Drei Wochen im Dezember

Für eine andere Welt Vor acht Jahren wurde der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos durch den gezielten Schuss eines Polizisten getötet. Erinnerungen an ein Gespräch mit einem Athener Freund

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Eine Erinnerungstafel in Exarchia
Eine Erinnerungstafel in Exarchia

Bild: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Heute jährt sich der Todestag von Alexandros Grigoropoulos. Der 15-jährige wurde vor acht Jahren durch den gezielten Schuss eines Polizisten in Athen getötet. Sein Tod markierte den Start für die größten sozialen Unruhen in der jüngeren Geschichte des Landes.

In diesem Jahr fiel der Namenstag des altgriechischen Nikolaos, von dem sich viele heute in Griechenland weit verbreitete Namen wie Nikolai oder Nikos ableiten, auf einen Samstag. Wie es hier bei Namenstagen üblich ist, wurde der 6. Dezember von vielen Menschen auswärts gefeiert. Auch an diesem Wochenende tummelten sich zahlreiche junge Leute aus dem Athener Umland in der Stadt und füllten die Bars, Clubs und Kneipen mit Leben. Es wurde ausgelassen und freudig gefeiert. Die Finanzkrise und die mit ihr einhergehenden Schrecken für unseren Alltag, waren zwar am Horizont erkennbar, doch sollten sie an diesem Tag keine Rolle spielen.

Dann kommt die Nachricht: Die Polizei hat im alternativen Stadtteil Exarchia den 15-jährigen Alexandros Grigoropoulos durch einen gezielten Schuss in den Leib getötet. Wir erfahren es durch unterschiedliche Kanäle. Handys klingeln, andere Feierende sprechen uns an. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Auch wenn wir jung sein mögen, sitzen uns die Erinnerungen an die Zeit der griechischen Militärdiktatur noch tief in den Knochen. Uns ist bewusst, was es bedeutet in einem repressiven Regime zu leben und auch, dass dessen Zusammenbruch maßgeblich von den Protesten der Studierenden an der Polytechnio (Technische Universität in Athen) im November 1973 vorangetrieben wurde. Auch wissen wir um die stillschweigende Duldung dieses Unrechtsregimes durch die westlichen Staaten und die Kontinuität staatlicher Institutionen und Angestellter nach dem Zusammenbruch der Diktatur.

Eine ernsthafte, gesellschaftliche oder juristische Auseinandersetzung mit diesem Teil der griechischen Geschichte fand zu keinem Zeitpunkt statt. Heute sind wir mit denselben Institutionen und in diesen teilweise auch mit denselben Personen konfrontiert, die damals unverhohlen diktatorische Herrschaft über uns ausgeübt haben. Die heutigen Apparate stehen in derselben Tradition und folgen denselben Logiken wie bis 1974. Und so ist auch unser Verhältnis zu Militär und Polizei von großer Skepsis geprägt.

Nachdem wir die Nachricht von Alexandros Tod erhalten haben, sind wir wie paralysiert. Wir brauchen einen Moment, um unsere Gedanken zu ordnen, immerhin haben wir uns eigentlich hier versammelt, um gemeinsam zu feiern und mal einige Momente fern der Sorgen genießen zu können. Als wir schließlich zögernd weiter unser Bier trinken, zerreißt ein Gedanke explosionsartig die Stille: „Fuck man; wir können hier nicht einfach weiter feiern, wenn die Polizei wieder Menschen auf offener Straße erschießt - Menschen wie uns.“

Als wir die Bar verlassen und aus der kleinen Gasse auf eine größere Straße biegen, wirkt die Stadt wie leergefegt. Seit dem Vorfall sind vermutlich erst einige Minuten vergangen. Die Stille dieser Großstadt an einem Samstagabend wirkt regelrecht gespenstig und auch von uns wagt es niemand zu sprechen, als uns plötzlich die Tränen in die Augen schießen. Das Tränengas wurde in so großen Mengen verschossen, dass es sich wie ein unsichtbarer Schleier über die ganze Stadt gelegt hat.

Wir nähern uns Exarchia, dem Ort des Geschehens. Hier haben sich schon viele Menschen versammelt, um gegen die Polizeiwillkür zu demonstrieren. Diese reagiert unvorbereitet und aggressiv. Polizei und Stadtverwaltung sind darum bemüht, die Proteste zu unterbinden und wollen den Tatort weitläufig von der Öffentlichkeit abschirmen. Jeglicher Protest wird als illegitim betitelt und soll unterbunden werden. Der Mordfall wird zu einem rein verwaltungstechnischen Vorgang erklärt und die Menschen aufgefordert nach Hause zu gehen. Die Botschaft ist klar: Was hier passiert ist, hat seine Gründe. Diese zu untersuchen und endgültig zu klären, liegt einzig und alleine in der Verantwortung der staatlichen Instanzen. Die BürgerInnen haben sich auf diese zu verlassen und trotz der historischen Kontinuität repressiver Instanzen kein Recht sich als etwas mehr zu begreifen, als die Untergebenen eines Regimes totaler Unterordnung.

Es folgen drei Wochen ohne Schlaf. Drei Wochen, die den aktuellen Höhepunkt der sozialen Bewegung in Griechenland markieren. In dieser Nacht sind wir in heftige Straßenschlachten verwickelt, an denen sich Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund beteiligen. Dieser spontane Aufstand wird von allen getragen, die nicht länger bereit sind, die Unterdrückung der politischen und wirtschaftlichen Systeme zu ertragen, deren Fortbestand die Polizei sichert.

Die Kämpfe dauern bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags und obwohl sie uns psychisch und physisch in die Knie zwingen, kommt die Stadt auch am Folgetag nicht zu Ruhe. Die Unruhen breiteten sich auf Thessaloniki, Ioannina, Komotini, Patras, Tripoli, Volos, Trikala, Mytilini, Agrinio, Kavala, Korfu, Piräus, Chania, Iraklio, Rhodos, Karditsa, Lamia, Stylida, Drama, Xanthi und Langadia aus. Das ganze Land ist in Aufruhr. In Athen dauern die Kämpfe am Montagmorgen bis 4 Uhr an. Ich fahre nach Hause, dusche und schlafe zwei Stunden. Dann gehe ich zur Arbeit. Als ich dort ankomme, spricht mich gleich ein Kollege an: „Ich übernehme deine Schicht“ – ich bin ein Wrack.

Am folgenden Dienstag tritt die LehrerInnengewerkschaft in Streik. Tausende ArbeitnehmerInnen aller Sektoren sind an den Protesten beteiligt. Hier geht etwas vor sich, dass alle Menschen betrifft und dem Raum und Zeit gewidmet werden sollte. Landesweit kommt es zu immer größeren Protesten. Der Ausnahmezustand ist verhängt und die griechische Polizei muss Millionen Tonnen Tränengas in Israel nachbestellen. Der Gewerkschaftsdachverband diskutiert einen allgemeinen Generalstreik für Donnerstag.

Am Mittwoch intensivieren sich die Straßenschlachten weiter. Am Donnerstag dann der Generalstreik - auch wenn alle einflussreichen Akteure in Politik, Medien und sogar den Gewerkschaften selbst, seit Dienstag alles unternommen haben, um ihn zu verhindern. Es finden riesige Demonstrationen und Versammlungen statt. Das ganze Land widmet sich einer Frage: Was läuft hier eigentlich falsch, wenn die Politik sich nicht willens zeigt, die Menschen ernstzunehmen und die Polizei unverhohlen Menschen auf offener Straße erschießt?

Es folgen drei Wochen des Kampfes, des Austausches, der Organisation, des Vernetzens, des Denkens und des Träumens - und der Einsicht, dass diese Träume nicht in weiter Ferne liegen, sondern jetzt und hier real werden können. Die Proteste werden von solidarischen Netzwerken durchgeführt, die den Menschen endlich wieder Selbstermächtigung und Selbstbestimmung geben. Es entstehen Nachbarschaftsversammlungen und solidarische Hilfswerke. Die Menschen fangen an sich selbstständig und ohne staatliche Institutionen und die Polizei zu organisieren.

Und dann.. kommt Weihnachten.

Auch wenn diese intensive Phase nach den Feiertagen nicht wieder aufgeflammt ist, haben diese drei Wochen im Dezember einen bleibenden Einfluss auf die griechische Gesellschaft gehabt. Die Pause und relative Ruhe, die die Feiertage brauchten, gaben Raum zu Reflexion und die Möglichkeit langfristigere Gedanken zu fassen. Der Protest hat sich von einem spontanen Aufstand zu alltäglichem Widerstand transformiert. Heute wagt es die Polizei nicht mehr Exarchia auch nur zu betreten. Es gibt zahlreiche selbstorganisierte Kulturzentren, Cafés, Buchläden, Bars, Wohnprojekte, Theater und Verlage. Zeitgleich entstanden in Exarchia selbstorganisierte Wohnprojekte für geflüchtete Menschen, die diese bei ihrer Selbstermächtigung unterstützen und ihnen, im Gegensatz zu den staatlich verwalteten Zentren, eine zumindest halbwegs würdige Unterbringung zugänglich machen.

Nicht nur in Exarchia gibt es derartige Projekte. Ganz Athen ist voll von ihnen und auch in zahlreichen anderen Städten finden sich ähnliche Orte. Im Dezember 2008 setzte sich bei vielen Menschen die Einsicht durch, dass auch in einem demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftssystem Macht und Herrschaft eine große Rolle spielen und es letztendlich darum gehen muss, möglichst autonom von den herrschenden Strukturen zu werden, um reale Alternativen zum tagtäglichen Elend zu schaffen, das uns von diesen Institutionen diktiert wird. In Griechenland haben sich viele zusammengetan, um genau dies zu leben – unter immer schwereren Bedingungen angesichts der ökonomischen Krise und dem Spardiktat der europäischen Partnerstaaten.

In diesen zahlreichen Projekten und tausenden Biographien zeigt sich, was alles denkbar ist, was alles möglich wird, wenn die Menschen sich nur einmal ihrer selbst bewusst werden und sich konsequent daran versuchen, eine Alternative zum schrecklichen Ist-Zustand zu verwirklichen. Drei Wochen im Dezember zeigen uns, wohin es gehen kann. Diese drei Wochen sollten wir nicht in Vergessenheit geraten lassen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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