedler zu sich lockte. Wer aber käme auf den Gedanken, die Zaren deshalb für tolerant zu halten? Dabei würde - so gesehen - den Russen dieser Ruf eher gebühren als den Preußen. Petersburg garantierte Protestanten und Katholiken das Siedlungsrecht in orthodoxer Umgebung, während Preußens Monarchen mit den Hugenotten, Böhmen und Schweizern nur Angehörige ihrer eigenen Staatskirche begünstigten.
Protestanten halfen Protestanten, mehr war es kaum. Mit den neuen Siedlern traten Gabel, Leberwurst und Soße ins preußische Leben, alles Dinge, die rings um Berlin zuvor unbekannt gewesen waren. Und junge Frauen wurden eine Zeit lang mit dem Wort Mamsell gerufen.
Die religiöse Toleranz sei von König Friedrich II. "zur Staatsmaxime" erhoben worden, behauptet das derzeit kursierende Thesenpapier. Der Historiker Franz Mehring* freilich hatte Anfang des 20. Jahrhunderts schon darauf verwiesen, dass diese Grundsätze "mit der ganzen Regierung des Königs in mehr oder minder schreiendem Widerspruche" standen. Er bezog sich auf das berühmteste von Friedrichs geflügelten Worten: "Alle Religionen müssen toleriert und jeder muss nach seiner Fasson selig werden." Tatsächlich habe Friedrich einmal einem Katholiken, der das Bürgerrecht in Frankfurt/Oder beantragt hatte, wie folgt geantwortet: "Alle Religionen sind gleich gut, wenn nur die Leute, so sie profitieren, ehrliche Leute sein, und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren (bevölkern - M.K.), so wollen wir sie Mosqueen (Moscheen - M.K.) und Kirchen bauen."
Mehring dazu: "Friedrich wollte sein armes und dünn besiedeltes Land peuplieren, um Rekruten für sein Heer und Steuern für seine Kasse zu bekommen, und da waren ihm Christen, Türken, Heiden und - wenigstens für den finanziellen Zweck - auch Juden höchst willkommen. Er gewährte ihnen ohne weiteres öffentliche Anerkennung ihres Gottesdienstes und Schutz der Glaubensfreiheit. Aber deshalb hat er all sein Lebtag an eine Gleichstellung der religiösen Bekenntnisse im bürgerlichen Leben auch nicht im Traume gedacht ..."
Und wie es in Fragen der Staatsräson um die königliche Toleranz bestellt war, zeigt folgende Episode: Als ein wieder eingefangener Deserteur der preußischen Armee aussagte, ein Jesuitenpater habe ihm in der Beichte erklärt, das Desertieren sei zwar eine große Sünde, aber doch keine Sünde, die von Gott niemals vergeben werden könne, da ließ Friedrich den Priester ohne Verhör und Urteil neben einen schon faulenden Deserteur an den Galgen hängen.
Wann immer also wirkliche Interessen im Spiel waren, ließ der Monarch nicht den geringsten Zweifel daran, dass - wer in seinem Königreich zur Feder griff - es "für den König von Preußen" zu tun habe. Die von Professor Kleger so gefeierte "Denkfreiheit" in Preußen war dem Spötter Heinrich Heine übrigens diese Zeilen wert: "Gedankenfreiheit genoss das Volk. Sie war für die breiten Massen. Beschränkung traf nur die geringe Zahl. Jene, die drucken lassen."
Schwarze und rote Adler
Und wäre bei jenem Thema nicht auch der Hinweis Pflicht, wie sich die Preußen den Nazis andienten und zwar in einem Augenblick, als die es noch dringend brauchten? Beinahe sprachlos macht der Professor aus Zürich mit der Anmerkung in seinem Toleranz-Papier: "Bis zur Pogromnacht am 9. November 1938, die vor aller Augen stattfand, war die Synagoge auch in Potsdam ein fester Bestandteil der Bürgergesellschaft. Was dann kam, war ein Bruch mit den Grundlagen liberaler Zivilisation." Soll das im Ernst heißen, bis dahin sei Potsdam für seine jüdischen Bürger eine heile Welt gewesen? Bei Professor Kleger findet sich kein Wort davon, dass am "Tag von Potsdam", am 21. März 1933, Adolf Hitler und das angeblich so tolerante Preußen in der Garnisonkirche den Bund fürs Leben schlossen, um zwölf Jahre später fast zeitgleich und aneinander gefesselt in die Grube zu fahren.
Bei Kleger auch kein Wort davon, dass der politische Konservatismus, dieser selbsternannte Sachwalter preußischer Belange, schon Jahre vor 1933 eine feste Zählgemeinschaft mit den Nazis zu bilden wusste und ein konservativer General der Reichswehr in Potsdam die Stadtfraktion der NSDAP anführte. Oder dass der preußische Kronprinz damals öffentlich dazu aufrief, NSDAP zu wählen. Ebenso kein Wort davon, dass die Geisteshaltung von Teilen der "bürgerlichen Mitte" Potsdams und des märkischen Adels die Machtübergabe an Hitler massiv vorbereiten half und sich als durchaus kompatibel mit der Nazi-Ideologie erwies - das alles ist dem Toleranzaufruf keine Zeile wert. Dafür bekommt die DDR natürlich ihr Fett weg. Zitat aus dem Thesentext: "Der sozialistische Paternalismus griff überall ein; die Freiheit, nicht beherrscht zu werden, die freie Menschen und BürgerInnen auszeichnet, wurde so verunmöglicht und musste sich in Nischen zurückziehen." Der Professor aus Zürich sollte die Potsdamer fragen, ob sie den Eindruck haben, heute nicht beherrscht zu werden.
Auf jeden Fall sollen die Thesen jetzt in der Stadt öffentlich ausgehängt sein. Bezeichnenderweise warf das gleich die Frage nach Bewachung und Beschmierung auf. Wie der lokalen Presse zu entnehmen ist, hat Oberbürgermeister Jakobs die Potsdamer aufgerufen, im Falle einer Hakenkreuzschmiererei sie entweder durchzustreichen oder daraus ein Fenster zu malen. Er werde es riskieren, dass auch "Extremisten dort schreiben".
Die Verdienstvollen in Brandenburg werden alljährlich mit der höchsten Landesauszeichnung bedacht, dem "Roten Adlerorden". Das Blech erinnert an den Vorgänger, den "Schwarzen Adlerorden", den das alte Preußen zu vergeben hatte, auf dessen Rückseite zu lesen war: "Suum cuique" (Jedem das Seine).
(*) Franz Mehring, 1846 - 1919, marxistischer Historiker, Literaturhistoriker und Publizist.
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