Westberlin, der kleine Fleck auf der Karte der DDR, war laut Viermächteabkommen kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland und durfte auch nicht von ihr regiert werden. Der Kabarettist Wolfgang Neuss, liebevoll der "Mann mit der Pauke" genannt, trommelte aus seinem Kellerdomizil am Lützowplatz gegen Kalten Krieg und Antikommunismus, vergaß dabei aber nicht, auch die "Herren aus Pankow" mit Spott zu überziehen. Das Klima in der abgenabelten Stadthälfte, in der sich internationale Politiker die Türklinke in die Hand gaben, nur um schnell wieder abzuziehen, wurde ab Mitte der sechziger Jahre deutlich rauer. Gegen den Nazimuff unter den Talaren, Aufrüstung, und die ideologische Unterstützung des Vietnamkriegs formierte sich ein Protest, der allmählich über die Universitäten hinaus auf die Straße getragen wurde.
Der feierliche Empfang des Schah von Persien, dessen Schlägertrupps unter duldender Beobachtung der deutschen Polizei auf die Demonstranten einprügelten, brachte am 2. Juni 1967 das Fass zum überlaufen. Als abends vor der Deutschen Oper der zivile Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras den unbewaffneten Benno Ohnesorg erschoss, machte der bis dato völlig unbekannter Fotograf Jürgen Henschel ein Bild, das wie kein anderes in das kollektive Bildgedächtnis eingegangen ist. Es zeigt eine junge Frau, die dem tödlich getroffenen Benno Ohnesorg Hilfe leistet und sich mit entsetztem Gesicht hilfesuchend an Umstehende wendet, die sich außerhalb des Bildausschnitts befinden. Auch wenn es bereits in den fünfziger Jahren politische motivierte Morde gegeben hatte, so wurde kein Opfer so berühmt wie Benno Ohnesorg. Dieses Bild wurde von vielen Printmedien tausendfach reproduziert und damit zur Ikone der Protestbewegung. An jenem Tag, exakt in diesen wenigen Minuten wurde durch den tödlichen Schuss die Lunte gezündet die zur Gründung der "Bewegung 2. Juni", "RAF" und dem bewaffneten Kampf führte. Das Bild von Jürgen Henschel hat für eine ganze Generation dem blanken Entsetzen über den Mord an einer unbewaffneten Person Ausdruck verliehen. In diesem eingefangenen Moment liegt die Zäsur, die vor allem die westdeutsche Gesellschaft bis weit in die 80er Jahre hinein bestimmen sollte.
In den er Jahren vor allem bei Demonstrationen und anderen Veranstaltungen im öffentlichen Raum fiel Jürgen Henschel, ein eher kleiner Mann, mit Kameraausrüstung auf, weil er ungewöhnlicherweise zusätzlich mit einer leichten Aluminiumleiter "bewaffnet" war, um über die Köpfe der Menschen hinweg die eindrucksvolle Präsenz der protestierenden Massen einfangen zu können. Wieselhaft schien Jürgen Henschel überall im Einsatz zu sein und verdiente sich weit über den engen Kollegenkreis hinaus den liebevollen Titel "der Mann mit der Leiter". Seine Berichterstattung von "unten" und mit der Kamera über den wogenden Reihen charakterisiert schon deutlich den Unterschied zu den üblichen Bildreportagen der damaligen bürgerlichen Zeitungen, für die eine Demonstration wofür oder wogegen nur ein Pflichttermin war und ansonsten eher kleingeschrieben wenn nicht gar ignoriert wurde.
Der 1923 in Berlin geborene Jürgen Henschel war 1949 als überzeugter Kriegsgegner und Antifaschist aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. In den folgenden Jahren arbeitete er als Schlosser bei der Reichsbahn und begann in jener Zeit als Amateur zu fotografieren. Ab und an schickte er Bilder an die sozialistische Zeitung Die Wahrheit, die ab 1955 zweimal wöchentlich von der SED, später von der SED-W und dann SEW für Westberlin herausgegeben wurde. Ab 1967 erschien die Zeitung viermal die Woche und bot Jürgen Henschel eine feste Stelle als Fotografen, die er bis zu seiner Pensionierung 1988 ausfüllte.
Im "Kreuzberg Museum", dem Henschel 1991 sein fotografisches Bildarchiv vermachte, ist nun eine kleine Auswahl seiner Fotografien mit Schwerpunkt Kreuzberg zu sehen. Jürgen Henschels Bilder sind eine Einladung zu einer Entdeckungsreise in das vorige Jahrhundert in Westberlin. Das alles gab es! In jener Zeit wurde Bewegung und Kollektivität großgeschrieben. Eine Demonstration jagte die andere gegen den Kalten Krieg und Revanchismus, für den Frieden, gegen den städtebaulichen Kahlschlag, gegen Imperialismus und den Krieg in Vietnam, gegen Berufsverbote und für die Hausbesetzer. In der Kunst- und Theaterszene schossen die Kollektive aus dem Boden. Theatermanufaktur, Zan Pollo, Zentrifuge, Grips-Theater, Rote Grütze und, ja auch die Schaubühne am Halleschen Tor. Mit AgitProp in der Traditon von Majakowski gegen den Kapitalismus, mit Brecht, Makarenko, Hikmet und Neruda für eine Alternative zum bürgerlichen Repertoiretheater und mit der Elefanten Press Galerie entstand ein wichtiger Teil einer Gegenkultur, die bis heute nachwirkt aber bereits vergessen scheint. Aufbruch und Gegenkonzept zu einem Gesellschaftssystem, von dem man glaubte, es befände sich am Ende. Heute wissen wir mehr. Die Zeit des Wundenleckens ist vorbei, viele haben sich arrangiert und nur wenige erinnern sich positiv an die Zeiten des Protestes.
Jürgen Henschel hat diese Szene durch die Jahre weg dokumentiert und ermöglicht den unterschiedlichen Generationen, eine bereits jetzt schon vergessene Kultur zumindest in Bruchstücken in die Erinnerung zurückzuholen oder gar zu entdecken. Henschels Bildaufbau ist meist konservativ und das Spiel mit Zentralperspektive, dem Golden Schnitt und deren Ignorierung nicht seine. Er ist Bildjournalist und sein Arbeiten folgten eher den detektivischen großen fünf W: Wer, wie, wann, wo und warum. Das sind die Kriterien, die das Pressewesen an den Bildjournalisten stellt.
Als beauftragter Fotograf der "einzigen sozialistischen Tageszeitung Westberlins" mit dem engen Kontakt nach "drüben" hatte sich Henschel selbstverständlich auf das revolutionäre Industrieproletariat zu konzentrieren, das allerdings schon damals nur noch in geringem Maße in der industriell ausgebluteten Mauerstadt anzutreffen war. Viele Bilder, die Jürgen Henschel produzierte, wurden von der Redaktion mit den entsprechenden Unterschriften versehen und schienen den bildhaften Beweis für die Einheit der Werktätigen anzutreten. Henschels großes Verdienst ist es, nicht so sehr den ideologischen Vorgaben, sondern seinen Augen vertraut zu haben. Viele der Aufnahmen hatte er schon mal prophylaktisch im Selbstauftrag gemacht. Diesem Engagement ist es zu verdanken, dass auch die Proteste der ideologisch verdächtigen "Chaoten" in seinem Bildkanon berücksichtigt wurden.
Kreuzberg Museum, Berlin Bis 31. Dezember Katalog-Buch: Jürgen Henschel. Der Fotograf der Wahrheit. Hrsg. vom Kreuzberg Museum, Berlin Story Verlag, Berlin 2006, 192 S., 19,80 EUR
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