Alles für die Festung Europa

Flucht Pushbacks sind laut Europäischem Menschenrechtsgerichtshof kein Verstoß gegen Menschenrechte. Es sind rechte Narrative in juristischen Klauseln
Anzunehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sei eine Bastion gegen die Abschottung der EU (hier der Grenzzaun von Melilla im Jahr 2014), wäre naiv
Anzunehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sei eine Bastion gegen die Abschottung der EU (hier der Grenzzaun von Melilla im Jahr 2014), wäre naiv

Foto: Jose Colon/AFP via Getty Images

Die Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention formulieren nicht nur hehre Absichten, das Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist kein idealistischer Elfenbeinturm, die Urteile sind keine Sonntagsreden mit wohlklingenden Idealen, die werktags nicht mehr interessieren. Zahlreiche der Straßburger Richtersprüche aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben das Recht verändert – und ganz konkret Menschen vor Abschiebungen bewahrt, weil ihnen ansonsten unmenschliche Zustände gedroht hätten, oder weil sie anderenfalls von ihrer Familie getrennt worden wären.

Dies bestätigt die landläufige Vorstellung, dass ein Menschenrechtsgericht immer auf der guten Seite steht, gar ein zuverlässiger Verbündeter ist im Kampf gegen staatlichen Rassismus und ein Gegengewicht zu einer repressiven Politik von Abschottung und Ausgrenzung. Diese Vorstellung war schon immer naiv und überzogen, seit Mitte dieses Monats dürfte sie endgültig von der Realität überholt sein.

Zur illegalen Einreise gezwungen

In einem viel beachteten Urteil entschied die Große Kammer, die höchste Instanz des Gerichts, dass die Praxis der spanischen Behörden, Geflüchtete ohne Anhörung ihrer Fluchtgründe nach Marokko zurückzuschieben, nicht gegen die Menschenrechte verstößt. Der zugrundeliegende Fall spielte sich 2014 ab, die beiden Beschwerdeführer, aus Mali und der Elfenbeinküste kommend, hatten in einer größere Gruppe die meterhohen Zäune zur spanischen Exklave Melilla überquert, bevor sie mit 75 Personen zurück nach Marokko verbracht wurden, ohne zuvor etwas zu ihren Gunsten vortragen zu können. Aus Sicht des Menschenrechtsgerichthofes sei dies jedoch kein Verstoß gegen das sogenannte Verbot der Kollektivausweisung: Den beiden Geflüchteten hätten ohnehin, wie jetzt klar ist, keine Gefahr in ihren Herkunftsstaaten gedroht. Und vor allem hätten sie sich durch ihr eigenes Verhalten und durch eine gewaltsame Überquerung der Grenze selbst in diese Situation gebracht, anstatt legal nach Spanien einzureisen.

Tatsächlich konnten die spanischen Behörden im Zeitpunkt noch nicht wissen, ob den beiden Geflüchteten in Mali und in der Elfenbeinküste eine Gefahr droht – dies soll ja gerade in einem ordentlichen Verfahren geprüft werden. Und tatsächlich gab und gibt es keine legalen Einreisemöglichkeiten, weder an der Grenze und den Botschaften Spaniens noch anderswo, wenn man Schutz in Europa sucht. Geflüchtete sind per se gezwungen, illegal einzureisen, bevor sie einen Asylantrag stellen. Diese schon immer widersinnige Konzeption des Flüchtlingsrechts, sich auf das Recht nur dann berufen zu können, wenn man zuvor einen Stacheldrahtzaun oder das Mittelmeer überquert hat, wird durch die Entscheidung des Gerichthofes nochmals ad absurdum geführt. Die Entscheidung schafft das Flüchtlingsrecht faktisch ab.

Das Pushback-Urteil aus Straßburg wurde medienübergreifend kritisiert. Sogar in der Welt heißt es, der Gerichthof argumentiere mit einer „Realität, die es nicht gibt“. Wenige andere Stimmen lesen die Entscheidung als politische Aufforderung an die Staaten, legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen. Der Gerichtshof selbst wird genau zu dieser Frage, ob Asylanträge auch bei Botschaften im Ausland gestellt werden dürfen, demnächst entscheiden.

Derart hoffnungsvolle Interpretationen dürften sich als naiv erweisen. Tatsächlich hat das Gericht schlicht seine eigene Rechtsprechung über Bord geworfen, und rechte Narrative in juristische Klauseln gegossen: Eine illegale Einreise darf nicht mit einem Bleiberecht belohnt werden. Nunmehr kann sich eine rigide und gewaltsame Abschottungspolitik auf die hohe menschenrechtliche Instanz aus Straßburg berufen. Die Pushbacks, die nachweislich stattfinden an den europäischen Grenzen nach Griechenland, nach Kroatien oder Ungarn, haben nun eine legale Basis.

Weder Wahrheit noch Neutralität

Gerichtsurteile sind ebenso wenig Ausdruck von Wahrheit und Neutralität wie staatliche Gesetze. Auch und erst recht sind Menschenrechte und ihre Auslegung der Ausdruck von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Das aktuelle Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes ist ebenfalls eine politische Entscheidung. Der Richterspruch hat sich in diesem Fall auf die Seite der Festung Europa geschlagen: Aus eigener Überzeugung oder aus strategischen Gründen, um die Legitimität des Gerichts bei den rechten europäischen Regierungen und bei der politischen Rechten insgesamt nicht in Frage zu stellen. 2012 noch hatte das Gericht entschieden, dass Abschiebungen auf Hoher See durch italienische Behörden nach Libyen gegen das menschenrechtliche Zurückweisungsverbot verstoßen. Seitdem, vor allem seit 2015, hat sich nicht die Europäische Menschenrechtskonvention, wohl aber der gesellschaftliche Diskurs um Flucht und Migration nachhaltig geändert.

Dies darf derweil kein Grund sein, in Zukunft auf die Menschenrechte und ihre gerichtliche Durchsetzung als Instrument im politischen Kampf gegen eine gewaltvolle Politik der Abschottung zu verzichten. Gerade der Blick auf progressivere Entscheidungen aus Straßburg oder anderer Gerichte beweist, dass juristische Verfahren ein geeignetes Mittel sein können, um unhaltbare und unmenschliche Zustände abzufedern, abzuändern oder schlicht öffentlich zu skandalisieren. Es zeichnet das Recht und die Menschenrechte aus, dass sie als abstrakte Werte eine hohe Legitimationskraft haben.

Gewiss: Menschenrechte sind nur Minimalstandards. Rechtstaatliche Verfahren an den Außengrenzen führen nicht zu einer radikalen Änderung einer per se perfiden und vielfach tödlichen Grenzpolitik. Für eine radikale Änderung braucht es vielmehr legale Fluchtwege statt illegalisierter Migration und statt dem alltäglichen Sterben im Mittelmeer. Eine grundlegende Abkehr von der Abschottungslogik verlangt zugleich, dass die Zusammenarbeit mit der Türkei und mit libyschen Milizen bei der Migrationsabwehr beendet wird.

Die Berufung auf menschenrechtliche Mindeststandards einerseits und die umfassendere Forderung nach sicheren Einreisemöglichkeiten andererseits sollte allerdings nicht gegeneinander ausgespielt werden. In Zeiten des politischen Rechtsrucks ist es mehr denn je geboten, Prinzipien wie Rechtsstaat und Menschenrechte bei allen Gelegenheiten zu verteidigen.

Matthias Lehnert ist Rechtsanwalt in Berlin. Er hat über Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen promoviert und ist Mitglied im „Netzwerk Migrationsrecht“

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