Es wird eng im Zelt

USA Die Demokratischen Sozialisten (DSA) treffen sich zur „Convention“ in Atlanta und haben Zulauf wie noch nie
Ausgabe 32/2019
Bernie Sanders will die Demokratische Partei wie 2016 herausfordern
Bernie Sanders will die Demokratische Partei wie 2016 herausfordern

Foto: Spencer Platt / Getty Images

So hat sich die 26-jährige Meg Reilly das nicht vorgestellt. Monatelang warb ihre Ortsgruppe der Democratic Socialists of America (DSA) in Maine, am nordöstlichen Zipfel der USA, für die finanzielle Aufstockung kleiner, ländlicher Ableger der Partei. Aber „Pass the Hat“ („Reich den Hut herum“), wie der Entwurf sich nennt, wird auf der DSA-Nationalkonferenz („Convention“) am Wochenende in Atlanta, Georgia, niedergestimmt. Der Antrag zur Statutenänderung erzielt nicht die nötige Zweidrittel-, nicht einmal eine einfache Mehrheit. Ein hundertfaches Raunen geht durch den Konferenzsaal im Westin-Hotel. Die Niedergestimmten schütteln die Köpfe und machen wegwerfende Gesten. Aber viele, die vehement gegen „Pass the Hat“ argumentiert haben, signalisieren Erleichterung. Sie heben die Hände und bewegen die Finger schnell vor und zurück, was in der politisch korrekten Aktivistensprache Applaus bedeutet.

„Pass the Hat“ war nicht nur ein Herzensanliegen von Reilly, die jetzt den Kopf senkt. Ihre Ortsgruppe hatte zu Hause in Maine geschlossen dafür gestimmt, ebenso weitere DSA-Gruppen. „Pass the Hat“ hätte jeder Filiale der Partei monatlich 100 Dollar aus dem nationalen Topf zugesprochen. Mit dem Geld wären Reilly und ihre Mitstreiter in Maine und in weiteren kleinen Ortsgruppen in Mississippi, Oregon oder Montana die Bürde losgeworden, aus der eigenen Tasche für Flugblätter, Briefsendungen und Veranstaltungsräume aufkommen zu müssen. „Der rechte DSA-Flügel hat uns ausgebootet“, sagt ein Delegierter, der im hinteren Teil des Saals nervös hin und her geht. Minuten später, als längst der nächste Tagesordnungspunkt besprochen wird, entbrennt ein Twitter-Sturm. „Das ist nicht mehr meine DSA“, heißt es da oder: „Da zeigen sich die typischen Vorurteile der riesigen Ostküsten-DSA-Community gegenüber uns auf dem Land.“ Derart frustriert sieht Meg Reilly – die Enttäuschung ist ihr ins Gesicht geschrieben – das Problem nicht. Zu den DSA gebe es keine Alternative. In ihrem Staat Maine unter diesem Label aufzutreten, sei nicht zuletzt wegen Bernie Sanders, der sich offen als „demokratischer Sozialist“ bezeichne, „ein Garant dafür, dass man zwar am linken Rand agiert, aber wahr- und ernst genommen wird“. Jedenfalls will Reilly weiter unter dem „großen Zelt DSA“ aktiv bleiben.

Die vermeintlichen Vorbehalte der Delegierten-Mehrheit „gegen die Kleinen“ gehen in Wirklichkeit auf ideologische Differenzen zurück. Denn eine beträchtliche Zahl von jüngeren Aktivisten, die durch die Occupy-Bewegung Anfang des Jahrzehnts politisiert wurden, hat aus den unterschiedlichsten Gegenden unters DSA-Zelt gefunden. Ursprünglich verstanden sie sich als Vor-Ort-Aktivisten, die Fraktionsbildung ablehnten. Doch seit der letzten DSA-Convention vor zwei Jahren fanden sie sich als Anhänger einer nicht näher definierten Dezentralisierung zusammen, mit einer eigenen Webseite und einem eigenen Namen: „Build“. Aus ihrer versessenen Treue zur Basis resultiert Skepsis gegenüber der nationalen DSA-Leitung. Deshalb sollen deren Machtbefugnisse und der Zugriff auf Finanzen beschränkt werden.

Mitgliederzahl verzehnfacht

Eine andere DSA-Fraktion namens Libertarian Socialist Caucus geht wegen des gespannten Verhältnisses zwischen der nationalen Führung und einzelnen Ortsgruppen noch weiter und verfolgt eine rätekommunistisch-anarchistische Strategie. Das DSA-Führungsgremium solle „sich auf Verwaltungsaufgaben beschränken und weder politische noch organisatorische Prioritäten festlegen“, heißt es aus dieser Richtung. Eine nationale Koordination müsse darauf beschränkt werden, „unser Netzwerk von Organisatoren zu unterstützen, statt als Kommando- und Kontrollzentrum über ihnen zu operieren“.

Aber die Mehrheit der DSA-Delegierten lehnt dieses Credo in Atlanta als zu verstiegen ab. „Pass the Hat“ und weitere Anträge, die auf die Schwächung einer USA-weiten linken Führung zugunsten lokaler DSA-Basisgruppen abzielen, empfinden sie als Widerspruch zum „großen Zelt“.

Ein Zelt „hat ein Dach“, erklärt dazu der ergraute 50-jährige Charles Lenchner im Gespräch und meint damit eine Führung, die „kein Wasser ins Zelt lässt“. Er war 2016 zusammen mit anderen für die Medienstrategie von Bernie Sanders zuständig, als der im Vorwahlkampf Hillary Clinton herausforderte. Mit „People for Bernie“, dem Slogan in den sozialen Medien, trug Lenchner maßgeblich dazu bei, dass dieser Kandidat vorrangig bei jungen Menschen ankam. Bis heute versteht sich Lenchner als Unabhängiger und Fraktionsloser. Was ihn dazu animiert, als einer von mehr als 100 Delegierten aus der größten DSA-Ortsgruppe in New York „zu viel Fraktionierung“ zu monieren und auf die Geschichte der Democratic Socialists of America zu verweisen. Und wieder taucht der Mythos vom großen Zelt auf. Dort habe man immer unterschiedlicher Auffassung sein können „über die Art und Weise, wie man ein politisches Ziel erreichen wollte. Man verhinderte ganz bewusst Fraktionsbildung und sektiererische Methoden.“ Bevor die Organisation der DSA rasant zu wachsen begann, hätten „Koexistenz und ein Grundverständnis geherrscht, das alle Mitglieder teilten“. Lenchner lobt dabei überraschenderweise das anarchistische Engagement neuer DSA-Mitglieder, die sich „Build“ angeschlossen hätten oder mit dieser Gruppe sympathisierten. Deren Basisarbeit habe maßgeblich zur Akzeptanz der DSA beigetragen. So habe eine Kampagne darin bestanden, in armen, von Afroamerikanern und Latinos bewohnten Stadtquartieren und Vorstädten der Ostküste Menschen bei der Reparatur von Autoscheinwerfern zu helfen. Denn die Polizei, die in diesen Vierteln patrouilliere, halte nachts gern Fahrzeuge mit defekten Lichtern an, um die Menschen zu kontrollieren und einzuschüchtern. Außerdem, so Lenchner, müsse man den Anarchisten zugutehalten, dass sie staatliche Organe verabscheuten, was „der Staatsgläubigkeit und der Auffassung vieler Demokraten von der angeblichen Neutralität des Staates zuwiderläuft“.

Das linke Amerika ist kein Machtfaktor, doch wenigstens sichtbar

Foto: Drew Angerer / Getty Images

Die DSA vereinten seit ihrer Gründung Anfang der 1980er Jahre relativ konstant 5.000 Mitglieder und schienen auf nationaler Ebene geradezu unsichtbar. Das änderte sich mit Bernie Sanders’ Wahlkampf 2015/16, der die DSA aus ihrem Schattendasein befreite und ihnen einen so nicht für möglich gehaltenen Zulauf verschaffte. Seit der letzten DSA-Convention stieg die Mitgliederzahl auf mehr als 56.000 und hat sich so mindestens verzehnfacht.

„Mit 50.000 Dazugekommenen strömen dann alle möglichen Leute ins Zelt“, sagt Lenchner. Aber weniger die neuen Anarchos und Unabhängigen seien es, die innerhalb der DSA „anderen mit allerlei Manövern ihre Meinung aufdrängen und sich gegen sie durchsetzen wollen“, vielmehr gelte das für „ein bestimmtes Spektrum von Puristen“. Damit sind Strömungen gemeint, von denen die Demokratische Partei als feindlicher Block betrachtet wird, gegen den um jeden Preis gekämpft werden müsse. Für Lenchner handelt es sich dabei um ein „Erbe trotzkistischer und post-trotzkistischer Provenienz“. Konkret nennt er die dritte DSA-Fraktion mit dem schönen Namen „Bread and Roses“. Das seien mehrheitlich Abtrünnige der International Socialist Organization (ISO), die sich 2015/16 gegen die „Linie“ der Führung der damals noch etwa 1.500 Mitglieder umfassenden trotzkistischen Organisation dem Wahlkampf von Bernie Sanders anschlossen. Die ISO löste sich 2019 nach Bekanntwerden eines Vergewaltigungsfalles in den eigenen Reihen auf, den die ISO-Führung zu verschleiern suchte. Lenchner befürchtet, dass ehemalige ISO-Mitglieder „ohne Hinterfragung ihres leninistischen Gepäcks“ in die DSA strömen. Ihr Gefühl, einer Parteilinie und einer Fraktionszugehörigkeit folgen zu müssen, stehe „in direktem Gegensatz zur eher flexiblen DSA-Tradition“. Die wiederum orientiere sich an der Strategie, innerhalb der Demokratischen Partei als Linke zu agieren, sich zugleich aber in sozialen und politischen Bewegungen zu engagieren.

Gleichschenkliges Dreieck

Die Leute von „Bread and Roses“ wüssten genau, „wohin sie politisch wollen“, glaubt Ethan Young aus Brooklyn, der sich seit Anfang der 1970er in der radikalen Linken der USA engagiert und ein halbes Jahrhundert lang profundes Wissen über Strömungen und Spaltungen angehäuft hat. „Bread and Roses“ wolle die DSA zu einem trotzkistischen „Dritten Lager“ transformieren und verfolge daher in Wahlkämpfen, aber auch in den Gewerkschaften eine sektiererische Politik. Young verweist auf zwei erfolgreiche Resolutionen, die von der „Bread and Roses“-Fraktion bei den Delegierten in Atlanta durchgesetzt wurden. Eine sagt Bernie Sanders, aber keinem anderen Demokraten Beistand im Wahlkampf zu. „Das ist verheerend beim Kampf gegen den Trumpismus, falls Sanders nicht Kandidat der Demokraten wird“, so Young. Dahinter stehe eine fatale Fehleinschätzung der Gefahr, die von Trumps Gefolgschaft und dem Rechtsextremismus im Augenblick ausgeht. „Jeder Demokrat ist besser als Trump“, ist Young überzeugt.

Für einen weiteren Hinweis auf trotzkistischen Dogmatismus hält er die auf der Convention ebenfalls durchgesetzte Zustimmung zur „Rank-and-File“-Strategie gegenüber den Gewerkschaften. Sie schließt eine Kooperation mit Gewerkschaftsführern aus und setzt auf reine Basisarbeit am Arbeitsplatz. „Rank-and-File“ unterschätze nicht nur die Kräfteverhältnisse innerhalb der US-Gewerkschaften, sondern bewerte auch die Rolle der Führungen falsch. Gerade aktive Gewerkschafter zählten beim Widerstand gegen Trump und die Republikaner zu den wichtigsten Partnern. Am meisten ärgert Young „die Arroganz von Hochschulabsolventen, die der Meinung sind, sie könnten Gewerkschaften mit sozialistischer Agitation radikalisieren, sie dann übernehmen und sich selbst schließlich zu Führern der Arbeiterklasse erklären“.

Young hält eine vierte Fraktion, die er in Anführungszeichen setzt, für die „vernünftigste“, nämlich die „Socialist Majority“. Nach seiner Beobachtung sei sie die größte, „aber auch befangenste“ DSA-Fraktion. Er rechne dazu Organisatoren von DSA-Orts- und -Arbeitsgruppen, denen es darum gehe, Strukturen zu modernisieren und ein anhaltendes Mitgliederwachstum zu fördern. Nur sei die „Socialist Majority“ eben auch so etwas wie die „alte Garde“, die sich vom Zustrom der zurückliegenden Jahre überfordert fühle. „Sie war bisher nicht in der Lage, sich der politischen Rigorosität anderer Fraktionen entgegenzustellen“, bedauert Young.

Am letzten Konferenztag wählt die Convention per elektronischer Abstimmung ihr sechzehnköpfiges Leitungsgremium. Dabei ergibt sich von den Kräfteverhältnissen her ein fast gleichschenkliges Dreieck aus „Socialist Majority“, „Bread and Roses“ und „Build“. Ob es angesichts eines sicher heftigen Wahlkampfes und bei der Frage, wie sich die DSA und ihre Ortsgruppen dazu verhalten, zur Zerreißprobe oder zu friedlicher Koexistenz kommt, wird sich zeigen. Immerhin: Eine große Mehrheit erklärte an diesem Wochenende in Atlanta den „Green New Deal“ zur DSA-Priorität.

Max Böhnel lebt als Korrespondent in New York und berichtet seit Jahrzehnten aus den USA

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