Wenn man London Calling, dem berühmtesten Album der Band The Clash, etwas vorwerfen möchte, dann muss es der Umstand sein, dass dessen energetischer Punk und sein ikonisches Plattencover den Blick auf Sandinista! verstellt. Denn Sandinista! ist das eigentliche Meisterwerk des Quartetts – das in die Zukunft schauende, einer musikalischen Vision mit Vehemenz nachspürende Konglomerat. In seiner unangekündigten Radikalität nur vergleichbar mit dem White Album der Beatles oder Pet Sounds von den Beach Boys. Denn The Clash amalgamierten auf Sandinista! viel – Reggae, Dub, Gospel, Rhythm’n’Blues, Punk, Calypso und Funk – zu einem Sound, der damals, als das aus drei Vinylplatten bestehende Album vor 30 Jahren, am 12. Dezember 1980, erschien, einen wilden Eklektizismus ausstellte, wo andere Punkbands eher formelhaft blieben.
Der sichere Quoten-Tod
Es krachen in den insgesamt 36 auf Sandinista! enthaltenen Songs alle nur denkbaren Gegensätze aufeinander. Melodien von schottischen Folk-Balladen und der aktive Einfluss Lee »Scratch« Perrys. Mick Jones’ elektrische Sägegitarre und eine Armada von Gästen, darunter drei der Band verwandte Kinder als Sänger. Es gibt von Fiddeln getragene Country-Tanzlieder und Tonbandeinspielungen von im Radio oder Fernsehen gefundenen Musik- oder Sprachschnipseln. Dass das Vereinende über das Trennende eindrucksvoll siegt, liegt an der starken Bandidentität, die The Clash zur damaligen Wende des Jahrzehnts besaß: Joe Strummer teilt sich den Lead-Gesang wie die writer’s credits mit dem Rest der Band – lyrics and music by The Clash. In der Brandung ihrer überbordenden Ideen blieben The Clash der Fels.
Sandinista! heute, drei Jahrzehnte später zu hören, bedeutet mehr als je zuvor und somit auch mehr als im Jahr der Erscheinens – Überraschung. Überraschung über den Mut, den diese Viererbande – neben Strummer und Jones waren der Schlagzeuger Topper Headon und der Bassist Paul Simenon beteiligt – damals aufbrachte, um an ihrem eigenen Klischee zu zweifeln. Überraschung über die Stimmigkeit der Musik. Und nicht zuletzt: Überraschung vor der klaren Vorstellung davon, wie die Zukunft der Popmusik wohl klingen würde.
Die Stile Disco, Funk, Reggae und Dub, die auf Sandinista! zu hören sind, lassen sich durchweg der Tanzmusik zuordnen. Mit dem Song The Magnificent Seven gebaren The Clash gar die erste britische Rap-Single. Doch wurde die Band nach London Calling vor allem zum Protagonisten einer jungen Punk-Bewegung. Zwar waren auch auf jenem Album Spurenelemente von Reggae zu vernehmen. Doch ausgebrütet und in die Umlaufbahn katapultiert wurde der weltmusikalische Wahnsinn auf Sandinista! gefühlte zehn Jahre vor seiner Salonfähigkeit. Geradezu als seherisch ist daher das Gespür zu bezeichnen, mit welchem die verschiedenen Stile im Sinne einer perfekten Jukebox einander zuspielen, statt sich in Beliebigkeit zu zerfasern.
Ein Album mit drei Vinyl-Schallplatten zu veröffentlichen, das galt 1980 als der sichere Quotentod – zu teuer, zu schwer fassbar, der Umgang mit Songs zu verschwenderisch, die man bereits damals effektiver hätte auswerten können, statt sie auf einem Album zu „verheizen“. Doch die Band bestand darauf, dieses Risiko des kommerziellen Selbstmords zu wagen. Joe Strummer hat in verschiedenen Interviews, die er seinerzeit gab, angedeutet, welche finanziellen Einbußen beziehungsweise welchen Ärger mit ihrem Label CBS die Gruppe zu ertragen bereit war. Einmal behauptete er, die Band habe – um dem Album den Weg in die Plattenläden zum normalen Preis eines Doppelalbums zu ermöglichen – auf die Tantiemen der ersten 200.000 verkauften Einheiten verzichtet.
Ein anderes Mal deutete er an, das Label bewusst in die Irre geführt zu haben, indem das Album in der internen Kommunikation als Doppelalbum mit beigelegter Zwölf-Zoll-Single diskutiert wurde, Nachlässigkeiten im Controlling bei CBS dann aber schamlos ausgenutzt wurden, und der „Fehler“ erst auffiel, als das opulente Œuvre bereits im Presswerk konfektioniert wurde. Welche Version auch immer stimmen mag – Sandinista! hat nichts gemein mit den eklektizistischen Gigantomanien von damals reüssierenden Bands wie Led Zeppelin oder Pink Floyd, gegen die sich die Punk-Revolte Ende der siebziger Jahre richtete. Nein, dieses Album überzeugt einfach durch überbordende Energie, durch Haltung und Kreativität.
Und trotzdem kündigt Sandinista! im Rückblick den erst noch anstehenden Niedergang von The Clash so offensichtlich an, dass man sich heute wundert, warum es seinerzeit kaum jemand geahnt hat. Topper Headon verließ die Band 1981. Und der Rest ruderte zurück, eine Reaktion auf das Unverständnis, das die Mehrzahl der Fans dem Album entgegen gebracht hatte. Dass Combat Rock als darauf folgende Produktion mit antizipierend-bollernden Riffs die Erwartungshaltung des Publikums wieder bediente, wirkt aus heutiger Sicht besonders im Vergleich mit dem Reichtum von Sandinista! seltsam nihilistisch und berechnend. Erfolgreich war Combat Rock dennoch.
Ungeachtet dessen wurde Mick Jones 1983 gefeuert und gründete mit Big Audio Dynamite eine eigene Gruppe, mit der er die auf Sandinista! als musikalische DNA angelegten Ideen konsequent fortführte. Als Jones 1985 erfuhr, dass es The Clash endgültig auseinander getrieben hatte, war er längst ein Unbeteiligter.
Antiimperialistische Haltung
Dass es sich mehr denn je lohnt, Sandinista!, das vierte Album der Band, heute – am besten sofort – wieder zu entdecken, liegt an der visionären Sound-Architektur und der in keiner Weise antiquiert wirkenden politischen Agenda des Albums. Es liegt – auch das ein folgerichtiges Resultat ernsthafter Arbeit – an der durchgängigen, in jedem Song spürbaren Dringlichkeit der Musik. The Clash positionierten sich mit Sandinista! linksradikal. Die vier Signatursongs des Albums – Washington Bullets, The Equaliser und The Call Up wie auch der titelgebende Song Sandinista!, der sich mit der sandinistischen Revolution in Nicaragua identifizierte, sind allesamt politische Manifeste. Angeprangert werden der weltweite Imperialismus der frühen achtziger Jahre – die US-Einmischung in Mittelamerika, gegenüber Chile und Kuba, aber auch Russlands Einmarsch in Afghanistan und Chinas Tibet-Politik. Dass diese Stoßrichtung nicht nervte, lag mit Sicherheit auch an den harten Drogen, die im Spiel waren und jede Kirchentags-Seligkeit der Musik bereits im Keim betäubten.
Die Band spiegelte damit eine in jener Zeit noch vorherrschende Selbstverständlichkeit, mit der die Punk-Bewegung zumindest am Anfang eines hedonistischen Jahrzehnts politisch wirksam sein wollte. Dieser Wille war gleichbedeutend mit einer antiimperialistischen, linken Grundhaltung. Zwar blieben Sandinista! die ganz großen, repräsentativen Chart-Platzierungen vorenthalten. Die Goldene Schallplatte für eine halbe Million verkaufte Tonträger in den Vereinigten Staaten bekamen The Clash dennoch überreicht.
So stellt sich heute die Frage, mit wem oder welcher Band die Akteure von einst verglichen werden könnten. In diesem musikalisch so unfassbar reichen Jahr 2010 stehen sich wichtige Veröffentlichungen profilierter Bands und Künstler wie Grinderman, The Dead Weather, Die Antwoord, Gorillaz oder Tricky geradezu auf den Füßen. Doch keine der genannten Schallplatten vereint den Wildwuchs, das Politische, das Kollektive, das Nahe, das Ferne, die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit so überzeugend, wie das einst mit Sandinista! der Fall war. Es ist an der Zeit, eine der wichtigsten Rock-Platten dem Vergessen zu entreißen und einem Stresstest zu unterziehen. Dass dieser positiv ausfallen dürfte, liegt auf der Hand.
Max Dax war von 2006 bis 2010 Chefredakteur der Zeitschrift Spex. Im Augenblick arbeitet er für den Merve-Verlag an seinem Romandebüt
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