Verdrängte Verrohung

Gesellschaft Lager, Folter, Repressionen – niemand leidet so sehr unter dem Erfolg der politischen Rechten wie Geflüchtete. Zeit, Migrationspolitik juristisch von links zu adressieren
Sieht so eine menschenwürdige Unterbringung aus?
Sieht so eine menschenwürdige Unterbringung aus?

Foto: Aris Messinis/AFP via Getty Images

In einer aktuellen Folge des Interview-Podcasts „jung & naiv“ darf Horst Seehofer (CSU) über zwei Stunden lang den Hüter der Vernunft zum Besten geben: Seine Politik der inneren Sicherheit sei keineswegs rechts, er trete sowohl für Sicherheit als auch für Freiheit ein. Und seine Migrationspolitik stehe für eine Balance zwischen Humanität und Ordnung.

Tatsächlich strebt der Bundesinnenminister derzeit die komplette Abschaffung des Asylrechts an. Im letzten Oktober präsentierte er den Vorschlag, Asylverfahren an die europäischen Außengrenzen auszulagern, nur Personen mit einer begründeten Aussicht auf einen Schutzstatus auf die europäischen Länder zu verteilen, und alle anderen von der Außengrenze aus direkt wieder abzuschieben. Die Bundesregierung hat sich diesem Vorschlag nun in dieser Woche angeschlossen, und zwar betont, dass auch in diesen Verfahren Rechtsschutz gewährleistet sein muss. Das ist aber ein reines Lippenbekenntnis: Es ist schlicht undenkbar, wie an den Außengrenzen rechtsstaatliche Asylprüfungen und Gerichtsverfahren stattfinden sollen, von menschenwürdiger Unterbringung ganz zu schweigen.

Die harte Realität an den Außengrenzen

Die Idee Seehofers ist nicht neu, zudem sind rechtlose Zonen bereits jetzt die harte Realität:

Auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis harren mehr als 40.000 Menschen in völlig überfüllten Lagern aus. Die griechische Regierung begegnet dem allein mit Repression: Durch schnellere Asylverfahren mitsamt Inhaftierung und anschließender Abschiebung, demnächst mit schwimmenden Kunststoffbarrieren vor den Inseln. Am Grenzfluss Evros führen griechische Behörden illegale Rückschiebungen in die Türkei durch. Die türkische Küstenwache geht ebenso brutal gegen die Überfahrt von Geflüchteten nach Griechenland vor.

An der bosnisch-kroatischen Grenze sitzen tausende Menschen unter desaströsen Bedingungen fest. Die kroatischen Behörden schieben Menschen an der Grenze zurück, ohne Asylanträge zu prüfen, Geflüchtete werden misshandelt und gefoltert. Die ungarische Grenzpolizei hindert Migrant*innen mit Warnschüssen an der Einreise aus Serbien.

Und im Mittelmeer sind 2019 wiederum mindestens 1.300 Menschen ertrunken. Zahlreichen Schiffen wird das Einlaufen in europäische Häfen versagt, die Staaten verweigern die Rettung von Menschenleben. Von der libyschen Küstenwache werden Flüchtlingsboote bedroht und beschossen.

Die Stützen der Gewalt

Diese Realitäten sind keine Einzelfälle, keine Ausfälle der konservativen bis rechtsextremen Regierungen im Osten und Südosten Europas und der Türkei, oder der kriminellen libyschen Milizen. Die Gewalt an den Grenzen wird von der Bundesregierung und der EU unterstützt: Kanzlerin Angela Merkel hat jüngst den EU-Türkei-Deal bekräftigt und Präsident Erdogan weitere Zahlungen zugesagt, um die Migration nach Europa klein zu halten. Die kroatische Grenzpolizei wird vom deutschen Innenministerium mit technischer Ausrüstung unterstützt und von Seehofer für ihren „rechtmäßigen“ Grenzschutz gelobt. Die EU hält an der Unterstützung der libyschen Küstenwache fest. Und Griechenland wird wie zuletzt aus den Reihen der CDU für sein „Verwaltungsversagen“ kritisiert – wegen der geringen Zahl von Abschiebungen in die Türkei.

Die rassistische Diskursverschiebung der letzten Jahre hat zu einer gravierenden Verrohung staatlicher Gewalt geführt, die Gewalt an der Grenze ist zur Normalität geworden. Während die damalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry 2016 mit Ihrem Vorschlag, Schusswaffen an der Grenze einzusetzen, noch Empörung auslösen konnte, sind Schusswaffengebrauch und Folter an den Außengrenzen heute kaum der Rede wert. Niemand muss unter dem Erfolg der politischen Rechten bereits so massiv leiden wie Geflüchtete an den Grenzen Europas.

Erosion des Rechtsstaats

Die Politik der Abschottung und Repression wird beständig untermalt von der Erinnerung an das deutsche Trauma: Nie wieder 2015! „Wir müssen unseren europäischen Partnern (…) helfen. Wenn wir das nicht machen, werden wir eine Flüchtlingswelle wie 2015 erleben“, so Seehofer im letzten Jahr.

Es ist dies nicht nur eine Politik, der es an Humanität mangelt. Die europäische Migrationspolitik ist eine permanente Verletzung fundamentaler Menschenrechte und des Rechtsstaats. Demgegenüber schreiben bloße Appelle an Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit nicht nur koloniale Verhältnisse fort. Sie überlassen zudem den Rechten die harte Sphäre von Recht und Staat. So nämlich funktioniert die wirkmächtige Gegenüberstellung Seehofers von Humanität einerseits und Ordnung andererseits. So werden Abschiebungen fälschlicherweise als Durchsetzung des Rechtsstaates markiert. Nicht zuletzt ist die – komplett falsche – These vom „Rechtsbruch“, bezogen auf die angebliche Grenzöffnung 2015, ein bis heute fortwirkendes Narrativ der extremen Rechten.

Das Recht muss stattdessen von links adressiert werden, auch und vor allem in der Migrationspolitik: Was in anderen Bereichen – durch staatliche Überwachung oder die neuen Polizeigesetze – für die weiße Mehrheitsgesellschaft befürchtet wird oder in den Anfängen steckt, und zu Recht zu breiten Protesten führt, ist an den Außengrenzen bereits die grausame und alltägliche Realität: Die Erosion des Rechtsstaats.

Dr. Matthias Lehnert arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin. Er hat über Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen promoviert und ist Mitglied im „Netzwerk Migrationsrecht“

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