Faserspuren am Hals

Der Fall des Regierungsberaters Marco Biagi Zwei Tote, eine "Erselbstmordung" und eine gelöschte Geheimdatei

Morde und Selbstmorde stimulieren die Phantasie. Und wenn solche gewaltsamen Todesfälle im Kontext politischer Ereignisse auftreten, drängen sich Spekulationen auf. Italien ist in diesem Frühjahr zum Schauplatz eines Mordes und eines vorgetäuschten Selbstmordes geworden, die in einem direkten Bezug zu andauernden innenpolitischen Konflikten stehen. Manchmal scheint es, als seien beide Fälle durch unsichtbare Fäden miteinander verknüpft.

Es geschah direkt vor seinem Haus in Bologna, am Abend des 19. März wurde dort der Wirtschaftswissenschaftler Marco Biagi, ein Berater des Arbeitsministers, bei der Rückkehr von einer Fahrradtour erschossen. Die Täter flüchteten zu Fuß und ließen einen Motorroller zurück. Aus Regierungskreisen hieß es sofort, es handele sich "zweifellos um ein Attentat der Neuen Roten Brigaden". Die "antiimperialistische" Terrorgang wird seit drei Jahren für ein Verbrechen mit ähnlichem Hintergrund und Verlauf verantwortlich gemacht: den Mord an Massimo D´Antona am 20. Mai 1999 in Rom, einem ebenfalls für das Arbeitsministerium tätigen Kollegen Biagis.


Attentate mit derselben Waffe



Innenminister Scajola (Forza Italia) wusste bereits am Tage nach der Bluttat, Biagi sei "mit derselben Waffe" erschossen worden wie D´Antona. Bei Kriminologen sorgte dieses Fazit für Verwunderung, da es nach Expertenmeinung kaum möglich ist, in weniger als 24 Stunden über ein eindeutiges ballistisches Gutachten zu verfügen. Dennoch gilt Scajolas stante pede verkündete Überzeugung mittlerweile als amtlich. Woher der Innenminister seine Kenntnis bezog, ist nicht bekannt. Der Umstand, dass eine landesweit operierende, straff geführte Terrorgruppe sich im Verlauf mehrerer Jahre bei zwei Attentaten derselben Maschinenpistole bedient, anstatt die beweiskräftige Waffe nach dem ersten Mord zu "entsorgen", scheint niemandem befremdlich.
Der Mord flankierte auf jeden Fall den heißesten inneren Konflikt seit Berlusconis Amtsantritt: Die Kontroverse um die Arbeitsmarktreform und der Streit um einen ausgehöhlten Kündigungsschutz hatten der heterogenen Opposition wieder zu Einheit und Stärke verholfen. Die Großdemonstration des Gewerkschaftsbundes CGIL in Rom Ende März stand bevor, als die Nachricht vom Tod Biagis über alle hereinbrach. Ein Schock für CGIL-Generalsekretär Cofferati, der sofort und nicht zu Unrecht befürchtete, Berlusconi werde den Mord gegen die Gewerkschaften ausspielen. Prompt bezeichnete denn auch der für verbale Ausfälle berüchtigte Reformminister Bossi von der Lega Nord den Terroranschlag Stunden vor der Demonstration unverblümt als "Kind des Gewerkschaftsprotestes". Premier Berlusconi sekundierte mit "Entsetzen" über ein "allgemeines Klima des Hasses", das den Gewerkschaften zu verdanken und "allseits zu entschärfen" sei. Sein Bemühen, just am Tage des CGIL-Marsches ein pompöses Staatsbegräbnis für den ermordeten Ökonomen in Rom zu zelebrieren, um "die Straße nicht den Linken zu überlassen", scheiterte am Willen der Witwe Biagis, die eine stille Trauerfeier im engsten Familienkreise bevorzugte.
Um einen werbewirksamen Medienauftritt geprellt und durch die eindrucksvolle, alle Rekorde überbietende Gewerkschaftskundgebung im Circus Maximus verunsichert, griff der Premier auf seine brachial populistische Rhetorik zurück: als demokratisch gewählter Regierungschef werde er "dem Druck der Richter, der Plätze und der Pistolen" nicht nachgeben, gab er vor der Presse bekannt. Einmal mehr stellte Berlusconi damit Justiz, demokratischen Protest und Terrorismus auf eine Stufe. "Berlusconi vertritt die Idee, dass die Ausübung eines Verfassungsrechtes mit der zerstörerischen Praxis des Terrorismus gleichzusetzen sei", konterten die Gewerkschaften. Inzwischen nennt Berlusconi seine Arbeitsreform gar "Biagi-Reform", wiewohl der Ermordete die Reformpläne zu Lebzeiten weder eigenständig erarbeitete noch rundweg billigte.
Viele Prominente haben auf die Anomalien des Biagi-Attentats hingewiesen. Nach Ansicht Umberto Ecos etwa widerspricht der Mord in seinem Muster allen bisherigen linksextremistischen Anschlägen: Traditionell habe der Linksterrorismus in Italien Personen bedroht, die an politischen und sozialen Kompromissen mitwirkten; der Wirtschaftsexperte Biagi hingegen sei durch seine Arbeit an der Entstehung eines Konfliktes beteiligt gewesen. Immer habe der Terrorismus außerdem Dialog verhindern wollen, so Eco, hier aber störe der Anschlag keinen Dialog, sondern einen von weiten Kreisen der Bevölkerung mitgetragenen Protest. Demzufolge besitze der Biagi-Mord "keinen destabilisierenden Charakter"; er komme jenen zugute, denen der Protest ein Dorn im Auge sei.
Vor dem 19. März hatte Biagi wiederholt Morddrohungen erhalten, trotz nachdrücklicher Anfrage beim Innenminister jedoch auf Leibwächter verzichten müssen. Selbst einer persönlichen Bitte des Arbeitsministers Maroni (Lega Nord) an den Kabinettskollegen Scajola, für den Schutz seines Mitarbeiters zu sorgen, wurde nicht entsprochen. Scajola hat inzwischen "Versäumnisse" eingeräumt, aber es bleibt ein Rätsel, weshalb Biagi, der sich bedroht fühlte, im Gegensatz zu diversen Kollegen keinen Personenschutz erhielt.
Klärungsbedarf sieht auch Norberto Natali, schwer sehbehindertes Mitglied der terroristischen Vereinigung Iniziativa Comunista, der im Mai 2001 unter dringendem Tatverdacht im Mordfall D´Antona verhaftet wurde. Der Blinde, der stets seine Unschuld beteuert hat und den Behörden ein vorsätzliches Verwischen von Spuren vorwirft, fragte zwei Tage nach dem Biagi-Mord in einem Interview: "Bin ich es diesmal auch wieder gewesen? Meine Verhaftung war eine Irreführung, um die Mörder unbehelligt zu lassen, damit sie wieder zuschlagen können."


Suizid nach einer "wichtigen Entdeckung"



Wer aber sind die Mörder? Schon im Falle D´Antona - 1999 vom damaligen Oppositionsführer Berlusconi als "Abrechnung unter Linken" abgetan - herrschten Zweifel an der Authentizität eines per e-mail versandten "Bekennerschreibens" der Roten Brigaden. Eine entscheidende Rolle bei den Ermittlungen spielte seinerzeit der Informatikexperte Michele Landi, der von der Staatsanwaltschaft mit einer Computerrecherche zum Absender der vermeintlichen Bekenner-Mail beauftragt worden war. Seine Erkenntnisse führten zur Entlastung eines Hauptverdächtigen.
Landi, der wiederholt die Echtheit des "Bekenntnisses" der Roten Brigaden in Frage gestellt hatte, sah sich von den Behörden wegen seiner Erfahrungen auch im Fall Biagi kontaktiert. Doch wenig später, am 5. April, wurde der Informatiker tot in seiner Wohnung am Rande Roms aufgefunden. Er habe sich mit einem langen Seil an einer Treppe erhängt, so die Polizeiversion. Die Tür zu seiner Wohnung fand man von innen verschlossen, doch ein Fenster des im ersten Stock gelegenen Schlafzimmers stand offen. Wie die Überprüfung des noch laufenden PCs ergab, war Landi bis wenige Minuten vor seinem Tod mit der Überarbeitung seines Lebenslaufs beschäftigt. Während Rundfunk und Fernsehen am Abend des 5. April zunächst vermeldeten, eine erste gerichtsmedizinische Untersuchung schließe Fremdeinwirkung nicht aus, wurde tags darauf im amtlichen Obduktionsbefund nur noch von Selbstmord gesprochen.
Am Abend vor der Tat hatte sich Landi mit Freunden in einer Pizzeria getroffen und stolz von einer "wichtigen Entdeckung" gesprochen wie auch dem Gefühl, seit einigen Wochen beschattet zu werden, weshalb er ungern allein zu Hause bleibe. Bekannte des Computergenies wiesen denn auch die Suizidthese sofort energisch zurück, während die Familie des Toten bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Mordanzeige gegen unbekannt erstattete. Bereits erste Erkenntnisse der Spurensicherung hatten die Selbstmord-These erschüttert: Wie am 9. April bekannt wurde, wies die Leiche Fasern auf, die von einer Schnur stammen, die nicht in Landis Wohnung gefunden wurde. Auch rührten die tödlichen Verletzungen nach Ansicht der Gerichtsmediziner nicht vom Kletterseil her, das um seinen Hals geschlungen war. Rätsel gab den Kriminologen ferner ein am Tatort gefundenes Haar auf, das weder Landi noch Freunden oder Verwandten zugeordnet werden konnte. Schließlich erklärte der sizilianische Staatsanwalt Matassa, der zuletzt mehrfach auf Landis Mitarbeit zurückgegriffen hatte, vor Journalisten: "Der Geheimdienst hat Landi ›erselbstmordet‹." Der sei mit seinen Recherchen zur vermeintlich linksextremistischen Terrorszene zu einem Sicherheitsrisiko geworden.
Postwendend erklärte Innenminister Scajola im Fernsehen, die Behörden "sollten von Selbstmord ausgehen" und sich "diskreter" verhalten. Der Auftritt des Ministers zeigte Wirkung: Über einen Monat lang schwiegen Italiens Medien zum Fall Landi beharrlich - bis zum 16. Mai, als die Ermittlungsbehörden neue Untersuchungen präsentierten, die wiederum gegen eine Selbsttötung Landis sprachen: Faserspuren und Verletzungen am Hals des Verstorbenen stammten eindeutig von einem zweiten Seil. Ferner ergab ein toxikologisches Gutachten, dass Landi schwer alkoholisiert war, als er zu Tode kam - ein derartiger Rauschzustand hätte die komplexen zielgerichteten Handlungen der Selbsterhängung kaum zugelassen. Eine weitere Entdeckung veranlasste die Staatsanwaltschaft offiziell ein Verfahren wegen Mordes einzuleiten: Informatikfachleute der Polizei fanden heraus, dass eine nur Landi zugängliche Geheimdatei, die offenbar Informationen zu den Mordfällen D´Antona und Biagi enthielt, kurz nach Landis Tod von dessen PC gelöscht wurde. Folglich müssen sich zum fraglichen Zeitpunkt eine oder mehrere Personen am Tatort befunden haben. Aus dem Innenministerium gab es dazu bislang keine Stellungnahmen.

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