Heimweh

Guggisberger Abend Kolumne

Guggisberg habe ich immer für eine poetische Erfindung gehalten. Ein Wort, das ins alte, traurige Volkslied gehört, das Schweizer im Ausland anstimmen, wenn sie die Herzen empfindsamer Menschen erreichen wollen: das Vreneli-Lied. Philipp Hössli zum Beispiel, ein Naturbursche aus Graubünden, verdrehte damit in Berlin vor hundertachtzig Jahren Bettina von Arnim den Kopf. Nachzulesen in deren Briefwechsel "Ist dir bange vor meiner Liebe".

Manchmal packt mich das Bedürfnis nach Ursprünglichkeit. Dann fahre ich ans Meer, wo es noch unberührt zu sein verspricht, ins Gebirge, wo es besonders schwer zu erreichen ist, zuhinterst in ein Tal, auf eine abgelegene Alp, ans Ufer eines verwunschenen Flusses - um dort auf ganze Horden von anderen zu treffen, die wie ich nach dem Echten suchen. Das heilt mich jeweils für eine Weile von meiner Sehnsucht.

Als ich erfuhr, dass Guggisberg existiert, überfiel sie mich wieder einmal. Ich packte den Koffer und fuhr los. Es ist ein Dorf im Schwarzenburgerland, einer Art Schweiz zwischen den Stühlen, nicht Berg, nicht Tal, nicht See. Der im Lied besungene "Simeliberg" heißt im Original Guggershorn und ist ein nackter Nagelfluhfels, der wie eine Warze aus dem hügeligen Grasland sticht; ein schmaler Grat wie der Kamm auf dem Kopf eines Leguans. Vom Dorf führt ein steiler, halbstündiger Weg hinauf. Oben ist eine Plattform, von der aus man rundherum schauen kann, übers gesamte Mittelland, vom Jura bis zu den Alpen.

Im Dorf selbst steht seit Jahrhunderten ein behäbiges Schindelhaus, das Hotel "Sternen". Der letzte große Sturm hat dessen Gästetrakt eingedrückt, woraufhin dieser abgerissen und neu errichtet wurde. Die paar Zimmer, alle mit Balkon und prächtiger Aussicht, sind schön geworden. Auf der Wiese davor, die in die freie Natur übergeht, plätschert ein Brunnen. In der Ferne stehen Berge, hinter denen am Abend die Sonne untergeht. Nachts glitzern aus dem Tal Lichter von Häusern empor. Am linken Fensterrand steht die Dorfkirche, deren Glocken nicht zu laut und nicht zu leise die langsam vergehende Zeit schlagen. Vor den kleinen, geschindelten Bauernhöfen rund herum dampft Mist. In den Ställen stehen Kühe und schauen aus der warmen Dunkelheit hinaus.

Das Klima ist unwirtlich. Der Jahresbericht des lokalen Turnvereins liest sich wie eine einzige große Klage darüber: Die eine Veranstaltung fiel aus wegen zu viel Regen, die nächste wegen zu wenig Schnee, die dritte wegen zu viel Trockenheit, die vierte wegen zu starkem Wind. In früheren Jahrhunderten kam es oft zu witterungsbedingten Hungersnöten. Die Einheimischen wanderten in Scharen aus und sangen in Übersee ihr Lied in Moll.

Die Landschaft ist nicht lieblich gewellt, eher struppig zerknittert. Die Wege führen steil hinauf und hinab. Da und dort steht eine Holzbank am Hang, gestiftet von einem Frauenverein oder einem heimwehkranken Australienauswanderer. Man setzt sich drauf, schaut über die verworfenen, mageren Wiesen und Äcker in die Ferne; sitzt da, hört eine Kuh muhen, eine Melkmaschine brummen. Folgt man den Geräuschen, entdeckt man einen Bauern, der im Stall hinter seinen Kühen auf einem Bänklein an der Wand sitzt und vor sich hin schaut. Neben dem Bauern sitzt eine Katze auf dem Boden und leckt sich das Maul; sie wartet auf Milch. Man schaut den beiden durch die oben geöffnete Halbtür zu. Ein Hund beobachtet einen dabei, ohne einen Laut von sich zu geben oder gar aufzustehen.

Man spaziert langsam zurück in den "Sternen", setzt sich an einen der uralten, seidenglatt polierten Klostertische. Das fahle Licht der Energiesparlampen stimmt einen trübsinnig. Das Essen wird aufgetragen, große Portionen, ehrlich gekocht, souverän geradeaus. Die Bedienung freut sich, dass sie etwas zu tun hat. Wenn man fertig gegessen hat, freut sie sich, dass sie nichts mehr zu tun hat. Nicht dass ich sie zu einem Vreneli verklären möchte, aber mindestens benimmt sie sich, als ob sie nicht einsehe, warum sich jemand im einundzwanzigsten Jahrhundert anders benehmen soll als im siebzehnten.

Um halb neun geht man in sein Zimmer. Da es nichts zu versäumen gibt, legt man sich ins Bett und schläft ein. Am nächsten Morgen erwacht man, der Brunnen plätschert, man kann weiterhin nichts versäumen, schläft also noch einmal ein. Wer will, kann im Postauto nach Thun, Bern oder Fribourg fahren. Man kann aber auch in Guggisberg bleiben, ein wenig umhergehen, sich auf eine Bank setzen, übers Land schauen - und einnicken. Nichts treibt einen, nichts hält einen, da ist bloß dieses Lied in der Luft ... Für diejenigen, die es nicht kennen, hier dessen Schluss: "Dört unden i der Tiefi / da steit es Mülirad / Das mahlet nüt als Liebi / die Nacht und auch den Tag / Das Mülirad isch broche / mys Lyd, das het es Änd" "Dort unten in der Tiefe / da steht ein Mühlrad / das mahlt nichts als Liebe / die Nacht und auch den Tag / das Mühlrad ist zerbrochen / mein Leid, das hat ein Ende".


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