Als aus 2000 km 0 km wurden

10 Tage in Donezk 2018 machte ich mich auf den Weg in die okkupierte Ostukraine. Nach 2000 km Bla-Bla-Car und Zugfahrt stand ich an einer Grenze, die eigentlich gar keine ist.

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Die ersten Sonnenstrahlen blitzten durch die Fenster meines Nachtzugabteils, ich setzte mich auf und schaute auf ein weites Feld. Das sollte also der Tag sein, wo der in der Ostukraine tobende Krieg ein Teil meines Lebens werden sollte.

Meine Abteilnachbarin war ebenfalls wach und lächelte mich an. Es war eine ältere, rundliche und liebe Frau, mit der ich schon am Tag zuvor ein interessantes Gespräch hatte. Sie besaß eine Privatklinik in Donezk und hatte sich damit ihren Lebenstraum erfüllt. Doch als der Krieg losging und die Separatisten an die Macht kamen, entschloss sie sich, all das zurück zu lassen und zu fliehen.

Als ich ihr von meinen Reiseplänen berichtet hatte, zuckte sie zusammen und fragte mich, ob ich auf ihre Frage wohin ich fahren würde tatsächlich mit „Donezk“ mit der Wahrheit geantwortet hätte. Ich bejahte es. Ihrer Mimik nach war sie sich nicht sicher, ob sie mich für verrückt halten soll oder mich für das was ich tat nicht doch eher bewundern sollte. Schlussendlich entschied sie sich für letzteres und entgegnete auf russisch mit diesem typischen ukrainischen Akzent, wie ich ihn früher schon so oft gehört hatte, „Na was man für die Liebe nicht alles macht“. In Slowjansk verabschiedete sie sich dann, immer noch nicht sicher, was sie von mir halten sollte.

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Also saß ich alleine in meinem Abteil, draußen vor dem Fenster zogen alte Fabriken und Industriegelände vorbei. Schließlich fand die Zugfahrt nach fast zwölf Stunden ein Ende. Wir erreichten Kostyantinivka, 75 Kilometer nördlich von Donezk. Doch um Donezk zu erreichen, musste man einen großen Umweg fahren, um schlussendlich zum "Checkpoint" zu gelangen. Also hieß es jetzt umsteigen. Vom Zug ging es nun zu einem Minibus - in der Ex-Sowjetunion auch Marshrutka genannt. Am Stadtausgang mussten wir auch gleich schon am ersten Blockpost, wie es in der Ukraine genannt wird, anhalten. Es sollte noch viele dieser Form auf der 150 Kilometer langen Fahrt nach Donezk geben, wie mir versichert wurde. Anfangs zählte ich noch, doch irgendwann hörte ich auf zu zählen – waren es doch einfach zu viele.

Wir kamen nach Kurahovo - der letzten durch die ukrainische Regierung kontrollierten Stadt vor der Kontaktlinie. Hier konnten wir uns mit Getränken und Snacks eindecken, wusste doch keiner genau, wie lange der "Grenzübertritt" dauern würde.

Wir verließen das Städtchen, und da wurde auch schon das ganze Ausmaß von vier Jahren Krieg deutlich, was ich vorher nur aus dem Fernsehen und dem Internet kannte: Maschinengewehre, APC, Panzer, Schützengräben und zu guter Letzt „Achtung Minen“-Schilder. Ich ließ dieses ganze Bild auf mich wirken und begann zu tagträumen. Lange hielt das jedoch nicht vor. „Pässe nach vorn geben“, sagte unser Fahrer. Gesagt, getan – mit einem Mal waren alle Pässe beim ukrainischen Soldaten. Pass für Pass wurde kontrolliert. Der letzte war meiner. Erstaunt begannen die Soldaten mir Fragen zu stellen. Hatte ich die Ausnahmegenehmigung beim ukrainischen Geheimdienst beantragt? Ja – sollen sie doch einfach in ihrem System nachschauen. War ich wirklich gestern erst über den in der Westukraine liegenden Punkt Shehyni eingereist? – Ja. War ich sicher, dass ich nach Donezk wollte? – Ja. Wieso wollte ich nach Donezk? – meine Freundin wohnt da. Warum hast du keine Freundin in Kyjiw? – "так получилось, hat sich so ergeben", antwortete ich. Langsam war ich genervt von all den Fragen und fragte höflich und bestimmt, ob das denn jetzt alles wäre. Sie ließen es gut sein und ließen mich ziehen.

Wir verließen den Kontrollbereich, vorbei an einer Schlange aus wartenden Fahrzeugen, die auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet wollten. Angelangt am letzten ukrainischen Checkpoint, wehte über einem alten Panzer sowjetischer Bauart, die mittlerweile schon in die Jahre gekommene, ukrainische Flagge. Das war der Moment für mich, noch einmal gründlich mein Telefon zu überprüfen. Waren nicht doch noch irgendwo ein Foto mit einer ukrainischen Flagge, proukrainische Nachrichten oder Kontakte auf meinem Telefon? Wie mir vorher eingeschärft worden war, öffnete ich einmal mehr alle Apps und begann, ganze Chatverläufe zu löschen, da bei Sicherheitsüberprüfungen auch Untersuchungen des Inhalts von Telefonen zu einer häufigen Routine gehören und „verdächtige“ Inhalte zu unangenehmen Folgen führen konnten.

Beruhigt stellte ich fest, dass alles gelöscht war. Dann Niemandsland. Aus meinen Tagträumen holte mich plötzlich der Fahrer zurück: „Aussteigen!“ und ich darauf, „Was? Hier?“, worauf hin er entgegnete „Ja, ihr werdet hier umsteigen, pass aber auf, dass du immer auf der Straße bleibst“, auf das Minen-Warnschild am Straßenrand deutend. Aus dem geräumigen Renault ging es jetzt in einen etwas älteren Lada, und somit wurde es nun bedeutend enger. Wir fuhren weiter.
Gekappte Stromleitungen, Schützengräben, Spuren von Panzerketten und immer wieder andere Überreste von Kämpfen erweckten meine Aufmerksamkeit.
Nach einer Kurve sah ich das erste Mal die Flagge der Donezker Volksrepublik (DNR), darunter ein Kämpfer und ein Golf 3. Das sollte nun also der Beginn der Volksrepublik sein? Irgendwie hatte ich mir das alles anders vorgestellt.
Nach diesem kam allerdings dann doch noch ein „offizielles“ Schild, das mich und meine Mitfahrer in der „Volksrepublik“ begrüßte. Eine alte Tankstelle mit aufgestellten Container fungierte als Kontrollstelle der "DNR".

Auch hier stand natürlich wieder eine Kontrolle an. Ein Grenzer kam, sammelte alle Pässe ein und kam kurze Zeit später zurück. А кто из нас немец? – Wer von uns ist der Deutsche? Das war ich, kurz davor, zur Attraktion der Grenzstation zu werden. Die umstehenden Menschen starrten mich mit erstaunten Gesichtern an. Angekommen am Container, erhielt ich einen Stift und eine Migrationskarte, so eine, wie ich sie auch von meinen zahlreichen Reisen nach Russland schon kannte. Der einzige Unterschied war, dass man sie in Russland nicht selbst ausfüllen muss, sondern das mit Hilfe des Computers bei der Kontrolle automatisch geschieht. Ich reichte die Karte, den Stift und meinen Pass durchs Fenster und erwarte natürlich, dass ich jetzt wieder ein paar Fragen über mich ergehen lassen müsste. Die Grenzsoldaten ließen sich allerdings für eine Weile nicht blicken und auch nur durch Zufall konnte ich ihr Gespräch im Container durch die dünnen Containerwände mitverfolgen. „Du musst ihn jetzt irgendwas fragen“, meinte der Eine zum Anderen. „Und was genau?“, entgegnete der Andere. „Das weiß ich nicht, aber ohne Verhör können wir ihn nicht einreisen lassen“.

Es verging noch eine Minute und es erschien wieder ein Gesicht im Fenster des Containers. „Zu allererst möchte ich gerne wissen: Was zur Hölle hast du hier vor?“ – ich antwortete. Fast schon routiniert beantwortete ich alle Fragen mehr oder weniger wahrheitsgemäß. Zum Schluss wurde ich für die Migrationskarte gefragt, wie lange ich plante, in Donezk zu bleiben. Ich entgegnete: „Bis zum 20. oder kürzer“. „Oder länger?“ daraufhin der Grenzer, mit prüfendem Blick. Ich muss gestehen, dass mich diese Frage ein bisschen aus dem Konzept brachte. Dachte er, ich wolle hier anfangen zu arbeiten und ein neues Leben beginnen? „Nein“, entgegnete ich schließlich, „Ich will danach noch nach Kuba“, das stimmte tatsächlich. „Und was haben Sie dort vor?“ fragte er mich zurück. „Urlaub machen, was hätten Sie denn dort vor?“ entgegnete ich, zunehmend bissiger. Das leuchtete ihm schlussendlich ein, erklärte mir noch, dass ich immer meinen Pass und die Migrationskarte bei mir haben müsse und ließ mich ziehen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Hatten Sie mich doch weder ins Kreuzverhör genommen, noch mein Handy kontrolliert. Guter Dinge rief ich meine Freundin an, um ihr mitzuteilen, dass wir gleich in Donezk sein würden – sie war genauso erstaunt wie ich, wie problemlos ich es geschafft hatte…

Dieser Tag war genau heute vor zwei Jahren. An ihm wurden alle die Geschichten und Nachrichten, die ich über den Krieg gehört hatte, Realität. Morgen ist Tag der „Republik“ in Donezk und somit jährt sich die „Republik“ zum sechsten Mal.

Ich wachte auf. Es war der 11. Mai 2018, ich war wirklich noch in Donezk und hatte den gestrigen Tag nicht geträumt. Ich ging zum Fenster und sah mir die Stadtkulisse an, da war ich also. Ein Blick auf die Uhr zeigte 5 Uhr. С днём республики – alles Gute zum Tag der Republik hörte ich aus Lautsprechen auf der Straße tönen. Nein, ich hatte wirklich nicht geträumt.
Von heute an sollte ich nun die Möglichkeit haben, meinen Aufenthaltsort für die nächsten 10 Tage zu erkunden. Über Donezk lässt sich sagen, dass es eine sehr saubere, aufgeräumte und durch seine Parks auch grüne Stadt ist.
Die Stadt war weniger zerstört, als der Krieg es hätte vermuten lassen. Hier und da fehlten Glasscheiben, die zerborsten und nur notdürftig mit Pressspahnplatten geflickt worden waren. Auch alle Banken waren mit eben diesen Platten auf gleiche Art verbarrikadiert worden. Wichtig zu wissen ist, wenn man sich in Donezk aufhält, dass man stets Ausweisdokumente bei sich tragen muss. Auch wenn die Menschen auf der Straße es anders vermuten lassen und eine relative Ruhe ausstrahlen und versuchen ihr Leben normal weiter zu leben, so normal wie es eben unter den Umständen geht, darf man nicht vergessen, dass die Sicherheitslage weiter angespannt bleibt. Das Prozedere, welches anlaufen würde, wenn man seine Ausweispapiere doch mal vergisst, habe ich mir natürlich auch erklären lassen – du wirst mitgenommen und so lange eingesperrt, bis die „Behörden“ wissen, wer du bist und was du in Donezk machst. Die Gedanken an das Gefängnis ließen mir einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen.

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Anlässlich des Tags der „Republik“ sollte es eine Parade geben. Ich, ein erklärter Freund der Ukraine, war mir unschlüssig, ob ich mir diese Parade wirklich ansehen wollte. Auf der anderen Seite dachte ich dann, dass dies die perfekte Möglichkeit wäre, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Los ging's – mit Reisepass und Migrationskarte in der Tasche, brachen wir zur Parade auf. Unterwegs hieß es, dass es heute wohl noch einen Angriff der „Faschisten“ geben würde – so wie es bis jetzt jedes Jahr war. Ich spürte, wie sich alle Muskeln in meinem Körper anspannten. Stimmte es? War es vielleicht doch keine gute Idee gerade zu dieser Zeit in Donezk zu sein? Mit einem flauen Gefühl im Magen, versuchte ich meine Gedanken zu verdrängen.

Generell waren eher weniger Menschen am Tag der „Republik“ 2018 unterwegs. Das mag an der ein wenig depressiven Stimmung liegen, die ich in der Stadt wahrnehmen konnte. Das übertrug sich auch auf mich - die ganze Zeit während meines Aufenthalts hatte ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ein Hauch von Willkür, teilweise sogar von Anarchie war vernehmbar. Ich befand mich in einer ukrainisch-russischen-Zwischenrealität mit Elementen wie etwa einigen noch vorhandenen ukrainischen Schildern, die mich an die Ukraine erinnerten auf der einen Seite, und auf der anderen die verschiedenen staatlichen Dienste, die den russischen sehr ähnlich waren. Mein Gehirn hatte noch Schwierigkeiten, die passende Schublade zu finden, für das, was sich da vor meinen Augen abspielte.

Angekommen am Lenin-Platz, begrüßte mich die Lenin-Statue, die vor ein paar Jahren noch in anderen Teilen der Ukraine zu finden war. An dieser Stelle kann ich die Konstruktion von Aktivisten in Odesa empfehlen. Dort wurde Lenin zu Darth Vader aus Star Wars, der Besuch lohnt sich definitiv, aber das nur am Rande. Die Parade begann, ich sah viele Flaggen, mal die der Volksrepublik Donezk, dann die der Region Neurussland oder die russische und auch immer wieder die sowjetische mit dem Hammer und der Sichel, viele „glückliche“ Gesichter, leider auch Kinder, die von Separatisten in ihren Heldentanz miteinbezogen wurden.

Nach den Kindern kamen Soldaten. Erstaunlicherweise (oder eben nicht), konnte man Soldaten in drei verschiedene Kategorien unterteilen. Die Ersten trugen Uniformen, die denen der russischen Armee ähnlich waren, jedoch konnte man da „Hoheitsabzeichen“ und Schriftzüge der DNR oder LNR ausmachen. Lediglich diese Kategorie nahm an der Parade teil, während die anderen in beliebigen Kombinationen dem offiziellen Duktus folgend die Straßen der Innenstadt säumten, um für Sicherheit zu sorgen.
Die zweite Kategorie trug einen wild zusammengestellten Mix aus verschiedenen Tarnanzügen. Uniformteile aus verschiedenen Teilen der Welt waren zu sehen, manchmal mit, manchmal ohne Hoheitsabzeichen. Überrascht war ich, als ich mehrmals deutsche Flaggen an den T-Shirts ausmachen konnte.

Die Dritte Kategorie waren russische Soldaten in voller Uniform mit Rang- und Hoheitsabzeichen, die in eigenen Gruppen meist unter sich blieben. Das waren also die „Ихтамнеты“ (Ikh-tam-njety, „Esgibtsienichte“), wie in der Ukraine die, die angeblich im Donbas „nicht da“ sind, genannt werden.

Nach einer Weile hatte ich genug gesehen und außerdem Hunger. Also ging es wieder nach Hause. Am Abend sollte ein Konzert mit irgendwelchen Stars und Sternchen stattfinden, die aus Moskau dafür eigens angereist waren. Während des gesamten Tages hatte es keinen einzigen Angriff gegeben. Dennoch machte mich Donezk paranoid. Jedes kleinste Geräusch ließ mich aufhorchen: Ist das wirklich nur ein Gewitter? Oder ist das Artillerie in der Ferne?
Bis zum Abend des Tages der „Republik“ fand jedenfalls kein Angriff statt.

Angekommen im Sherbovka Park, wartend an der Bühne, fragte ich mich, mit welchen „Berühmtheiten“ aus Russland ich in den nächsten drei Stunden konfrontiert werden würde. Zu meiner Enttäuschung kannte ich keinen einzigen Künstler, der dort auftrat und ich würde behaupten, mich mit der aktuellen russischen Tanzmusikkultur gut auszukennen. Meine Freundin kannte auch keinen einzigen auf der Bühne. Dafür konnte ich jedoch eine Beobachtung machen, die mich überraschte. Neben mir in der tanzenden Menge, tauchte plötzlich ein junger Mann auf, eine russische Fahne schwenkend. Nichts Ungewöhnliches, dachte ich mir, hatte mir doch circa 20% der Menschen, mit denen ich mich unterhalten hatte, erklärt, sich den „Anschluss“ zu wünschen. Dem Mann keine weitere Beachtung schenkend, konzentrierte ich mich weiter auf das Geschehen vor mir - bis plötzlich eine Frau neben uns laut wurde. Zugegeben, mein russisch war damals noch nicht das Gelbe vom Ei, also drehte ich mich zur Kontrolle des Gehörten nochmal zu meiner Freundin um, um wirklich sicherzugehen, dass ich die Frau nicht missverstanden hatte. Die Frau rief: „Das hier ist Donezk, nicht Russland und somit ist das auch nicht unsere Fahne. Nehmen Sie sie weg, das hier ist nicht Russland“ - einer von vielen Sätze, die mich überraschten.

Ich schaute auf meine Uhr, bald sollte es 23 Uhr werden - Sperrstunde in Donezk. Aufgrund des „Geburtstages“ der „Republik“ war die Frist zwar auf 1 Uhr verschoben worden, dennoch wollte ich so schnell wie möglich nach Hause, die Reizüberflutung des Tages reichte für mich.
Noch drei Anmerkungen zur Sperrstunde: 1) sie galt von 23 – 5 Uhr, die Strafe, 2) wenn man sie brach, betrug 14 Tage im Gefängnis und 3) auch eine Sperrstunde hat eine positive Eigenschaft: ab 23 Uhr waren wenigstens keine Betrunkenen und Autos mehr zu hören, so dass man getrost mit offenem Fenster schlafen konnte.
Ansonsten war die Stadt mit Russlands unglaublichen Propagandaerfolgen gespickt. Überall auf Plakaten und riesigen Bannern und sonstige kreative Installationen, standen Sätze wie „Unser Vaterland – Russland“, „In Einheit mit Russland“ oder „Putin hat uns gerettet“.

Ein weiteres Ereignis habe ich noch in besonderer Erinnerung behalten. Es handelt sich dabei um die Fahrt nach Yenakievo zu den Eltern meiner Freundin. Das war das erste und das einzige Mal, dass ich die Möglichkeit hatte, Donezk zu verlassen und mir aus dem Minibus (Marshrutka) heraus das Landleben in der „Republik“ anzuschauen. Auch jenseits der Stadtgrenzen von Donezk machte die Propaganda keinen Halt, überall Plakate, wo Russland oder Vladimir Putin, der russische Präsident zum Tag der „Republik“ beglückwünschte.

So fuhren wir durch zerstörte Städte und Dörfer, die Straßen waren menschenleer. Verständlich, wer wollte hier noch wohnen, wo es doch nichts mehr gab, außer der Marshrutka, die ein paar Mal am Tag, Menschen aus der Provinz in die größeren Städte brachte. Angekommen in Yenakievo, ein bisschen nervös, was mich jetzt bei ihren Eltern erwarten würde, hatte ich plötzlich ein ganz anderes Problem. Ich bekam keine Luft. Und tatsächlich ist die Luft in Yenakievo wohl die schlechteste, die ich je erlebt habe, sogar schlechter als die in Kyjiw. Ich begann meinen Pullover vor mein Gesicht zu ziehen, nur so war es halbwegs erträglich. Meine Freundin, die kein Verständnis für diese Aktion hatte, meinte, dass das ganz normal sei und ich mich nicht so anstellen solle. Wie ich später herausfand, ist ein beachtlicher Teil der Industrie der „Republik“ in Yenakievo angesiedelt.

Yenakievo war nicht nur die Heimat meiner Freundin, sondern auch die des Expräsidenten der Ukraine, Viktor Janukowytsch. Am nächsten Tag hatte ich die Möglichkeit, seine ehemalige, mittlerweile renovierte Schule in Yenakievo zu besuchen. Verstört vom im Gegensatz zur Umgebung viel besseren und moderneren Zustand des Gebäudes bat ich meine Freundin, mir ihre ehemalige Schule zum Vergleich zu zeigen. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Die Stadt wirkte irgendwie wie stehen geblieben. Ich besuche seit 2016 alle Teile der Ukraine regelmäßig und konnte den Entwicklungsprozess miterleben. So gibt es in der ganzen (freien) Ukraine beispielsweise keine Leninstatuen mehr wie auch keine Schilder und Läden mehr des russischen Telefonanbieters MTC. Der war 2015 an Vodafone gegangen. Um so erschrockener war ich zu sehen, dass Russland bei der Hilfe und Unterstützung der Region kläglich versagt hatte.

Zurück in Donezk, wollte mir meine Freundin unbedingt die Donezker Version von McDonald’s zeigen, die mir auch schon auf zahlreichen vorherigen Spaziergängen aufgefallen war. DonMac, nicht wirklich kreativ, das Interieur sah aus wie das eines jeden anderen McDonald’s. Mein Anfangsverdacht bestätigte sich dann auch, vor dem Krieg war hier tatsächlich eine Filiale des „Originals“ gewesen. Die Burger schmeckten entsprechend auch genauso fad, fett und ungesund.

Vergessen werde ich wohl auch meinen Einkauf alleine in Donezk nicht. Während meine Freundin in der Uni war, wollte ich sie für den Abend mit einem typisch deutschen Gericht überraschen. Da ich ein paar „außergewöhnliche“ Zutaten brauchte, die der kleine Supermarkt, wo wir immer einkaufen waren, vermutlich nicht hatte, entschloss ich mich, bei Google-Maps nach einem größeren zu suchen und die Karte mit dem Weg dorthin runterzuladen.

Eingebetteter Medieninhalt

Sich alleine auf der Straße zu bewegen war noch einmal ein ganz anderes, bedrohlicheres Gefühl. Ich hatte das Gefühl von allen Menschen angeschaut zu werden, als würden sie mir bei jedem Schritt zusehen und mir hinterherschauen.
Angekommen am Supermarkt, konnte ich immerhin das WLAN des Supermarkts nutzen und allen schreiben, dass es mir gut ging. Ich suchte nach Butter und Ketchup und war erstaunt. Genauso hatte ich mir Kommunismus vorgestellt: Entweder waren die Kühltruhen leer oder sie waren mehrere Meter mit dem gleichen Produkt gefüllt. Drei Meter die gleiche Milch, drei Meter der gleiche Käse und drei Meter der gleiche Ketchup. Das sollte also der russische Himmel sein, der im Vorfeld von den pro-russischen Donezkern heraufbeschworen worden war?
Zu Hause angekommen merkte ich, dass ich eine Sache, die ich unbedingt hatte kaufen wollen, vergessen hatte: Morshynska - Wasser aus der Westukraine. Während meiner Besuche in der Ukraine hatte ich es lieben gelernt und hoffte, dass ich jetzt - nach dem Kauf - die Ukraine ein bisschen weniger vermissen würde. Ich fand sogar welches - doppelt so teuer wie gewöhnlich in der Ukraine – aber das war es mir wert, denn nötig war es allemal.

In Donezk war ich besonders von der Donbas-Arena beeindruckt, in der 2012 noch das Halbfinale des UEFA-Cups stattgefunden hatte, zu sehen war das allerdings nicht mehr. Gerne hätte ich mir auch noch den Donezker Flughafen angesehen, der vor seiner kompletten Zerstörung 2015 als modernster Flughafen der Ukraine galt, leider lies das die Sicherheitslage nicht zu.

Nach zehn Tagen, war meine Zeit in Donezk beendet, und ich machte mich auf den Weg zurück. Bei allem interessanten, das ich gesehen hatte und all den interessanten Menschen, mit denen ich dort zu tun gehabt hatte, war ich doch ein wenig froh, an der „Tankstelle“ meine Migrationskarte abgeben zu können, den Checkpoint zu passieren und aus dem okkupierten Donbas wieder in die freie Ukraine zurückzukehren. Ich hatte während der letzten zehn Tage unterschiedliche Gefühle gehabt, mich sicher gefühlt, mich aber immer auch unsicher gefühlt, zum Beispiel sobald ich Beamte der „staatlichen“ Organe sah. Ich bin in einem freien demokratischen Staat aufgewachsen, wo die Polizei wirklich als dein Freund und Helfer fungiert. Dieses Gefühl fehlte mir in Donezk sehr, beziehungsweise gänzlich. Sie wirkte nie sehr vertrauenswürdig auf mich und ich hätte mich wohl nur im absoluten Notfall an sie gewendet. Daher werde ich wohl niemals die Erleichterung vergessen, die ich verspürte, als ich zum ersten Mal wieder die ukrainische Fahne sah, mein Handy Empfang anzeigte, ich neben den auf russischen geschriebenen nun auch wieder ukrainische Schilder sah und es sich um mich wieder etwas mehr nach Frieden, Struktur und Staatlichkeit anfühlte.

Sicherheit und Frieden, zwei Substantive, die ich nach meinem Besuch in Donezk definitiv zu schätzen gelernt habe. Bloß keine Anarchie mehr, davon hatte ich definitiv genug.

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