Im Morgengrauen liegen sie ausgestreckt wie Leichen in dem engen Stationsraum, auf schmutzigen Bodenmatten und in verbogenen Schlafkojen aus Metall. Dicht beieinander, haben einige noch ihre Uniform vom Vorabend an. An einem typischen Tag in Aleppo würde ein Dröhnen sie wecken – das Geräusch der Hubschrauber und Kampfflugzeuge, die ihre ersten Bomben über dem von den Rebellen besetzten Teil der Stadt abwerfen. Aber an diesem Morgen bleibt es ruhig.
Gleich nebenan steht Khaled Hajjo, Leiter des Zivilschutzteams von Hanano, vor seinem Büro. Während er an der ersten von vielen Gitanes zieht, lässt er den Blick schweifen. Die Station, ein einstöckiger Bau, liegt an einem fußballfeldgroßen asphaltierten Platz; auf der einen Seite eine vier Meter hohe Mauer, am anderen Ende ein kaputter Hebekran über einem riesigen Stapel alter Autoreifen. Vor dem Krieg ist das hier ein Schrottplatz gewesen.
Die Baracke ist nicht stabil gebaut, und das Stadtviertel Hanano liegt nah an der Front, es ist den Bomben wie dem Artilleriefeuer gleichermaßen ausgesetzt. Schon eine Mörsergranate würde wahrscheinlich ein Loch ins Dach schlagen, ganz zu schweigen von den schweren Haubitzengeschossen, die manchmal hier einschlagen. Doch der Platz hat auch seine Vorteile: Er liegt auf einer Anhöhe und ist von niedrigen Gebäuden umgeben, man kann die Rauch- und Staubsäulen der Bombentreffer sofort sehen und zu Hilfe eilen.
Seit das Team vor mehr als einem Jahr gebildet wurde, sind sie hier. Sie haben den langen Winter der Massaker erlebt, als die Bevölkerung verzweifelt vor Assads Bomben aus Aleppo floh. Genau hier, auf diesem Platz inmitten der zweitgrößten Stadt Syriens, sind sie zu Hause. Vor der Station parkt ein kirschroter Lastwagen mit der Aufschrift „FREIW. FEUERWEHR“; jemand hat auf Arabisch „Zivilschutz Aleppo“ daruntergesprüht. Das Auto zeigt Spuren seines monatelangen Kriegseinsatzes. Wie Pockennarben überziehen Einschusslöcher die Türen, die Windschutzscheibe ist voller Risse. Aber nach wie vor fährt das Auto sie zuverlässig zu den Orten des Grauens.
Dort haben sie das Trauma von Aleppo immer aus nächster Nähe erlebt. Die Männer vom Zivilschutz zählen zu den wenigen Ersthelfern, die hier noch für die Zivilbevölkerung im Einsatz waren. Sie haben Verletzte in Sicherheit gebracht, Leichen eingesammelt und Feuer gelöscht. Doch berühmt wurden sie, über die Grenzen Syriens hinaus, für ihre dramatischen Rettungsaktionen, für all die Überlebenden, die sie aus den Trümmern bergen konnten.

Foto: Sebastiano Tomada/Reportage by Getty Images
Nach einem Bombeneinschlag drängen sie sich zu zehnt oder mehr auf die zwei Sitzbänke und rasen los. Der Laster hat eine schlabberige Federung, jedes Schlagloch wirft die Männer durcheinander wie Wechselgeld in einer Blechbüchse. Die Sirene stößt dabei ein altmodisches Geheul aus, monoton und ohrenbetäubend. Manchmal treffen sie einen Krankenwagen und liefern sich mit ihm ein Wettrennen; oft aber sind sie die Ersten am Einsatzort. Auf dem Weg lehnen sie sich aus den Fenstern und fragen Passanten, wo die Bombe gefallen sei. Sie sehen den Leuten an, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Zuerst ist es nur ein ausgestreckter Arm oder ein Schulterzucken, doch je weiter sie sich nähern, desto aufgewühlter sind die Menschen, Augen voller Panik, wenn jemand gerade knapp dem Tod entronnen ist oder um einen eingeklemmten Nachbarn bangt. Die Einsätze sind gefährlich, weil das Regime eine Taktik der Doppelschläge verfolgt, also dieselbe Stelle oft ein zweites Mal bombardiert, um auch noch die Retter und die zusammengelaufene Menge zu treffen. Auf diese Weise sind im März drei Männer aus dem Hanano-Team getötet worden und mit ihnen ein ägyptisch-kanadischer Fotograf, der ihre Arbeit dokumentieren wollte.
Khaled schnippt die Zigarette auf den Boden. Er ist 30 Jahre alt und sieht eher aus wie frisch von der Uni als wie jemand, der das vergangene Jahr in Blut und Schutt verbracht hat: struppiges Haar, große, gerade Nase und eckiger Kiefer, volle Lippen und Wangen. In dieser zunehmend von antiwestlich-islamistischen Gruppen beherrschten Stadt hat er bis vor kurzem noch einen Pferdeschwanz getragen. Wenn er lächelt, legt sich ein Netz von Krähenfüßen in seine Augenwinkel, doch meist bleibt sein Gesicht unerschütterlich ruhig, selbst im Angesicht des Todes. Es war vor allem diese Ruhe, die ihm den Respekt und Gehorsam seiner unbändigen Truppe gesichert hat. „Gerade die Stillen sollst du fürchten“, sagt Surkhai. Er ist der Spaßvogel im Team.
Nachdem er sich im brüchigen Nebengebäude, das ihnen als Badezimmer dient, das Gesicht gewaschen hat, kommt Khaled zurück in sein Büro. Das Mobiliar besteht aus einem verschrammten Schreibtisch, einem Regal, in dem sich der gesamte Papierkram der Station stapelt, und ein paar kleinen Sofas. An der Wand hängt ein Zertifikat, auf dem die Stadtverwaltung ihre Wertschätzung kundtut. Von der Decke baumeln zwei nackte Glühbirnen.
Khaled hört, wie der Rest des Teams wach wird. An diesem Tag konnte er auf einige seiner zuverlässigsten Veteranen zählen – die eigentlich alle noch junge Burschen sind. Mit 28 Jahren zählen die Zwillinge Surkhai und Shahoud, stämmig und dicht behaart, außer auf ihren Köpfen, zu den Ältesten. Die meisten anderen sind 20 oder 21, der dürre Ali mit Vokuhila erst 19. Und Ahmed, ein schlaksiger Junge mit Spitzbart, wie sein Vater Feuerwehrmann, hat als Einziger schon vor dem Krieg Erfahrung in Erster Hilfe gesammelt. Insgesamt sind sie 30 Männer, aber sie arbeiten in Schichten, sodass sich normalerweise nur etwa ein Dutzend von ihnen in der Station aufhält. Außer Khaled, dem Leiter: Er hat noch nicht einen Tag Pause gemacht. Er liebt das Team, die Nähe und emotionale Verbundenheit. Diese Jungs sind sein Leben geworden. Sein altes Selbst, der Jurastudent und Berufsschullehrer, scheint so fern wie sein Elternhaus, das auf der vom Regime kontrollierten Seite liegt.
Unheimlich ruhig
Die Stille des Morgens zieht sich bis in den Nachmittag. Khaled kann nicht glauben, wie ruhig es ist. Geradezu unheimlich. Zwei Tage zuvor hat es das letzte große Blutbad gegeben, eine Bombe traf den Gemüsemarkt und tötete mehrere Dutzend Menschen. Vielleicht, mutmaßten die Männer, standen Assad und seine Leute unter Schock, so wie alle anderen: Ein paar Tage zuvor war die irakische Stadt Mossul der Terrormiliz IS in die Hände gefallen.
Die Sommerhitze ist drückend, und Khaled beschließt, die Männer heute nicht zum Training oder zum Putzen zu scheuchen. Ahmed spielt mit Lulu, der räudigen Calicokatze, die sich hier herumtreibt, und Surkhai und Ali mischen bei einer unkonzentrierten Kartenpartie im Kojenzimmer mit. Währenddessen nimmt Khaled Annas beiseite, er will ihn auf eine Führungsrolle vorbereiten. Die beiden Männer setzen sich auf eins der Sofas und sprechen über das Team. Wer kommt gerade gut zurecht, wer braucht eine Pause? Annas hat den grazilen Wuchs, die langen Wimpern und zarten Gesichtszüge eines Teenie-Idols; er ist erst 21, sieht aber viel jünger aus. Hinten in seinem Gürtel trägt er eine Pistole. Manchmal hänseln ihn die anderen dafür, dass er so hübsch ist. Jetzt, wo in der Stadt fast keine jungen Frauen mehr zu sehen sind, fangen sogar die Männer an, ihm schöne Augen zu machen, scherzt er. „Neulich auf dem Markt“, erzählt Annas den anderen und zieht an einer Winston, „trat ein Dschihadist mit langem Bart auf mich zu. – ‚Ya Scheich, ya Scheich!‘ ‚Was ist?‘ ‚Rauchen ist Sünde!‘ ‚Ich weiß.‘ Er sah mich von oben bis unten an. ‚Ya Scheich, ya Scheich!‘ ‚Was?‘ ‚Kann ich dein Facebook-Freund werden?‘“
Die ganze Gruppe bricht in Lachen aus. Sie sollen die Flaute genießen, denkt Khaled. Jeder in Syrien sucht verzweifelt nach Arbeit, außer ihnen. Andererseits wird das Team schnell nervös, wenn nichts passiert. Das gemeinsame Risiko schweißt sie zusammen. Sie haben sogar ein eigenes Lied, das sie singen, wenn sie zum Einsatzort rasen: „He, Scheißer, du bist begraben. / Wir kommen, um dich zu finden. / He, Scheißer, du stehst in Flammen. / Wir kommen, um dich zu löschen.“

Foto: Sebastiano Tomada/Reportage by Getty Images
Als das Abendlicht die Schatten lang werden lässt, hören sie in der Ferne das Dröhnen. Assads Hubschrauber sind zurück. Die Männer haben ein feines Ohr für die Geräusche der Stadt, so wie Jäger für die Geräusche der Tiere im Wald. Nachts, wenn er schon in seiner Koje liegt, macht Ahmed manchmal die unterschiedlichen Klänge nach: „Das ist ein Artilleriegeschütz. Und hier ein Kampfflieger. Jetzt schießt er mit seiner Duschka.“
Ab und zu fliegt einer der Hubschrauber genau über ihnen, und sie halten dann still. Am Schlag der Rotorblätter können sie hören, ob er weiterfliegen oder halten wird. Wenn ein Helikopter in der Schwebe bleibt, um seine Bomben abzuwerfen, ähnelt sein Klang dem tiefen Grollen eines Düsentriebwerks. Diesmal fliegt er sehr hoch, ist nur ein bleicher Punkt am Himmel, und als sie auf den Platz hinaustreten, um ihn zu beobachten, sehen sie einen zweiten, kleineren Punkt, der sich von ihm löst und langsam zur Erde gleitet. Ein Knall in mittlerer Entfernung verkündet den Aufprall. Es ist ein „Hirschkuh“-Transporthubschrauber aus russischer Produktion, der Fassbomben wirft; jene improvisierten, aber verheerenden Explosionswaffen, die das Regime mit Vorliebe einsetzt. Sie bestehen aus alten Benzinfässern oder Gasflaschen, gefüllt mit bis zu 1.000 Kilogramm TNT sowie Metallschrott und Stahlgitterteilen, die sich bei der Detonation in glühend heiße Splitter verwandeln. Ein einziger Treffer reicht oft aus, um einen der schlampig gebauten Wohnblöcke zum Einsturz zu bringen. Gezielt abwerfen lassen sie sich nicht, doch das ist den Regierungstruppen egal. Bei den Fassbombenangriffen geht es darum, die Bevölkerung zu terrorisieren und die Stadt unbewohnbar zu machen.
Das Team wartet auf den zweiten Abwurf – meist sind die Helikopter doppelt bestückt –, dann springen die Retter in den Lkw und rasen zur Explosionsstelle. Ihr Fahrer, Abu Sabet, ein schon etwas älterer Mann mit traurigem Gesicht, der sonst ein Taxi fährt und vor dem Krieg Sattelzüge gesteuert hat, peitscht den Laster behände durch die schuttübersäten Straßen. Die Bombe ist in einer spärlich bebauten Gegend gefallen. Einige Anwohner stehen herum und sagen, niemand sei getroffen worden. Doch Khaled will sichergehen und lässt das Team aussteigen. Sie kriechen über die verstreuten Mauerstücke, die Luft ist noch erfüllt vom Betonstaub, der im Abendlicht golden glitzert. „Al defa al madani, hada houn?“, brüllen sie in die Trümmer: „Zivilschutz, jemand da?“ Keine Antwort. „Gehen wir, Jungs“, ruft Khaled und wedelt mit seinem Funkgerät. Der Helikopter könnte wiederkommen.
Licht als Dunkelheit
Zurück an der Station lungern sie herum und machen Witze. Plötzlich reckt Abu Sabet den Arm: „Ein Flugzeug!“ Alle springen auf und blicken zum Himmel. Aber es ist nur ein erster Stern in der lavendelfarbenen Dämmerung.
„Sie fliegen nicht mit Licht an“, spottet Annas. „Vielleicht hat der Pilot die Handbremse nicht gelöst“, scherzt Surkhai. Mit verlegener Miene steigt Abu Sabet in sein Taxi und fährt nach Hause. Er hat Frau und Kinder, die noch immer in Aleppo leben. Der Rest des Teams lässt sich wie jede Nacht im Kojenzimmer nieder. Dort gibt es außer den Schlafplätzen noch einen Ventilator, einen Gasbrenner und einen kleinen Fernseher, auf dem sie die Nachrichtensendungen der Rebellen und des Regimes empfangen können. Einer der Jungs hat eine Schüssel Pflaumen mitgebracht. Die von den Rebellen gehaltene Hälfte der Stadt ist noch nicht vollständig eingekesselt. Zwar rücken Regierungstruppen und IS-Kämpfer von beiden Seiten näher, aber noch gibt es ein paar offene Lebensmittelmärkte. Sie lutschen die sauren Kerne und knacken Erdnüsse. Eine Stunde vergeht. Dann schlägt ein gewaltiger Blitz ein.
Bei einer Explosion in nächster Nähe erlebt man Licht als Dunkelheit und Lärm als Stille. Weil einem die Ohren lauter dröhnen als alles andere und man umhüllt ist von Staub und Qualm. Die Luft füllt sich mit umherfliegenden Steinbröckchen, die Männer werfen sich auf ihre Hände, der Boden ist plötzlich mit Schutt bedeckt. Khaled springt als Erster auf und hastet auf den stockdunklen Platz. Die Station ist zur Hälfte eingestürzt, der Strom ausgefallen. Einer aus dem Team, Omar, ist verletzt. Ein paar Männer legen ihn in den Lkw und starten mit quietschenden Reifen. Die anderen rennen über die Straße und ducken sich zwischen zwei eng beieinanderstehende Häuser. Wieder hören sie Flugzeuge und sehen aus den Stellungen der Rebellen die Leuchtspuren der Luftabwehr aufsteigen. Noch eine Explosion in der Nähe. Die Tür eines der Häuser fliegt auf, ein junges Paar, der Mann mit einem Baby im Arm, rennt heraus und flieht in die Nacht.

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Nach etwa 20 Minuten ist das Bombardement vorbei. Annas und Surkhai treten auf die Straße. Als gelber Halbkreis ist der Mond über der Station aufgestiegen. Keiner bleibt im Haus, aus Angst, die Flugzeuge greifen noch einmal an. Ein Krankenwagen prescht heran, der Fahrer springt heraus. „Als ich die Bombe bei euch fallen sah, bin ich gekommen, so schnell ich konnte“, ruft er. „Gott hat euch gerettet, weil er will, dass ihr andere rettet!“
Der Feuerwehrwagen ist zurück, und Khaled sagt: „Omar ist okay. Er hat nur was auf den Fuß gekriegt.“ Für einen Moment hält er still und schaut in die Runde. Die Jungs sehen mitgenommen aus. Aber das Hanano-Team ist noch nie von einem Einsatzort geflohen. „Wir bleiben heute Nacht hier und bewachen die Station“, beschließt Khaled. „Morgen schauen wir uns dann nach einer neuen Bleibe um.“ Die Jungs nicken, zünden sich Zigaretten an und klopfen weiter ihre Sprüche. „Ich hoffe, wir ziehen in eine schöne große Schule“, sagt Annas. „Schulen bombardieren sie doch am liebsten“, erwidert Surkhai. Sie setzen sich auf den Bordstein, die Schultern aneinander, und lauschen dem Beschuss.
Am nächsten Tag sehen sie dann, wie nah die Bombe gefallen ist. Wo das Nachbarhaus gestanden hat, klafft nun ein riesiger Krater voller Trümmer. Die Bombe hat das Haus zerschmettert und 15 Meter von der schweren Steinmauer um den alten Schrottplatz eingerissen. Auch ein Teil der Station ist zerstört worden. Noch zehn Meter näher, und sie wären alle tot. Nun müssen sie sich eine neue Unterkunft suchen. An leer stehenden Gebäuden mangelt es in Aleppo nicht, Khaled hat schon eine Schule in der Nachbarschaft inspiziert. Ein solider dreistöckiger Bau mit Keller, in dem sie Schutz suchen können, und einem großen Parkplatz für die Lkw. Ein guter Ort. Khaled funkt ein anderes Rettungsteam an – vier von ihnen gibt es in Aleppo – und bittet um einen Kipplaster, um darauf ihre Ausrüstung zu verladen. Während sie den Kipper bepacken, hören sie das Dröhnen eines anfliegenden Hubschraubers und rennen in Deckung. Zwei Einschläge in dichter Folge. Die Männer kommen wieder hervor, klopfen sich den Staub ab und witzeln, wer von ihnen sich am schnellsten verkrochen hat.
Ein Notruf auf dem schäbigen Funkgerät: Zivilisten sind getroffen worden. Khaled bestimmt seinen Schützling Annas zum Anführer, und mit Sirenengeheul rast eine kleine Mannschaft der Rauchsäule entgegen. Die Einschlagstelle liegt auf einer großen Durchgangsstraße im Stadtteil Sakhour, an einer Kreuzung, wo ein hoher Erdwall zum Schutz vor Heckenschützen aufgeschüttet war. „Stopp stopp stopp stopp stopp!“, brüllt Annas, noch in sicherer Entfernung. Das Team springt aus dem Wagen und rennt auf die Stelle zu.
Zwei Fassbomben hat der Hubschrauber abgeworfen: Die eine hat einen Krater in die Straße gerissen, die zweite in den Park daneben. Überall liegen Autos verstreut, von manchen bleiben nur unförmige Blechklumpen. Eine Menschenmenge hat sich versammelt, Rebellen und Zivilisten, auch mehrere Krankenwagen. Ali hastet zu einem Bündel auf dem Gehsteig. Ein dicker Mann, von Staub bedeckt. Die Explosion hat ihm die Kleider vom Leib gerissen und ihn in Höhe des Nabels in zwei Hälften zerfetzt. Seine Eingeweide liegen hinter ihm, und eins seiner Beine hängt ihm über die Schulter. Er liegt mit dem Gesicht zur Erde, die Augen geschlossen, doch als Ali bei ihm ist, hebt und senkt sich sein Brustkorb ein einziges Mal. Dann bleibt er reglos. Ali streift ein Paar weißer Latexhandschuhe über. Dem Mann ist nicht mehr zu helfen. So gut es geht, sammelte Ali die Körperteile in einer Decke und trägt sie in einen Krankenwagen.
Gläubige Muslime
„In dem Auto sind Kinder!“, schreit ein Rebell. Annas rennt zu einem blauen Kleinwagen, der aussieht, als hätte man ihn vom Himmel geworfen. Mit einer Brechstange stemmt er die Tür auf. Auf dem Rücksitz sitzen eine Mutter und ihre Kinder. Ihr wurde durch die Explosion der Kopf abgetrennt, die Kinder sind bleich und reglos. Als er ihre Körper aus dem Auto zieht, sieht Annas, warum. Dem Jungen fehlt das rechte Bein vom Knie abwärts, er ist verblutet. Seiner Schwester hat ein Bombensplitter die Brust durchschlagen.
In der Nähe der Einschlagstelle gibt es mehrere Krankenhäuser, die Verletzten – darunter der Vater der Kinder – sind schon abtransportiert worden. Die Retter stellen fest, dass sie nur noch Leichen bergen können. Aber sie arbeiten fieberhaft. Es ist ein offenes Gelände, der Hubschrauber könnte jeden Augenblick zurück sein. Die Luft, drückend heiß, ist erfüllt von beißendem Gestank. „Ein Flugzeug“, ruft jemand, und die Menge stiebt auseinander wie eine Schafherde in Panik. Falscher Alarm. Als sie die letzte Leiche aus den Trümmern gezogen haben, steigen die Retter wieder in den Lkw und eilen zurück zu ihrer alten Station. Der ganze Einsatz hat 15 Minuten gedauert.
Es gibt nicht einmal Wasser, mit dem sie sich das Blut von den Händen waschen können. Beim Einschlag in der Nacht zuvor ist auch das Bad zerstört worden. In den letzten 24 Stunden hat keiner von ihnen ein Auge zugetan, aber alle helfen mit, die Station auszuräumen: die Betten und Tische, die vom Westen gespendete Rettungsausrüstung. Surkhai und Ahmed schleifen das alte Sofa aus Khaleds Büro heran, doch als sie es anheben, gibt es ein klagendes Maunzen von sich. „Lulu!“, ruft Ahmed. Sie schütteln die Couch, da springt die Katze zu Boden. Noch eine Überlebende.
Die neue Hanano-Station, eine L-förmige Festung mit Mauern aus Beton und Stein, ist vor dem Krieg eine Grundschule gewesen. Seither hat sie, wie viele öffentliche Gebäude, viele Nutzer gehabt. An ihren Wänden kann man in mehreren Schichten von Graffiti die Geschichte der abgewürgten Revolution sehen: ein vielleicht noch vorrevolutionäres „Freies Syrien!“, der Slogan der Demonstranten; die Namen einiger Rebellenmilizen, die in Aleppo die Macht übernommen haben; und schließlich die schwarze Flagge des IS.

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Auch wenn fast alle im Team gläubige Muslime sind, hat fast keiner etwas für die Fundamentalisten übrig. Sie waren das Regime von Baschar al-Assad leid und haben sich darum 2011 den friedlichen Demonstrationen des Arabischen Frühlings angeschlossen. Erst nachdem die Regierung die Proteste blutig niedergeschlagen hat, wurde aus der Bewegung eine bewaffnete Rebellion. Im Juli 2012 haben die Rebellen halb Aleppo eingenommen, und seither herrscht in der Stadt eine Pattsituation.
Anfangs war das Leben im dem von Rebellen besetzten Teil voller Hoffnung. Vorstöße der Kämpfer hatten Versorgungswege in die Türkei geöffnet, und Flüchtlinge aus den ersten Gefechten kamen zurück. Die Märkte wimmelten von Menschen, ihr Angebot war reichlich, und viele Zivilisten erboten sich als ehrenamtliche Helfer der neuen Stadtverwaltung. Damals schloss sich auch Khaled einem Büro der Rebellen an, das Lebensmittel an Bedürftige verteilte; später sprang er noch als Lehrer an einer Schule ein.
Doch die Luftangriffe gegen Zivilisten häuften sich. Im Februar 2013 schlugen mehrere Scud-Raketen ein, zerstörten Dutzende Häuser und tötete Hunderte Menschen. Rettungsteams wurden verzweifelt gebraucht. Die Bomben begruben nämlich auch zahllose Menschen unter Schutt. Jeder Treffer ein Erdbeben. War ein Gebäude eingestürzt, strömten die Nachbarn herbei und begannen hastig an den Trümmern zu zerren. In dem Chaos erstickten die Hilferufe der Eingeschlossenen. Es war möglich, die Verschütteten zu retten, doch dazu bedurfte es ausgebildeter Einsatzkräfte. Das Hanano-Team war dann das erste in Aleppo, gebildet von Einwohnern, die schon im zivilen Widerstand gearbeitet hatten. Surkhai und sein Zwillingsbruder Shahoud zählten zu den Gründungsmitgliedern, Khaled kam wenig später hinzu.
Zur selben Zeit hatte die in Istanbul ansässige Hilfsorganisation ARK Spendengelder aus den USA und Großbritannien bekommen, mit denen „nicht-tödliche Hilfe“ für die syrische Opposition finanziert werden sollte. Bevorzugte Empfänger der ARK sind die Rettungsteams. In Zusammenarbeit mit der türkischen Organisation AKUT, die auf Erdbebenhilfe spezialisiert ist, richtete sie im Süden der Türkei ein Ausbildungszentrum ein. Dort haben die Jungs aus Hanano die wichtigsten Techniken des urbanen Rettungswesens gelernt, Erste Hilfe und Brandbekämpfung. Und kehrten dann nach Syrien zurück.
Es war höchste Zeit. Im Herbst 2013 gewannen Assads Truppen zunehmend die Oberhand. Nachdem das Regime im August in einem Vorort von Damaskus über tausend Menschen mit dem Giftgas Sarin ermordet hatte und der Westen dennoch nicht eingriff, startete Assad eine neue Offensive. Aleppo, die Metropole des Nordens, zählte zu seinen Hauptzielen. Im November begann er die Angriffe zu verschärfen. Innerhalb von zwei Wochen wurden mehr als 500 Menschen getötet, fast ausschließlich Zivilisten. Das Hanano-Team war pausenlos im Einsatz, eilte von Massaker zu Massaker. Bei alldem hielten die Männer immer zusammen. Im ersten Jahr gaben nur zwei von ihnen auf, der eine, weil seine Familie darauf bestand. „Die Leute warten auf uns“, sagt Khaled seinem Team bei jedem Einschlag. „Wir wissen, dass sie auf uns warten.“
Ihr Motto ist die fünfte Sure des Korans: „Wenn jemand ein Leben rettet, ist es, als habe er die ganze Menschheit gerettet.“ Bei allen Witzeleien, das war ernst. Sie waren da, um den Schwächsten, den Hilflosesten beizustehen. Selbst wenn es sie das eigene Leben kostete. Selbst nachdem drei ihrer Kollegen getötet worden waren. Selbst nachdem ihre Station zerstört worden ist. Sie waren da, damit andere leben konnten.
Am Abend sieht die Schule schon ein wenig wie die alte Station aus. Es gibt hier jede Menge Platz. Die Männer bringen die Ausrüstung in einem Klassenraum unter, an der Tür klebt noch ein IS-Aufkleber. Sie räumen eine Kellerparzelle aus und stellen dort die Betten auf. Sie hätten sich auf mehre Räume verteilen können, doch sie sind es gewohnt, gemeinsam zu schlafen. Khaled stellt seinen Schreibtisch und die Couch im Zimmer neben dem Raum mit der Ausrüstung auf. „Wie ein Fünf-Sterne-Hotel“, sagt er. „Ich vermisse die alte Station“, seufzt Surkhai.
Sie sitzen auf dem Boden in ihrem Freizeitraum und schauen den Rebellensender Halab al Youm (Aleppo Today). Das Zimmer ist auf orientalische Weise eingerichtet, Teppiche und Kissen U-förmig an die Wände gelegt. Trotz der düsteren Wirklichkeit im Land bleibt das Programm hoffnungsfroh, sendet Clip um Clip über Rebellen, die Panzerabwehrraketen und Mörsergeschosse auf Stellungen der Regierungsarmee feuern. Dann erkennen die Männer sich selbst. „He, da sind wir!“, ruft Annas und dreht lauter. Der Sprecher sagt, das Regime habe die Station des Zivilschutzes Hanano gezielt zerstört, doch niemand sei verletzt worden. „Wir hätten ihnen sagen sollen, dass wir alle bei der Explosion umgekommen sind“, sagt Ali. „Dann würde Baschar uns vielleicht in Ruhe lassen.“
Wie lange leben wir noch?
Shahoud, der ältere der Zwillinge, kommt mit einem großen Teller voll frischem Gemüse, Fladenbrot und Mezze – Tapenade und Hummus – herein. „Glaubt ihr, wir haben noch lange zu leben?“, fragt er und tätschelt sich den Bauch. „Lasst uns essen, damit wir wenigstens das nicht verpassen.“ Und alle langen zu.
„Jungs, ich werde abtrünnig“, sagt sein Bruder Surkhai, als sie sich Zigaretten anzünden. Er hält sein Handy hoch, mit dem Foto einer leicht bekleideten blonden Frau, die mit zwei Regierungssoldaten posiert. „Seht euch das Mädchen an und seht euch eure Bärte an“, fügt er hinzu und schüttelt angewidert den Kopf. „Alle tollen Mädchen sind in den Regimegebieten“, sagt Annas. „Wir haben bloß al Qaida.“ „Ja, schau uns an“, stöhnt Surkhai. „Baschar sitzt den ganzen Krieg über im Whirlpool und fickt Mädchen. Ich bin so rallig, aber ich glaube, ich könnte nicht mal mehr eine schwängern, nach diesem Leben hier.“ „Warum fickt ihr euch nicht selbst?“, schlägt Ali vor.
Khaled lacht schüchtern. Er hat noch nie mit einer Frau geschlafen. Vor dem Krieg hatte er ein Mädchen gekannt, doch sie hat einen anderen geheiratet. Die meisten sind ähnlich unerfahren. Manche, wie der romantische Ahmed, sind verlobt, aber nur Shahoud hat Familie. Der Krieg hat ihre Pläne durchkreuzt; es gibt nicht viele Familien, die ihre Töchter einen vom Zivilschutz heiraten lassen würden.
Die Zeit zwischen den Einsätzen vertreiben sie sich vor allem mit Wortgefechten. Je mehr sie aneinander hängen, desto böser die Scherze, vor allem bei Surkhai, dem Clown der Mannschaft. Er hat eine tennisballgroße Metallkugel gefunden, und wenn er sie über den Steinboden rollen lässt, ist das Geräusch dem Grollen eines angreifenden Kampfjets gespenstisch ähnlich. Also lässt er sie im Rücken der anderen rollen und lacht, wenn sie sich erschrecken. In so ein Team kommt man nicht leicht hinein. Am Nachmittag hat sich ein 19-Jähriger namens Ammar vorgestellt. Sie könnten neue Leute gebrauchen, aber Khaled ist skeptisch. Er wird ihn für ein paar Wochen auf Probe nehmen und sehen, wie er mit den Leichen und mit den Doppelbombardements zurechtkommt. Bewerber gibt es viele, doch wenige halten länger als eine Woche durch. Khaled trägt Shaben, einem Veteranen, der schon acht Monate im Team ist, auf, sich um den Neuling zu kümmern.
Überall Puppenhäuser
Jeder hat einen Spitznamen. Ali, der einem Windhund ähnelt, wird Sankour genannt, was so viel wie Gammler heißt. Latif, der in seinen Shorts und mit seinem Wuschelkopf einem kalifornischen Surfer ähnelt, heißt Zawahiri, nach dem derzeitigen Anführer von al Qaida: Seine beiden älteren Brüder kämpfen für die Al-Nusra-Front, und er selbst ist ebenfalls für eine Dschihadistengruppe in den Krieg gezogen. Wenn man ihn fragt, ob er deren Vision eines syrischen Scharia-Staates teilt, nickt er lächelnd: „Inschallah.“ Seine Eltern haben entschieden, zwei Söhne an der Front seien genug, und Latif gezwungen aufzuhören. Doch er lechzte nach Abenteuern und sagte ihnen, wenn er im Krieg sterben sollte, dann als Märtyrer. Als er erfuhr, wie gefährlich der Zivilschutz war, bewarb er sich.
„Er will ein Märtyrer werden?“, fragte Khaled, der zufällig mitgehört hat, mit ungläubigem Lachen. „Er ist doch ein Frauenheld!“ Die anderen johlen. „Gerade erst hat er ein Date gehabt, im Grenzlager bei Azaz.“ Nicht gerade vorbildhaftes Verhalten für einen Extremisten. „Sie ist meine Verlobte“, protestiert Latif und tut so, als zeigte er auf einen Ring an seinem Finger. „Meine Verlobte!“ Das Gelächter wird noch lauter.
Der Klang eines nahenden Hubschraubers weckt sie. Khaled zieht sich die Decke über den Kopf wie ein mürrischer Teenager. Der Knall ist so nah, dass die Türen zuschlagen und ein Fenster zerbirst. Sie warten den zweiten Einschlag ab, dann rennen sie zu ihrem Laster. Abu Sabet kommt gerade mit frischem Brot an. „Es ist in Sakhour“, ruft er. Und los gehts.
Gleich um die Ecke ist die Bombe gefallen, sie hat ein leer stehendes Haus komplett zerstört und von dem siebenstöckigen Wohngebäude nebenan die vordere Hälfte weggerissen, sodass man in Küchen und Badezimmer schauen kann wie in ein Puppenhaus. Es gibt zwei Tote, und in den oberen Wohnungen sitzen Frauen und Kinder fest. Das Team sieht von unten zu, wie Ahmed und Annas durch die freiliegenden Reste des Treppenhauses hochsteigen und die Überlebenden auf ihren ineinander gehakten Armen wie in einem Sessellift heruntertragen. Die Gesichter der Frauen sind vom Staub weiß wie bei Geishas. Auf dem Rückweg lehnt Ahmed seinen Kopf zufrieden an Annas’ Schulter. Es fühlt sich gut an, jemanden aus den Trümmern geholt zu haben. Es ist ein Sieg über die Bomben.
Am Vormittag kommt Abu Sabet mit seinem Taxi zurück, und Khaled beschließt, eine Runde durch die anderen Stationen zu machen. Die ARK hat ihn um eine Liste von Kandidaten für eine neue Ausbildungseinheit in der Südtürkei gebeten, sie soll sich aus Mitgliedern der vier Rettungsteams und der Feuerwehr zusammensetzen. Khaled braucht nun Empfehlungen von den Leitern der anderen Stationen, und so fährt er zuerst zur nächstgelegenen, Bab al-Nerab. Als auf sein Türklopfen niemand reagiert, tritt er ein und steigt in den zweiten Stock. Es ist fast Mittag, doch der Leiter, Abu Rajab, trägt noch seinen Schlafanzug und reibt sich die Augen.
Khaled zählt ihm die Anforderungen der ARK auf und nennt die Teilnehmerzahl pro Lehrgang – es wird ein Grundlagentraining geben, eins mit schwerer Ausrüstung, einen Kurs in medizinischer Erstversorgung und einen Leiter-Kurs. Abu Rajab hört geistesabwesend zu und notiert sich nichts. „Okay, danke“, sagt Khaled und versucht, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Er fährt weiter zum Feuerwehrteam, das ebenfalls Abu Rajab untersteht. Dort trifft er auf einen ehemaligen Schützling, der ihm einen Pappbecher Cola eingießt und über seinen Chef zu schimpfen beginnt. Khaled schüttelt den Kopf. „Was ist mit dem Funkgerät?“ Aus der Station Bab al-Nerab sind schon mehrere Funkgeräte verschwunden. „Er sagt, es sei ihm zu Hause gestohlen worden.“ „Das heißt, er hat es verkauft.“ Khaled seufzt. Solche kleinen Delikte werden mehr und mehr zum Problem. Früher war der Zivilschutz eine reine Freiwilligenarbeit, aber inzwischen werden sie von der Stadtverwaltung bezahlt. „Morgen schicke ich euch einen Jungen aus meinem Team, der wird euch helfen, okay?“ Khaled tätschelt den Kollegen am Knie. „Wenn Abu Rajab nicht gut arbeitet, schmeißen wir ihn raus.“ Er trinkt seine Cola aus und sagt noch: „Kann sein, dass wir viele rausschmeißen müssen.“
Kaum Erinnerung an früher
Vor dem Haus zündet sich Khaled wieder eine Zigarette an. Am Anfang hat er geholfen, die anderen Teams in Aleppo zusammenzustellen. Doch dann wurde das Zivilschutzprogramm in die Stadtverwaltung eingegliedert, die wiederum eine Abteilung des Syrischen Nationalrats war, der Exilregierung der Rebellen. So wollten es die Spender, auch wenn Khaled und sein Team sie als eine Bande korrupter Politiker beschrieben, die es sich einem türkischen Luxushotel gutgehen ließen. Sie haben dann ihre Kumpels, wie den Faulpelz Abu Rajab, mit Jobs versorgt. Sie mochten Khaled nicht, doch sie konnten ihn nicht loswerden, denn er besaß schon zu viel moralische Autorität. Als die drei Männer aus dem Hanano-Team im Einsatz umgekommen waren, hatte sich die Stadt geweigert, ihren Familien weiter den Lohn zu zahlen. Khaled und seine Jungs gingen mit Transparenten auf die Straße, die Medien berichteten, dann wurde das Geld doch gezahlt.Wenn Khaled seinen Einfluss geltend machen will, so muss er das mittels seiner Schützlinge tun und sie über alle Teams der Stadt verteilen.
Mit dem Krieg hat sich die Revolution verändert, findet er: Inzwischen geht es nur noch um Macht und um extreme religiöse Haltungen. Wie zum Beweis rollt, als er vor der Feuerwache steht, ein rotes Löschfahrzeug vorbei. Es ist viel größer und schicker als der Lastwagen des Hanano-Teams, und die drei korpulenten Männer in der Kabine tragen lange, fächerförmige Kinnbärte und rasierte Oberlippen. Dschabhat an-Nusra, der örtliche al Qaida-Ableger, hat seine eigene Feuerwehr, und ihr schustert die Stadtverwaltung die besten Stücke aus den Ausrüstungsspenden zu. Als sie Khaleds Uniform sehen, lächeln die Männer. Er zieht an seiner Zigarette und winkt nur halbherzig zurück.

Foto: Sebastiano Tomada/Reportage by Getty Images
Wenn man mit Khaled durch die Stadt fährt, sieht man eine neue, vom Krieg geformte Topografie, in der die Erinnerung an das frühere Leben fast untergeht. Seine Landmarken sind nun die Orte von Massakern oder von unverhofften Rettungen. Dem Regime, glaubt Khaled, geht es nicht allein um materielle Zerstörung, sondern auch um die Vernichtung lebendiger Gemeinschaften. Ganze Straßenzüge im von den Rebellen beherrschten Teil sind inzwischen verlassen. Wenn er Leute gefragt hat, warum sie trotz allem geblieben seien, hat er stets drei Arten von Antworten erhalten: Entweder sie sind zu arm, um zu flüchten, oder zu störrisch, um ihre Häuser zu verlassen. Oder sie haben resigniert und glauben, ihr Stündlein werde eh bald schlagen, egal ob hier oder in einem Flüchtlingslager. Nur die Verzweifelten und die Verrückten sind geblieben. Aber Khaled hat ihnen dann immer geschworen, der Zivilschutz würde die Stadt als Letzter verlassen.
Hat es schon jemals so einen Krieg gegeben?, fragt er sich laut. Fast 200.000 Syrer seien schon umgekommen, heißt es. Und neun Millionen sind auf der Flucht. Warum lässt Gott das zu? Ist es eine Prüfung?
Khaled denkt an die Tagebücher, die er in seinem Elternhaus zurückgelassen hat. Als eins von 17 Geschwistern – sein Vater hatte drei Frauen – standen ihm wenig Möglichkeiten offen, doch er hat im Selbststudium viel über Geschichte und Literatur gelernt. Nach dem Schulabschluss fing er ein Studium an, doch schon bald brach er es wieder ab, weil er Geld brauchte. Er unterrichtete dann an kleinen Berufsschulen, an denen Krankenschwestern und Elektriker ausgebildet wurden. Nachts schrieb er oft in sein Tagebuch und rätselte, was die Zukunft für ihn bereithalten würde. Der Krieg hat ihm die Antwort gegeben.
Das Leben in Aleppo ist monochrom geworden, es trägt die Farbe von Betonstaub. Wo früher ein Gebäude gestanden hat, mit angestrichenen Türen, Fenstern und Balkonen, drinnen mit Stühlen, Tischen, Schränken, mit allem, was ein Zuhause ausmacht, müssen sie sich nun anstrengen, in der grauen Masse noch einzelne Gegenstände zu unterscheiden. Der Staub färbt alles ein, das Licht des Abendhimmels, die Haare der Retter, den metallischen Geschmack in ihren Mündern. Der Staub liegt wie Schnee auf den Fensterrahmen der Nachbarn, auf fassungslos flatternden Wimpern, und wenn die Nacht hereinbricht, scheint die Dunkelheit den Staub noch zu verdicken.
Der Strom ist ausgefallen, die Stadt liegt pechschwarz unter dem hellen Sternenhimmel. Zu beiden Seiten von Khaled und Abu Sabet erstrecken sich die ausgebombten Häuserblöcke wie Katakomben. Die wenigen von Generatoren erleuchteten Ecken wirken wie kleine Inseln. Autofahrer lassen die Lichter aus, um keine Flieger anzulocken. Abu Sabet tastet sich im Dunkeln durch die vertrauten Straßen, erspürt Schlaglöcher oder im Weg liegende Wracks, ehe sie sichtbar werden, und lässt manchmal kurz die Scheinwerfer aufleuchten, wie wenn ein Blinder seinen Stock schwingt. Es ist, als gleite man in einem U-Boot über den Meeresgrund.
Hilferufe aus dem Schutt
Wieder eine schlaflose Nacht im Schulkeller. Latif, der al Qaida-Fan, hat einen Popsong in Endlosschleife auf seinem Handy mit ins Bett genommen. Das Artilleriefeuer war besonders laut und massiv, hinzu kamen die ausgehungerten Mücken. Die ersten Bomben im Morgengrauen sind fast eine Erleichterung. Diesmal unter Surkhais Führung streift das Team seine Kleider über und rennt hoch zum Wagen. Zum Frühstück gibt es Zigaretten, während sie durch die zerschmetterten Straßen rasseln. Surkhai, der Scherzkeks, schweigt ausnahmsweise. Es ist der fünfte Tag in der neuen Station.
Sie finden die Einschlagstelle in einer engen Seitenstraße. Die Bombe hat das Haus einer Großfamilie getroffen und teilweise zerstört. Die meisten Bewohner haben es nach draußen geschafft und stehen verängstigt auf der Straße. Zwei Schwestern mit Kopftüchern klammern sich aneinander und weinen. Männer zerren wütend an den Trümmern. Surkhai springt aus dem Wagen, rennt zu einem staubbedeckten alten Mann im Schlafanzug. „Da sind zwei kleine Jungen eingeschlossen“, ruft er.
Beim Training in der Türkei haben sie gelernt, ihre Rettungstechnik dem jeweiligen Gebäudetyp und dem Grad der Zerstörung anzupassen. Wenn mehrstöckige Betonbauten einstürzen – sei es durch Bomben oder Erdbeben –, fallen die Etagen meist wie Pfannkuchen aufeinander, und wer drinnen ist, wird zerquetscht. Doch rund um Säulen, Treppenschächte oder schwere Möbelstücke bleiben oft kleine Räume erhalten, in denen Menschen überleben können. Entscheidend ist, rechtzeitig zu ihnen zu gelangen und dabei nicht selbst verschüttet zu werden.
Zuerst müssen die Retter also wissen, wo die beiden Jungen waren. In ihrem Zimmer, sagt die Familie, sie haben noch geschlafen. Nun gibt es zwei Wege. Der erste wird horizontale Bergung genannt, dabei gräbt das Team einen Tunnel parallel zu den Etagenschichten und stützt ihn mit Holzbrettern ab. Der zweite heißt vertikale Bergung, dabei gräbt man sich von oben oder unten an die Opfer heran. In diesem Fall entscheiden sie sich für beide Wege zugleich. Surkhai tritt in das kleine Ladenlokal im Erdgeschoss, das standgehalten hat, und meißelt mit einer Hacke die Rückwand auf. Der windhundschlanke Ali steigt zusammen mit dem Vater der Jungen auf den Schutthaufen und beginnt sich in die Tiefe zu wühlen. Hilflos stehen der alte Mann und die Frauen auf der Straße; eine Änderungsschneiderei haben sie gehabt und sind damit gerade so über die Runden gekommen. Warum sollten sie für Baschar al-Assad ihr Haus verlassen?
Oben auf dem Schutthaufen hört Ali die Hilferufe der Jungen. Doch je näher sie ihrem Ziel kommen, desto langsamer müssen sie sich vorarbeiten, auch wenn die Zeit drängt. Aus der fieberhaften Suche wird eine archäologische Grabung. Kleinere Betonbrocken werden zerhackt, größere beiseitegehebelt, rostige Stahlgitternetze zersägt. Endlich können sie ein Loch in den Boden schlagen, und da sind die Brüder – sie kauern neben ihren Betten, kreideweiß, aber anscheinend unverletzt. Die Welt hat sie wieder. Ali und Surkhai tragen die Kinder zu einem Krankenwagen. Ihre Mutter stürzt schluchzend herbei. Bei dem Anblick hat selbst Surkhai einen Kloß im Hals.
In den Nächten
Zufrieden kehrt das Team zurück zur Station, doch sie finden kaum Zeit für eine Tasse Tee, da kommt der nächste Notruf: Die Feuerwehr braucht ihre Hilfe. Diesmal fährt Khaled mit. In einer der schmalen Altstadtgassen steigen schwarze Rauchsäulen auf. Ein Heckenschütze des Regimes hat Brandgeschosse in das Kurzwarenlager im Keller eines Geschäfts gefeuert. Die von Khaleds Freund geführte Löschbrigade versucht die Flammen unter Kontrolle zu bekommen, aber ihre Pumpe ist ausgefallen. Ahmed, der Ex-Feuerwehrmann, zieht einen Schutzanzug über und eilt zu Hilfe. Da empfängt Khaled einen Funkspruch. Ein Bombenangriff am anderen Ende der Stadt – den Rest der Meldung kann er nicht verstehen, der Empfang ist zu mies. Wieder rennen sie zum Laster und preschen los. Doch auf dem großen Marktplatz schlittert ihnen ein gelbes Taxi entgegen. Es ist Abu Sabet, ihr Fahrer. „Die Jungs hat’s erwischt!“, schreit er. „Sie sind im Krankenhaus!“
Mit Vollgas fahren sie ins Krankenhaus. Vor dem Eingang laufen mehrere Männer aus dem Team auf und ab, rauchen oder weinen. Ammar, der Neue, ist völlig in Staub gehüllt, und von der Schläfe trieft ihm Blut. „Wir waren Wasser holen, als der Hubschrauber kam. Wir wollten in Deckung gehen, aber die Bombe war zu nah. Ich bin okay, aber Shaben …“ Khaled blickt mit bleichem Gesicht zum Krankenhaus. Es handelt sich um die Überreste der Klinik Dar al-Schifa, die im Jahr zuvor vom Regime bombardiert worden war. Die überlebenden Ärzte und Schwestern sind in ein kleines Kaufhaus umgezogen und haben die Patientenbetten in den Ladenparzellen aufgestellt. Shaben, der sich um den Neuling hat kümmern sollen, liegt mit freiem Oberkörper da, mit Tropf im Arm, blutigen Bandagen um Rumpf und Kopf. Ein Arzt erneuert ihm gerade den Stirnverband.
„Ya Khaled, ya Khaled“, krächzt er, als er seinen Chef sieht. „Alles gut“, Khaled nimmt seine Hand. Das Röntgenbild zeigt fünf Bombensplitter in Shabens Oberkörper. Er hat Glück, keiner davon hat eine Arterie oder ein Organ getroffen. Aber er muss operiert werden, in der Türkei. Khaled gibt die Anweisungen, um Shaben ausfliegen zu lassen, dann kehrt er mit den anderen in die Station zurück. Dort sinken sie auf die Stühle im Korridor. Diesmal macht keiner einen Witz. „Es ist der verdammte Funkturm“, schimpft Shahoud. „Wir haben die Hubschrauber gehört und die Jungs angefunkt, sie sollen sich in Sicherheit bringen. Aber sie hatten keinen Empfang.“ Khaled spürt Wut. Wie oft hat er die Verwaltung gebeten, den verdammten Funkturm in Ordnung zu bringen? Die Arschlöcher dort spielen Politik und stopfen sich die Taschen voll. Khaled denkt an Ammar, den Neuling. Der ist noch nicht einmal ins Team aufgenommen und schon verwundet. Aber nun gehört er dazu.
In den meisten Nächten kann Ahmed, der Feuerwehrmann, vom Hof der Station aus auf das Sternbild Kassiopeia blicken. Der mittlere Stern in dem großen W, Gamma Cassiopeiae, ist seiner. Der rechts unten, Alpha Cassiopeiae, ist ihrer. Und Beta Cassiopeiae, ein Riese in 54 Lichtjahren Entfernung, ist der Stern ihrer Liebe. Ahmed hat ein Foto von seiner Verlobten auf dem Handy: züchtig mit Kopftuch, aber mit einem schalkhaften Glitzern in den Augen. Sie hängt auf der vom Regime kontrollierten Seite der Stadt fest, aber dort ist es zumindest sicherer. Jeden Tag skypen sie und schreiben sich über Facebook.
Die Männer hoffen auf ein besseres Leben nach dem Krieg. Aber wann wird das sein? Und was wird danach von ihrem Land übrig sein? Die Welt hat ihnen längst den Rücken zugekehrt, so viel steht fest. Und doch lässt der schlichte Stoizismus, mit dem die Retter zu Werke gehen, nicht zu, dass sie ihre Arbeit für sinnlos halten. Gewiss wird Gott ihnen den Sieg schenken, auch wenn der IS und das Regime Aleppo fast eingekesselt haben. Bis dahin werden ihre Jugend und ihr Mut sie schützen, wenn nicht vor dem Tod, so doch vor der Verzweiflung. Die Männer erleben in diesem Krieg größere Gefühle, als sie wahrscheinlich je wieder spüren werden. In den Momenten des Chaos schärft er ihnen die Sinne mehr als Drogen oder die Liebe. In den Momenten dazwischen entstehen Freundschaften, die stärker scheinen als Bomben. Vielleicht ist das ihr Schutz: Indem sie andere retten, retten sie sich selbst.
Es war ein langer Tag, und die Männer bereiten sich schon wieder auf die nächste Bombennacht vor. Schon hören sie das geschäftige Dröhnen der Kampfflieger und Hubschrauber, das Artilleriefeuer von der Front. Doch bis zu einem Einsatz können sie sich die Zeit so vertreiben, wie sie es am liebsten tun: rauchen, gesalzene Kürbiskerne kauen, herumalbern. Khaleds Kopf lehnt an der nackten Schulter von Shahoud, dem Familienvater, während er sich Nüsse in den Mund schnippt. In der Ecke zupft Ali, genannt Sankour, in seinem Vokuhila herum. Surkhai schlägt auf eine Bongo ein, als klopfe er einen Teppich aus. Latif, wie immer in Surfershorts, spielt auf seinem Handy Popsongs ab, zu denen alle mitsingen.
Und plötzlich springen er und Ahmed auf und fangen an zu tanzen, so wie man hier auf Hochzeiten tanzt. Die Arme ineinandergehakt und die Beine im Takt hochwerfend. Surkhai stößt dazu ein langgezogenes Wolfsgeheul aus, die anderen lachen, fast so, als seien sie betrunken. Die Männer singen und grölen und kreischen vor Lachen, doch dann ist plötzlich auch Trauer zu hören, der Text ihres Liedes ändert sich. Nun rufen sie nach Gnade für ihr Land und flehen Gott an, eines Tages all das nach Aleppo zurückzubringen: die Schulen, die Parks, die Menschen.
Übersetzung: Michael Ebmeyer
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