Sieht so politische Verantwortung aus?

Afghanistan CDU/CSU und SPD haben ein historisches Desaster zu verantworten – diskreditieren aber jede kritische Position zu ihrem 20 Jahre dauernden „Krieg gegen den Terror“

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Sinnbild des gescheiterten Afghanistan-Einsatzes: der hastig verlassene Flughafen in Kabul
Sinnbild des gescheiterten Afghanistan-Einsatzes: der hastig verlassene Flughafen in Kabul

Foto: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Nach Armin Laschet und Markus Söder warnt nun auch die Kanzlerin höchst persönlich vor einer Rot-Rot-Grünen Regierungskoalition. Dabei nehmen sie alle Bezug auf den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik und das Abstimmungsverhalten der Fraktion der LINKEN am 25. August, als im Bundestag die Evakuierungsmission der Bundeswehr aus Afghanistan beschlossen wurde. Im gestrigen TV-Triell stimmten dann auch Annalena Baerbock und Olaf Scholz in diesen Tenor ein und machten deutlich, dass sie die Aufhebung des Fraktionszwangs durch DIE LINKE und deren mehrheitliche Enthaltung bewusst fehlverstanden haben und für ihre zwecke politisch instrumentalisieren.

Denn nachdem die politischen Entscheidungsträger:innen von SPD und CDU/CSU eine frühzeitige Hilfe für afghanische Ortskräfte monatelang blockierten, war dieses Mandat formal nicht notwendig und diente vor allem zur Ablenkung von der eigenen Schuld. Nun wird es dazu genutzt, das wegen rechtsradikaler Umtriebe zuletzt ausschließlich negativ aufgefallene KSK aufzuwerten und kritische Stimmen gegenüber dem rein militärischen Vorgehen im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ zu diskreditieren. Hier zeigen sich Geschichtsvergessenheit und eine hemmungslose politische Instrumentalisierung, auch in Teilen der deutschen Medienlandschaft.

Deshalb ist es höchste Zeit für eine Klarstellung dazu, [1] was am 25. August zu entscheiden war, [2] was hinter dieser Entscheidung steht, [3] wie die mehrheitliche Enthaltung der LINKEN zu deuten ist und [4] und was dies alles für die Wahlentscheidung am 26. September bedeuten sollte.

Die Bilder der hilflos zurückgelassenen Ortskräfte der Bundeswehr aus Afghanistan erschüttern, und ihre Schicksale bestimmen auch Wochen nach dem Abzug der Bundeswehr das Nachrichtengeschehen in Deutschland. Das ist gut so, denn an ihnen lässt sich die Logik der Heuchelei nachzeichnen, die 20 Jahre militärische Besatzung einleitete und offensichtlich auch über deren Ende hinaus die deutsche Außenpolitik bestimmt. Dass diese Bilder in womöglich entscheidende Wochen eines außergewöhnlichen Bundestagswahlkampfs fallen, stellt die beteiligen Akteur:innen vor besondere Herausforderungen und zeugt einmal mehr von deren Versagen und ihren Fehleinschätzungen. Weil die Umfrageergebnisse der CDU sich zusehends negativ entwickeln, legt diese einen immer aggressiveren Kurs an den Tag, der die politischen Gegner:innen offensiv angreift und mit Parolen wirbt, die an den antikommunistischen Wahlkampf der Unionsparteien zur Bundestagswahl 1953 erinnern (Wikipedia 2021).

Nachdem die Taliban am 17. August ihre erste Presseerklärung in Kabul abgaben, nahm die öffentliche Berichterstattung über die bedrohliche Lage der afghanischen Ortskräfte und weite Teile der Zivilbevölkerung zu. Diese legte das eklatante Versagen der Bundesregierung offen, worauf hin eine hastig angesetzte Evakuierungsmission der Bundeswehr folgte, die vom Parlament am 25. August nachträglich gebilligt werden musste. Um das Schreckgespenst einer Mitte-Links-Regierung aufzubauschen und von ihrem eigenen Versagen abzulenken, stürzen sich insbesondere Armin Laschet und seine Kolleg:innen der CDU/CSU auf ihre politischen Gegner und diskreditieren deren abweichende Positionen. So zuletzt am Samstag auf dem CSU-Parteitag, wo Laschet vehement vor einer Regierungsbeteiligung der LINKEN warnte und von Scholz eine klare Absage diesbezüglich forderte (tagesschau 2021). Weil sich Politiker:innen von SPD und CDU/CSU aber trotz Wahlkampf in dieser Sache nicht gegenseitig angreifen, da sie alle um ihre jeweils eigene Schuld wissen und damit aus Selbstschutz eher verhalten agieren, ließ sich in den zurückliegenden Tagen und Wochen beobachten, wie sie die öffentlichen Diskussionen dazu nutzten, die Position der Partei die LINKE zu diskreditieren, die dem von SPD und CDU/CSU in 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“ verfolgten Kurs seit jeher kritisch gegenüberstand.

Die LINKE setzte für die Abstimmung am 25. August den Fraktionszwang aus, wodurch sich ihre Abgeordneten frei nach ihrem Gewissen entscheiden konnten. Diese stimmten teils für teils gegen das Mandat, enthielten sich aber mehrheitlich. Aufgrund der Parlamentsmehrheit der Regierungskoalition und der zuvor klar gewesenen Zustimmung weiterer Oppositionsparteien handelte es sich hierbei um nicht mehr als einen politischen Symbolakt. Dennoch nutzten Politiker:innen der CDU/CSU dieses Verhalten, um den politischen Diskurs in ihrer Angst vor einem Machtverlust mit dem Ziel, die SPD unter Druck zu setzten zu instrumentalisieren. Hier heißt es, die LINKE sei nicht fähig, „verantwortungsvolle“ politische Entscheidungen im Bereich der Außenpolitik zu treffen, sie könne als Koalitionspartnerin für die SPD nicht infrage kommen, während diese sich davor drücke, einer Koalition unter Beteiligung der LINKEN eine klare Absage zu erteilen. Auch der Umgang der bundesdeutschen Medienlandschaft mit der mehrheitlichen Enthaltung der LINKEN zeugt in weiten Teilen von Geschichtsvergessenheit und politischer Instrumentalisierung und führt zu einer Situation, in der sich deren Spitzenkandidat:innen Janine Wissler und Dietmar Bartsch gezwungen sehen, ihre begrenzte Redezeit in Talkshows und anderen öffentlichen TV-Formaten dafür zu nutzen, haltlose Fehlbehauptungen richtigzustellen, anstatt eigene politische Inhalte vorstellen zu können.

Was am 25. August zu entscheiden war

Nachdem der Deutsche Bundestag am 25. März 2021 der Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an der NATO-geführten Operation „Resolute Support“ in Afghanistan zugestimmt hatte, verließen die letzten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr das Einsatzgebiet bereits Ende Juni. Damit beendete die Bundeswehr ihren Einsatz in Afghanistan. Für die Bundeswehr bedeutete der Einsatz in Afghanistan ein neues Kapitel. Dieser begann nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und war der erste Einsatz des NATO-Bündnisses nach Artikel 5 des NATO-Vertrags. Denn laut Auffassung der NATO wurde vor 20 Jahren mit den USA ein Mitgliedstaat angegriffen, wodurch die anderen Mitgliedstaaten ihm zu Hilfe eilen mussten. Allerdings wurden die USA nicht von Afghanen angegriffen, sondern von einem international agierenden Terrornetzwerk, das sich aus Milizen gebildet hatte, die zuvor von der CIA in ihrem Kampf gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans aufgebaut wurden (Konrad-Adenauer-Stiftung 2001). Zur militärischen Unterstützung der USA war Deutschland im Norden Afghanistans als Führungsnation tätig und hat sich in dieser Rolle bis zuletzt an der NATO-Ausbildungsmission „Resolute Support“ beteiligt.

In den vergangenen knapp 20 Jahren waren etwa 150.000 Soldat:innen der Bundeswehr am Hindukusch im Einsatz. Dabei kamen 59 von ihnen ums Leben, während das Afghanistanmandat der Bundeswehr regelmäßig im Bundestag verlängert werden musste. Die Opposition und zuletzt auch die Wehrbeauftragte Eva Högl (zuvor SPD) haben wiederholt eine Überprüfung dieses Einsatzes gefordert, um erreichte Fortschritte und Misserfolge besser zu verstehen und Schlussfolgerungen für künftige und laufende Einsätze zu ziehen. Trotz anhaltend kritischer Stimmen aus der Opposition blieb eine grundlegende Evaluierung des Einsatzes aus. Nachdem die militant-islamistischen Taliban seit dem 1. Mai 2021 immer mehr Bezirke des Landes zurückeroberten und die US-Regierung unter Präsident Joe Biden den Abzug ihrer Truppen beschleunigt hatte, spitzte sich die Sicherheitslage immer weiter zu. Dies führte dazu, dass auch die Bundeswehr ihren Abzug zuletzt deutlich vorantreiben musste, während Landeskenner schon seit Jahren davor warnten, die Taliban könnten das Land wieder komplett zurückerobern und damit die wenigen Fortschritte der vergangenen 20 Jahre zunichtemachen.

Am 23. Juni 2021 beriet der Bundestag auf Initiative von Bündnis 90/Die Grünen angesichts des vorzeitigen Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan über einen Antrag, in dem die Fraktion gefordert hatte, ein Gruppenverfahren zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte einzuführen, die für deutsche Behörden und Organisationen arbeiten oder gearbeitet haben.“ (Bundestag 2021) In der Aussprache forderte die Fraktion der LINKEN die Einsetzung einer unabhängigen Evaluierungskommission, die den Afghanistaneinsatz über den von der Bundesregierung angekündigten Abschlussbericht hinaus umfassend aufarbeiten und einer öffentlichen Diskussion zugänglich machen solle. Darüber hinaus setzten sich die Abgeordneten für einen Abschiebestopp nach Afghanistan ein und warben für die unbürokratische Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die im Dienst der Bundeswehr und der deutschen Sicherheitsbehörden standen (Bundestag 2021). Mit einem mehrheitlichen Votum der regierenden SPD und CDU/CSU wurden diese Anträge abgelehnt.

Unterdessen lief und läuft das am 25. März beschlossene Bundestagsmandat zur Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an der NATO-geführten Operation weiter, denn dieses wurde bereits damals bis zum 1. Januar 2022 verlängert. Das Mandat sieht eine Truppenstärke von 1.300 Soldat:innen vor und umfasst einen Kostenrahmen von rund 382 Millionen Euro (Bundestag 2021). Im Rahmen dieses Mandats ist es also nach wie vor möglich, Truppen der Bundeswehr in Afghanistan einzusetzen, auch nachdem diese bereits Ende Juni vollständig abgezogen wurden. Nachdem die Bundesregierung jede Initiative zur Evakuierung afghanischer Ortskräfte bis Mitte August kategorisch ausgeschlossen hat und bis dahin auch an Abschiebungen in das Bürgerkriegsland festhielt, beschloss sie unter dem Druck der zunehmend kritischen Berichterstattung eine absolute Kehrtwende und initiierte eine hastige und deshalb zwangsläufig militärisch abzusichernde Evakuierungsmission mit einer personellen Obergrenze von bis zu 600 Soldat:innen. Das am 25. August nachträglich vom Parlament bestätigte neue Bundestagsmandat war für diesen Einsatz nur insofern notwendig, dass ein sogenanntes „Robustes Mandat“ angestrebt wurde, das auch den Einsatz des Kommandos Spezialkräfte (KSK) vorsah. Das ein solches Mandat aufgrund zu diesem Zeitpunkt ohnehin offener Gesprächskanäle zu den Taliban nicht notwendig war, wurde dabei verschwiegen.

Was hinter dieser Entscheidung steht

Die Abstimmung über die Evakuierungsmission der Bundeswehr am 25. August steht also am Ende und nicht am Anfang eines absehbaren Fiaskos. Viele Stimmen hatten vor dem gewarnt, was auf die afghanische Zivilbevölkerung und insbesondere auf die Ortskräfte der deutschen Behörden und Entwicklungsorganisationen zukommen würde. Die politisch Verantwortlichen haben diese Stimmen nicht hören wollen, haben das Thema Flucht und Migration zu keinem Wahlkampfthema machen wollen und stehen nun vor einer Situation, in der ihr eklatantes Scheitern sie zu hilfs- und rückgratlosen Anschuldigungen gegen diejenigen ermuntern, die nicht bereit dazu sind, diesen politisch unverantwortlichen Zickzackkurs nachträglich mitzutragen. Angesichts des Chaos, das der fluchtartige Abzug der Bundeswehr aus Kabul hervorrief, schien es, als habe sich die politische Führung von SPD und CDU/CSU bewusst dazu entschlossen, diesen in einer Art organisierter Unverantwortlichkeit aufgehen zu lassen, wie wir sie dank der GroKo bereits aus den Lagern auf den griechischen Inseln in der Ägäis kennen (medico 2021): Alle wissen darum, teilen die politische Verantwortung, aber verweisen ständig gegenseitig aufeinander und am Ende kann und will niemand irgendetwas getan haben können. So provozierten sie eine Situation, in der es selbst 22.000 Liter Bier wert waren, ausgeflogen zu werden (WELT 2021) und in der Deutschland mit Abstand am wenigsten für seine lokalen Mitarbeiter:innen tut (taz 2021).

Sehen so politische Verantwortung und Gestaltungswillen aus? Weil aber nun mal Wahlkampf ist, muss mit diesem unliebsamen Thema umgegangen werden, und so wird das Versagen auch über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus kollektiviert – in der verzweifelten Hoffnung, die eigene Verantwortung so in der öffentlichen Wahrnehmung schmälern zu können. Und so resümierte Armin Laschet als CDU-Kanzlerkandidat auch schnell, der Abzug der westlichen Truppen und das Zurücklassen der afghanischen Ortskräfte der Bundeswehr sei „das größte Debakel, das die NATO seit ihrer Gründung erleidet.“ (FAZ 2021). Dabei ist nicht mehr zu leugnen, dass es letztlich die deutsche Bundesregierung und alle an ihr beteiligten Politiker:innen sind, die die Schuld dafür tragen, dass Menschen hilflos zurückgelassen werden, die teils über 15 bis 18 Jahre hinweg ihr Leben riskierten, um an der Seite der Bundeswehr und deutscher Entwicklungsorganisationen für eine gesellschaftliche Veränderung in einem von Jahrzehnten des Bürgerkriegs und der Gewalt verwundeten Land zu kämpfen. Denn diese Menschen haben an das geglaubt, was uns auch hierzulande zur Legitimation dieses ersten Kampfeinsatzes im Rahmen des Artikels 5 des NATO-Vertrags eingebläut wurde: „Westliche Werte.“

Denn ähnlich wie nach den Anschlägen von Paris 2015 wurde nach dem 11. September 2001 viel davon gesprochen, dass es sich hierbei um einen Angriff auf „unseren Lebensstil“, gar „unsere Werte“ gehandelt habe. Und das scheint erst mal nachvollziehbar – zumindest, wenn wir mit unserem Lebensstil so etwas meinen, wie auf Konzerte gehen, in Cafés sitzen, im World Trade Center (WTC) handeln – konsumieren eben. Dabei interessiert erst mal nicht, ob das junge Publikum im Bataclan oder die Angestellten im WTC überhaupt den geringsten Gedanken an Freiheit oder Menschenrechte verschwendeten. Sie wurden im Nachhinein zu Märtyrer:innen unserer Lebensweise erhoben, gestorben für grundlegende Werte, die es bekanntlich auch am Hindukusch zu verteidigen gilt, wie Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) im Dezember 2002 erklärte (Bundesregierung 2002). Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan wurde also von Beginn an nicht etwa mit der Hilfe für afghanische Frauen oder andere durch die Taliban unterdrückte Menschen begründet, sondern explizit mit der Solidarität gegenüber den USA, dem NATO-Bündnisfall und der Verteidigung „unserer Werte“ und „unserer Sicherheit.“

Wie eine Enthaltung zu deuten ist

Was also in Wahrheit am Hindukusch verteidigt wurde, waren die westliche Dominanz und das Narrativ der Überlegenheit. Es war der Stolz, der nach dem 11. September gekränkt war, denn hier ging es darum, Angst und Schmach abzuwenden, ganz im Sinne des „Vietnam-Syndroms“, das US-Präsident Ronald Reagan nach dem Verlust der US-Streitkräfte in Südostasien und vor allem aufgrund des Traumas des Anschlags von Beirut im Oktober 1983 dazu veranlasste, nur zwei Tage später über Grenada herzufallen. Die wahren Gründe für die deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan liegen also jenseits von Brunnen- und Schulbauten, jenseits von Frauen- und Menschenrechten. Und wer würde das auch ernsthaft glauben: Mit der Bundeswehr gegen das Patriarchat?! Offenbar geht das nur, wenn es um das Afghanistan der Taliban geht, das im Interesse der Legitimation des westlichen Militärangriffs dämonisiert, als rückständig und hilfsbedürftig stilisiert wird. Dass das Narrativ der Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten dem Afghanistanmandat der Bundeswehr erst nachträglich hinzugefügt und insbesondere die Rolle der afghanischen Frauen zu diesem Zweck massiv instrumentalisiert wurde, daran erinnert sich heute kaum noch jemand. Auch nicht daran, dass am 31. Mai 2010 mit Horst Köhler (vormals CDU) zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands ein Bundespräsident mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurücktrat, und zwar, weil er offen über die wahren Gründe der deutschen Kriegsbeteiligung sprach.

Auf dem Rückflug nach einem Besuch von Bundeswehr-Truppen in Afghanistan am 22. Mai 2010 sprach Köhler in einem Interview mit dem Deutschlandradio davon, „dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“ (Süddeutsche 2010). Hier wird eine Grundmaxime der deutschen Außenpolitik deutlich, die in ihrer Offenheit natürlich nur selten angesprochen wird, aber selbstverständlich auch in dem Statement von Peter Struck (ehemals SPD) sichtbar ist. Es sind nicht unbedingt Afghanistans Bodenschätze, die das Land wirtschaftlich interessant für Deutschland machen. Es ist vielmehr das politische Gewicht Deutschlands auf der Weltbühne, das durch diesen und die folgenden militärischen Eingriffe gestärkt werden soll: Wer mitreden will, der muss auch mitkämpfen, das wird seit den Anschuldigen Donald Trumps gegenüber Deutschland und der hierzulande zumeist unreflektierten Huldigung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO immer deutlicher.

Und „Westliche Werte,“ die dann schnell mit Menschen- und Frauenrechten gleichgesetzt werden – als seien diese hierzulande für alle realisiert – lassen sich eben für die Legitimation derartiger Kriegseinsätze vielversprechender mobilisieren, als unverhohlen von Konsum- und Kapitalinteressen zu sprechen. Denn eine solche Ehrlichkeit kann offenbar selbst einen Bundespräsidenten das Amt kosten. Anstatt also der LINKEN angesichts ihrer Enthaltung zu einem formal nicht notwendigen Evakuierungsmandat für die Bundeswehr Vorwürfe zu machen, sollte die Frage danach ins Zentrum gerückt werden, inwiefern es angesichts der aktuellen Fehlentwicklungen in Afghanistan und dem dahinter stehenden politischen Versagen aller beteiligten Akteur:innen sinnvoll erscheinen kann, den von SPD und CDU/CSU eingeschlagenen Kurs des „Kriegs gegen den Terror“ auch 20 Jahre nach dessen heuchlerischem Beginn mitzutragen. Ganz zu schweigen davon, dass die Zustimmung zum Mandat durch die Regierungsparteien ohnehin gesichert war und die Abstimmung daher eine reine Formsache.

Und was dies für die Wahlentscheidung bedeuten sollte

Insofern lässt sich also festhalten, dass die Enthaltung weiter Teile der LINKEN inhaltlich folgerichtig war, politstrategisch aber nicht unbedingt sinnvoll. Denn im Ergebnis lässt sich eine Aufwertung des KSK beobachten, das aufgrund rechtsextremistischer Umtriebe zuletzt ausschließlich negative Aufmerksamkeit erfuhr. Außerdem hat dieses Abstimmungsverhalten zu einer zunehmenden Diskreditierung linker Positionen im Wahlkampf geführt, die daraus resultiert, dass es einflussreichen Politkreisen unter Beteiligung der Medienlandschaft gelingt, eine bewusst erzeugte Ausnahmesituation so darzustellen, dass „alternativlose“ Entscheidungen notwendig wären, die dann selbstverständlich von allen „verantwortlich“ Denkenden kritiklos mitgetragen werden müssten.

Was aber würde es bedeuten, Köhlers (CDU) Ausspruch von 2010 und den von Struck (SPD) aus dem Jahr 2002 ernst zu nehmen? Wenn es also wahr ist, dass Arbeitsplätze hierzulande (auch) dadurch gesichert werden, dass in Afghanistan und andernorts Hunderttausende Menschen dem Psychoterror tage- und wochenlang über ihnen kreisender Drohnen ausgesetzt sind, die jederzeit zum unvorhersehbaren Angriff übergehen und dabei Hunderte Zivilist:innen mit in den Tod reißen können. Sollten wir die Bundestagswahl am 26. September dann vielleicht doch nicht lieber zur Abwahl einer höchst fragwürdigen und letztlich heuchlerischen Politik nutzen?

Und selbst wenn dies nicht gelingen sollte, fällt der LINKEN als einziger im Bundestag vertretener Friedenspartei die Aufgabe zu, deutsche Militäreinsätze in parlamentarischen Ausschüssen und Plenarsitzungen kritisch zu begleiten und die verehrenden Folgen dieser offenkundig falschen und fehlgeschlagenen Politik offenzulegen. In Bezug auf Afghanistan, aber beispielsweise auch auf die Mission in Mali bedeutet dies, eine wirklich schonungslose Bilanz einzufordern, um eine politische Weichenstellung vornehmen zu können, die mit den Aggressionslogiken und Pfadabhängigkeiten bricht, die die Politik des „Kriegs gegen den Terror“ seit dessen Beginn im In- und Ausland begleiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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