Ein Gespenst geht um im Bereich der internationalen Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit (EZ): Das Gespenst des Effektiven Altruismus (EA). Von seinen Unterstützer*innen als radikal neue Denkweise über Zusammenhänge und Probleme der EZ beschworen, von seinen Gegner*innen aufgrund der ihm zugrunde liegenden quantitativen Denklogik und der statistischen Modelle verschrien – welche Potenziale hält der EA für eine Auseinandersetzung darüber bereit, wie die Zukunft der Menschheit verbessert werden kann?
Angesichts der Trägheit, mit der sich internationalen Bemühungen zur Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen auf diesem Planeten entfalten, hat sich zu Beginn der 2010er-Jahren der Ansatz des „Effektiven Altruismus“ (EA) entwickelt. Der EA richtet seine Aufmerksamkeit weg von den Logiken transnationale Akteur*innen und schaut stattdessen auf die einzelner Individuen. Dabei versucht er der Frage nachzugehen, was es bedeutet, das Richtige zu tun, und wie wir es schaffen können, dies konsequenter zu machen. Führende Protagonist*innen des EA wie die Moralphilosophen Peter Singer und William MacAskill beschreiben den EA als eine „soziale Bewegung“, die danach strebt, die drängenden Fragen unserer Zeit zu beantworten und das Ziel hat, es für jede und jeden einzelne*n einfacher zu machen, mehr Gutes in der Welt zu tun. Anstatt Wohltätigkeit dabei auf eine Weise zu betreiben, die den Menschen ein gutes Gefühl gibt, verlassen sich effektive Altruist*innen dabei auf „evidenzbasierte Analysen“, um zu entscheiden, wie Spenden (in Bezug auf Kosten und Zeit) am effizientesten eingesetzt werden können, um eine möglichst große Wirkung zu entfalten. So soll mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und rationalen Argumenten herausgefunden werden, wie wir alle möglichst viel Gutes in dieser Welt bewirken können.
Angewandter Utilitarismus
Dabei verknüpfen führende Vertreter*innen des EA die Vorstellung des EA zumeist mit sehr persönlichen Erzählungen über ihren Lebensweg und entscheidende Einschnitte, die sie zur Reflexion und zum Überdenken ihrer Lebenseinstellung und -weise motiviert haben. Hierbei stellt sich das Leben als etwas dar, dass uns halt passiert. Wir werden nicht gefragt, haben nicht darum gebeten, aber landen letztlich auf diesem blauen Planeten und sind dabei mit unterschiedlichen Privilegien ausgestattet, die wir dem Zufall unseres Geburtsorts verdanken, nicht etwa irgendeiner eigenen Anstrengung. Und so taumeln wir also durch unser Leben, stets bemüht uns in dieser komplexen Welt zurecht zu finden und bilden dabei spezifische Vorlieben und Werte aus. Doch plötzlich haben wir jenen „awaking moment“ von dem die Advokaten des EA als entscheidendes Ereignis erzählen. Jenen Moment, an dem wir feststellen, dass vielleicht gar nicht so viel dran ist an den herrschenden Erzählungen, laut derer wir vor allem nach unserem eigenen Nutzen handeln, unser individuelles Glück steigern sollten.
Doch was tun wir nun mit diesem Moment, mit einem bereits irgendwie eingeschlagenen Lebensweg, getroffenen Studien- oder Berufsentscheidungen, der eingeschränkten Verfügbarkeit über Zeit und Geld? Teilen, etwas abgeben – das lehrt uns der EA, denn laut ihm ist dies unser aller moralische Verpflichtung, weil es darum gehen müsse, möglichst viel Gutes für möglichst viele Menschen zu tun. Insofern verfolgt der EA eine zweckorientierte Ethik, da Handlungen nur dann als moralisch richtig gelten, wenn sie den aggregierten Gesamtnutzen, d. h. die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen maximieren. In diesem Sinne ist der EA in gewisser Weise als angewandter Utilitarismus zu begreifen. Aber angesichts der weithin bekannten Misswirtschaft und Korruption, die im Bereich der EZ herrschen, ist das Geben nicht ganz so einfach. Deshalb nutzen Verfechter*innen des EA mathematische Modelle und rechnerische Analysen, um uns dabei zu helfen. Sie entwickeln Instrumente, mit denen wir herausfinden können, wie reich wir im Vergleich zum Rest der Welt sind, welches die „hochwirksamsten und kosteneffektivsten“ Wohltätigkeitsorganisationen sind und wie wir unsere eigene Karriere am besten dazu nutzen können, die dringendsten Probleme der Welt zu lösen.
Vor die Frage gestellt, welche Rolle Emotionen für solche Entscheidungen spielen sollten, lautet die Antwort des EA, dass dies immer eine Nachgelagerte sein sollte. Denn als Menschen neigen wir zu intuitiven Handlungen, weil wir emotionale Wesen sind. Der EA aber lehrt uns, dass derart getroffene Entscheidungen häufig nicht die besten sind, weil wir dabei nur sehr wenige Informationen einbeziehen. Entscheiden wir nicht emotional-intuitiv, können wir einen größeren Gesamtnutzen erzielen, so der EA. Als klassisches Beispiel für einen solchen Fall kann das Gedankenspiel eines gekaperten Passagierflugzeugs mit 200 Insassen angesehen werden, dass bei einem terroristischen Anschlag in ein Hochhaus gelenkt werden soll. Soll also dieses Flugzeug samt dessen Insassen abgeschossen werden, um so Tausende in dem Hochhaus zu retten? Im Januar 2005 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz, das genau dies als Ultima Ratio erlaubte („Luftsicherheitsgesetz“). Ein Jahr später aber entschied das Bundesverfassungsgericht, dass dieses Gesetz gegen das im Grundgesetz festgeschriebene Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwürde verstößt und deshalb verfassungswidrig und nichtig ist. Hier setzte sich im Spannungsverhältnis aus Emotion und Information die auf Immanuel Kant zurückgehende Moralphilosophie durch, die den unschätzbaren Wert des einzelnen Menschenlebens als Maßstab aller Dinge ansieht. Das utilitaristische Ethikmodell, das Jeremy Bentham zeitgleich zu Kant vertrat, steht diesem entgegen, sieht es doch nicht mehr den Einzelnen als Maß der Dinge an, sondern „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ – also ein quantitatives Kriterium, ähnlich wie es der EA tut.
Das Dogma der Zahl
Die zentrale Stärke einer evidenzbasierten Entscheidungsfindung liegt dabei darin, dass diese in gewisser Weise nachvollzieh- und nachweisbar macht, warum die Entscheidung wie getroffen wurde. Eine so gefällte Entscheidung trägt ihre Evidenz stets im Hintergrund und bringt damit Informationen als Möglichkeit der Aufklärung mit sich. Alternativansätze, die nicht evidenzbasiert sind, wie es die Moralphilosophie von Kant ist, haben genau diese Stärke nicht. Wird also bei Kant eher auf der Ebene konkreter Einzelschicksale gedacht, woraus sich ein Aufrechnungsverbot von Menschenleben ergibt, verfolgt der EA den Anspruch, abstrakte Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit zu durchdringen und diese faktenbasiert und nüchtern zu betrachten. Auf diese Weise soll die emotionale Verwobenheit aus der Entscheidung herausgelöst werden. Dabei geht es dem EA explizit nicht darum, etwaigen Auswüchsen im Bereich des bestehenden Systems der Hilfe und EZ entgegenzuwirken, sondern vielmehr darum, auf individueller Ebene einen sportlichen Wettstreit darum zu entfachen, wer das meiste Gute tun kann.
Praktisch bedeutet dies beispielsweise, dass Peter Singer die Zuhörer*innen eines Podcast dazu auffordert, über ihr Leben zu reflektieren, wie sie es leben, woraus sie Glücksempfindungen schöpfen und sich dabei auch die Frage zu stellen, ob sie in Einklang mit den ihnen am wichtigsten erscheinenden Grundsätzen leben. Singer sagt zurecht, dass „es eine überwältigende Menge an Leiden in der Welt [gibt] und sogar das Anerkennen dessen schwierig ist, [...] weil man sich vor Augen führen muss, dass es eine unangenehme Erfahrung ist, über das Leiden anderer Menschen nachzudenken, denn daran zu denken würde bedeuten, dass wir unseren Lebensstil ändern müssten.“ Für dieses Dilemma versucht der EA nun eine Lösung zu bieten, indem er Optionen aufzeigt, wie sich mit begrenzten finanziellen Mitteln der größte Nutzen erreichen lässt. Doch dem EA geht es bei Weitem nicht nur ums Geld. So unterstreicht MacAskill, dass es auch darum gehe, Menschen dazu zu bewegen, berufliche Karrieren anzustreben, in denen sie möglichst viel Gutes tun können. Als Beispiele hierfür nennt er Berufe, die gemeinhin nicht unbedingt so konnotiert sein mögen: Investmentbanker, Angestellte von Hedgefonds und großen Versicherungsgesellschaften.
Was erst irritieren mag, wird durch die Einführung einer Abstraktion erklärt. Diese besteht darin, dass derartige Berufe in aller Regel mit hohen Einkommen verbunden sind. Wer über ein hohes Einkommen verfügt, könne dann absolut betrachtet mehr Geld spenden, was wiederum dazu beitragen würde, mehr Gutes zu tun. Um diese Logik in letzter Konsequenz bewerten zu können, lohnt sich das philosophische Gedankenspiel eines brennenden Hauses, in dem es zwei Zimmer gibt, eines, in dem sich ein hilfloser Säugling befindet und eines, in dem ein hochwertiges Gemälde von Picasso hängt. Können wir angesichts der Brandentwicklung nur eines der Zimmer rechtzeitig erreichen, um entweder den Säugling oder den Picasso zu retten, so legt uns der EA ans Herz, den Picasso zu retten. Denn in der Abstraktion des EA gesprochen könne nur so der Nutzen aller maximiert werden: Retten wir den Säugling, retten wir ein Leben, retten wir den Picasso und verkaufen ihn, so können wir Unmengen an Geld dazu nutzen, gleich Hunderte hungernde Kinder am anderen Ende der Welt zu ernähren – und in der Abstraktion des EA gedacht ist dies nun mal ein und dasselbe. Die Wahl besteht für den EA also nicht zwischen dem Säugling und dem Gemälde, sondern zwischen dem Säugling und den hungernden Kindern. Und der Säugling ist dabei leider in der Unterzahl.
Dies mag als drastisches Beispiel anzusehen sein, doch ist es nur folgerichtig. Bemerkenswert ist dabei, dass so sehr die Vertreter*innen des EA angesichts der moralischen Dilemmata unserer Zeit auch für Nüchternheit und Fakten werben, auch sie die affektiv-emotionale Ebene strategisch adressieren. Und zwar zum Beispiel, wenn MacAskill sich dieses Beispiel zugrundelegend an seine Zuhörer*innen wendet und sagt: „Ihr könnt jeden Tag eures Lebens das Kind aus dem brennenden Haus retten, ihr könnt jeden Tag Hunderte solcher Kinder retten“ – „you can be that super hero!“ Im alten Widerstreit zwischen Kant und Bentham positioniert sich der EA so eindeutig auf der Seite von Bentham und beschreibt die Abstraktion, die darin besteht, den Picasso als Äquivalent zu den hungernden Kindern zu sehen als einen gesellschaftlichen Fortschritt, der so real wie wichtig für die Zukunft der Menschheit sei. Dabei hinkt dieser Vergleich an einer ganz entscheidenden Stelle. Denn es sind einzig der Picasso und der Säugling, die von einem Feuer bedroht sind. Sie sind beide dadurch zu retten, dass sie aus dem Haus geholt werden, während die hungernden Kinder am anderen Ende der Welt nicht von einem akuten Brand bedroht sind, sondern von strukturellen Ungerechtigkeiten, die im globalen Maßstab ähnlich tödliche Folgen haben, aber eben eine völlig andersgeartete Ursache.
Big Data und der gutmütige Diktator
Hier erscheint die als zivilisatorische Kunst dargestellte Abstraktion nicht als sozialer Fortschritt, sondern als eine Rechtfertigungsstrategie. Eine Rechtfertigungsstrategie, die dazu dient, bestimmte Herausforderungen und Handlungen als angemessen darzustellen, andere aber gänzlich aus der Betrachtung auszuschließen. Dies unterstreicht, dass den philosophischen Überlegungen des EA letztlich rein ökonomische Modelle zugrunde liegen, die genau auf dieselbe Weise funktionieren. Dies stellt letztlich den vermeintlich radikal neuen Charakter des EA in Frage. Die mitunter allergischen Reaktionen, mit denen Skeptiker*innen reagieren, wenn Vertreter*innen des EA bei ihren Ausführungen abstrakte Begriffe nutzen, wie den des „qualitätskorrigierten Lebensjahr“ oder den des „behinderungsangepassten Lebensjahr“ – wobei dies Standardbegriffe aus der Gesundheitsökonomie und -ethik sind – zeigen uns einerseits, wie fortgeschritten die Quantifizierung des Lebens ist, andererseits, wie tief die Gräben zwischen jenen sind, die sich dieser Logik bereitwillig hingeben, und jenen, die sie vehement ablehnen.
Doch auch wenn solche Begriffe und die hinter ihnen stehende Logik der Quantifizierung längst gängige Praxis sind, muss der EA sich den Vorwurf gefallen lassen, in gewisser Weise nicht viel mehr als eine Zahlenspielerei zu sein, denn die Idee, philosophische Dilemmata wie das des Flugzeugabschusses und das des brennenden Hauses in einer quantifizierbaren Weise auszudrücken und durchdenken zu können, ist letztlich nicht nachvollziehbar, ohne die bewusste und hoch politische Entscheidung den Wert einzelner Menschenleben gegeneinander aufzuwiegen. Hier nutzt es nichts, sich hinter mathematischen Modellen und dem Primat der Nutzenmaximierung zu verstecken. Denn wäre dem so, würde in gewisser Weise das aufgegeben, was das autonome Denken, Fühlen und Handeln ausmacht. Soll dies die fortschrittliche Moralethik des 21. Jahrhunderts darstellen, dann können wir uns gleich dem Motto „Gemeinschaft first“ unterwerfen und der Kollektivierung sämtlicher Informationen und Daten zustimmen, um auf diese Weise eine künstliche Intelligenz (KI) zu füttern, die uns mittels Big Data, behavioral sequencing und gene sequencing als „gutmütiger Diktator“ davon befreit, uns mit moralischen Dilemmata jedweder Art beschäftigen zu müssen.
Und so ließe sich vermutlich jedes soziale Phänomen als Kosten-Nutzen-Phänomen reformulieren, um mittels statistischer Modelle „effizient“ gelöst zu werden. Doch dabei ginge stets etwas verloren, etwas ganz Wesentliches, wie es uns der Vergleich zwischen dem von Feuer bedrohten Säugling und den hungernden Kindern am anderen Ende der Welt zeigt: Das Wissen um die Ursachen und den Grund des Leidens, denn letztlich beruht eine Quantifizierung immer auf einer Abstraktion und Ausblendung. Hierin mag unter bestimmten Umständen eine Stärke liegen, unter anderen aber eine eindeutige Schwäche, denn es ist offensichtlich, dass nicht alle Dinge sinnvoll quantifizierbar sind. Wo Singer und MacAskill sich darauf konzentrieren zu betonen, dass das meiste Gute dadurch geleistet werden könne, dass alle einen möglichst hohen Anteil ihres (offensichtlich nicht notwendigen) Einkommens spenden, blendet ihre Logik alle außerhalb der Arbeitswelt liegenden Lebenszusammenhänge gänzlich aus: Was ist mit subtileren Formen nicht-gutes zu tun, z.B. durch alltäglichen Rassismus, einen konsumorientierten Lebensstil, extravagante Luxusreisen, usw.?
Konfrontiert mit derart weitreichender Kritik an den Logiken des EA wenden dessen Vertreter*innen ein, dass einerseits aktuell kein alternatives Gesellschaftssystem existiert (oder überhaupt vorstellbar sei) und es andererseits sinnvoller, d.h. im Hier und Jetzt effektiver, sei mittels EA das meiste Gute zu tun, als sich in einem Kampf für eine andere Welt zu verausgaben, der ohnehin nie gewonnen werden könne. Wieder zwei hoch politische Aussagen, die angesichts der akademischen Titel, die viele Vertreter*innen des EA haben und dem viel beschworenen philosophischen Überbau ihrer letztlich betriebswirtschaftlichen Argumentation irgendwie erstaunlich plump wirken. Der Realität, in der wir alle leben, werden sie jedenfalls nicht gerecht, denn es ist offensichtlich, dass es viele verschiedene Lebensweisen gibt und diese sich graduell verändern lassen, wodurch sich immer auch unmittelbare Rückwirkungen auf das große Ganze entfalten. Die imperiale Lebensweise, wie sie von Vertretern des EA ganz offensichtlich verteidigt wird, zu ändern, darum muss es doch zuallererst einmal gehen, wenn wir das Ziel verfolgen, das meiste Gute erreichen zu wollen.
Komplexitätsreduktion als Rechtfertigungsstrategie
Ein anhand statistischer Maßzahlen vorgenommenes Ranking verschiedener Hilfsorganisationen entlang quantifizierbarer Messgrößen und ein entsprechender Spendenaufruf jedenfalls wirken eher wie der Tropfen auf den heißen Stein. Statt einem radikal neuen Denken stehen sie mit ihrem Dienstleistungscharakter eher einem Servicegedanken nahe. Wobei die Tatsache, dass auf den verschiedenen Webseiten, die derartige Bewertungen vornehmen (z.B. givewell, founderspledge, animalcharityevaluators) weder die Methoden dieser Bewertung noch ihre Datengrundlage transparent gemacht werden, noch dazu für einen schlechten Service sprechen. Das dabei im Ergebnis häufig vor allem Organisationen gelistet werden, die in ein und demselben Gebiet tätig sind, verwundert dabei nicht, weist dies doch nur auf einen weiteren blinden Fleck des EA hin.
Denn wenn das Ziel nur darin besteht, bei einer Spende den größten Effekt pro Dollar zu erzielen, dann stehen naturgemäß bestimmte Formen der Hilfe im Vordergrund. Nämlich solche, die möglichst geringe Fixkosten haben und möglichst große und leicht nachweisbare Effekte. Beispielsweise Impfungen, weil hier durch den Einsatz eines vergleichsweise günstigen Mittels ein ganzes Leben gerettet werden kann. Und das gibt eben ein besonders hohes Ranking, wobei selbstverständlich egal ist, unter welch elenden Umständen dieses Leben dann geführt werden muss; warum dies so ist und ob das geimpfte Kind fünf Jahre nach der Impfung dann an Hunger stirbt oder sich eben fünfzehn Jahre nach der Impfung auf die gefährliche Flucht durch die Sahara machen muss, weil der menschgemachte Klimawandel den Lebensraum bedroht, in den es hinein geboren wurde. Was es also statt derart kurzgedachter Rankings bräuchte, ist eine Ausdifferenzierung der Spendenempfehlungen des EA, weil sich letztlich nur durch ganzheitliche Ansätze in der mittleren und langen Frist das meiste Gute tun lässt.
Aber ebenso wie im EA die Frage des allgemeinen Lebensstils der Spendenden ausgeklammert werden, geraten auch solche Fragen nach den Umständen der Empfangenden an den Rand der Betrachtung. Auf diese Weise fällt es MacAskill dann auch leicht, den Kauf von Kleidung aus Sweatshops dadurch zu rechtfertigen, dass er mit dem beschränkten Blickwinkel des EA postuliert, dass die in solchen Sweatshops herrschenden katastrophalen Arbeitsbedingungen eben die besten sind, die den in ihnen arbeitenden Menschen aktuell offenstehen. Als einzig mögliche Alternative gibt es aus Sicht des EA nur die tatenlose Armut, nicht etwa die Gründung von genossenschaftlichen Kooperativen oder die Unterstützung von Gewerkschaftsstrukturen oder einem Lieferkettengesetz. Folglich besteht in der Logik des EA die beste Strategie für solche Arbeiter*innen ihre Lebenssituation zu verbessern darin, die gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen der Sweatshops zu ertragen, während es für die Konsument*innen im globalen Norden eben das Beste ist, die von ihnen produzierten Waren zu kaufen, damit sich die Arbeit der Näher*innen in den Sweatshops auch lohnt. Dabei ist es doch offensichtlich, dass eine viel vielversprechendere Strategie darin bestünde, an Organisationen zu spenden, die die gewerkschaftliche Organisation in diesen Regionen stärken oder den Aufbau von Kooperativen zu unterstützen, in denen sich die Arbeiter*innen zusammenschließen können, um sich der ausbeuterischen Strukturen zu entziehen – natürlich nur, sofern es in derselben Region nicht ohnehin schon alternative Anbieter gibt, die nachweisbar zu besseren Bedingungen produzieren.
Aber die Effekte einer solchen Spende an gewerkschaftliche Organisationen lassen sich eben nicht unmittelbar messen oder zumindest nicht in quantitativ sinnvoller Weise ausdrücken. Deshalb fallen Organisationen, die solche Schwerpunkte verfolgen, der Logik des EA folgend in den Bereich ineffizienter Akteur*innen, die zu unterstützen als nicht sinnvoll dargestellt wird. Und so scheint es dem EA insgesamt mehr um Akzeptanz als um Transformation zu gehen. Was berechtigterweise die Frage aufwirft, was nun das radikal Neue an dieser Bewegung sein soll. Der Maximierungsgedanke jedenfalls kann es nicht sein, hat er den Bereich der EZ doch lange schon erreicht. Viel eher scheint auch für den EA zu gelten, was Studien der „Moral Foundations Theory“ für andere Bereiche schon nahelegen: Das Menschen Urteile intuitiv fällen und diese dann erst rückwirkend mit bestimmten rationalen Argumenten abzusichern versuchen. Insofern erscheint der angewandte Utilitarismus des EA als nichts anderes als ein philosophischer Überbau für letztlich betriebswirtschaftliche Handlungsmotive, die in vollem Einklang mit dem herrschenden Zeitgeist stehen und es uns erlauben, gut mit diesem zu leben.
Ein verlockendes Versprechen
Glaubt man also den grundlegenden Paradigmen des EA, dann scheint es möglich, Entscheidungen nicht entlang eigener Präferenzen fällen zu müssen, sondern diese vermeintlich intelligenten Rechenmodellen und Algorithmen überlassen zu können – unangenehme Entscheidungen müsse man also letztlich nicht mehr selbst treffen. In einer Zeit, in der angesichts der drohenden Katastrophen, auf die die Menschheit zusteuert, immer mehr Menschen davon überzeugt zu sein scheinen, anders leben zu müssen, als sie es aktuell tun, dafür aber zu schwach oder zu unentschlossen sind, liefert der EA letztlich ein verlockendes Versprechen. Das Versprechen, sich frei kaufen zu können, von den Dilemmata unserer Lebensweise; den Widersprüchen unserer Zeit; von hier und da unter der Oberfläche hervorbrechenden Selbstzweifeln; von der eigenen Mitschuld und Verantwortung. Und gibt es auch nichts dagegen einzuwenden, dass manche Menschen ihre finanziellen Mittel entlang der Logiken des EA einsetzen – in einer pluralistischen Gesellschaft ist auch dies ihr gutes Recht – gilt es doch zu betonen, dass dieses Versprechen letztlich eine Lüge ist; dass es keine Flucht gibt aus den Widersprüchen unserer Zeit, aus gesellschaftlichen Verhältnissen, die neben all den schönen Seiten des Lebens auch all die Schattenseiten ständig neu hervorbringen.
Die Erzählung einer heilen Welt kann ebenso wie das Versprechen einer solchen Flucht nur auf Ignoranz und Selbstgefälligkeit fußen, das dürfte mittlerweile auch den Letzten bewusst geworden sein. Oder wie es die Publizistin Susan Sontag ausdrückte: „Wer immer wieder überrascht ist von der Grausamkeit der Welt, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf so viel Unwissenheit oder Vergesslichkeit.“ Doch ist auch klar, dass die Vergegenwärtigung der eigenen Verwobenheit in globale Zusammenhänge von Ausbeutung und Unterdrückung erdrückend wirken kann. Deshalb brauchen wir Erzählungen, die Hoffnung spenden, Mut machen und innerlich aufbauen. So brauchen manche vielleicht auch den EA, um sich selbst erzählen zu können, dass sie doch tun, was sie können, um dem Leid der Welt angemessen zu begegnen. Doch fügt sich der EA mit seiner Erzählung einer effektiven Weise, die Leiden dieser Welt zu lösen, nur allzu gut in den herrschenden Zeitgeist ein – einen Zeitgeist, dem es darum geht, alles zu quantifizieren (hier mit dem Ziel, es zu maximieren), alles zu simplifizieren (hier, um es in Form einer einfachen mathematischen Formel auszudrücken) und alles verwertbar zu machen – das man sich kaum dem Eindruck verwehren kann, der EA stellt eher ein Symptom der grundlegenden Probleme unserer Zeit dar, als eine Antwort auf diese zu sein.
Denn in der modernen Welt mit all ihren Ausdifferenzierungen und Interdependenzen, die all unsere Leben durchkreuzen und auf oft schwer durchschaubare Weisen durch globale Formen von Konsum und Produktion zueinander in Beziehung setzt, scheint der EA vor allem als Versuch, komplexe Zusammenhänge auf allzu einfache Weise herunterzubrechen, um verlockend simple Antworten auf oft unerträgliche Fragen zu geben. Dass die „Bewegung“ dabei das Narrativ der Maximierung und Effektivitätssteigerung als vermeintlich revolutionäres Element zu vermarkten versucht, verwundert letztlich nicht wirklich, haben die meisten ihrer prominenten Vertreter*innen doch recht gewöhnliche Karrieren in den Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft hingelegt, bevor sie sich an die Spitze dieser nach Eigendefinition „sozialen“ Bewegung stellten. Und damit ist der EA dann letztlich doch bei Weitem nicht so spannend, wie es sein philosophischer Überbau zunächst vermuten lassen könnte. Sind die ihm zugrunde liegenden Rechenmodelle doch an klassische betriebswirtschaftliche und statistische Modelle angelehnt. Zudem gab es bereits vor dem Aufkommen des EA eine Fülle an Untersuchungen und Literatur zu Kriterien dafür, wohin es sich zu spenden lohnt, wenn das Geld denn auch tatsächlich ankommen soll – inklusive der dann doch relativ bekannten Kritik für klassische EZ.
Der EA argumentiert hier mit dem Gemeinwohl als Summe der Wohle der Einzelnen und damit, dass die Summe vieler Leben höherwertig sei als ein einzelnes. Dass die hier zugrunde gelegte Quantifizierung und vor allem das Vergleichen verschiedener Leiden oder Missstände zuallererst moralisch, aber letztlich auch aus rein mathematischer Sicht fragwürdig bis gar unmöglich ist, stellt die Achillesferse dieses vermeintlich revolutionären Ansatzes dar. Denn lässt man all die Zahlenspielerei mal weg, geht es dem EA um die Rechtfertigung einer rational nicht zu begründende Priorität: Der Abstraktion und Komplexitätsreduktion als Rechtfertigungsstrategie, in der die Effektivität ausgedrückt in einer einfachen Zahl zum Maß der Dinge wird. Übertragen auf den Bereich der EZ, der Solidarität und Hilfe wirkt dieser philosophische Überbau dann letztlich unnütz bis befremdlich und die Protagonist*innen eher kolonialherrisch als alles andere – geschweige denn einer „radikal neuen“ Bewegung zuzurechnen. Wenn es dem EA also darum geht, das affektive, das emotionale, am Ende vielleicht gar das menschliche auszublenden, stellt sich schon die Frage danach, ob die von ihm vorgeschlagene Logik eine ist, die im Bereich der EZ überhaupt gut aufgehoben ist. Zugegeben, eine politische Frage, doch argumentativ überzeugend lässt sich letztlich nicht begründen, warum cross factor analysis und eine gänzlich quantitative Denkweise zur Behandlung sämtlicher Lebensbereiche geeignet sein sollte.
Statt dem Erdulden von Widersprüchen eine rational nicht zu begründende Priorität
Natürlich müssen die vorherrschenden Formen Hilfe zu leisten, ständig überprüft, kritisiert und reflektiert werden, doch sollte dies in einer angemessenen Art erfolgen und nicht einem sturen Imperativ, der die Quantifizierung des Lebens als Duktus zugrunde legt. Letztlich geht es um das Zugeständnis, dass sich emotional behaftete Themen nicht sinnvoll mit Rechenmodellen behandeln lassen, weil schon in der Entscheidung diese Modelle anzuwenden ein hoch politischer Akt besteht, der immer auch die Diskussion erfordert und niemals eine gerechtfertigte Flucht vor Verantwortung darstellen kann. Dies gilt es auszuhalten. Insofern es also nichts dagegen einzuwenden gibt, wenn privilegierte Akademiker*innen sich mit dem EA eine neue Spielerei ausdenken, ist durchaus etwas dagegen einzuwenden, wenn diese Menschen denken, sie hätten dadurch eine intelligente Weise gefunden, mit moralischen Problemen umzugehen, die letztlich diesen Umgang selbst moralischer mache. Den Ansatz des EA angesichts der drängenden Probleme unserer Zeit gegenüber anderen Ansätzen aufzuwerten, kann nur unter Inkaufnahme seiner verkürzten Betrachtungswinkel auf globale Zusammenhänge und seiner ahistorischen Analyseebene gelingen.
Weil diese dazu beitragen, dass sich der EA nahezu perfekt in die Aufrechterhaltung aktueller Formen von Ausbeutung und Unterdrückung einfügt, während sich andere Arten der Hilfe und Solidarität darum bemühen, grundlegende Strategien für deren Überwindung zu finden, gilt es warnende Worte zu finden. Selbstverständlich sind andere Ansätze nicht weniger widerspruchsfrei als der EA, aber das ist es ja, was das Leben letztlich ausmacht. Sie haben andere Schwachstellen und andere Stärken und so ergibt sich ein ständiger Fluss, ein nicht aufhörender Diskurs, an dem ein Erkennen und Anerkennen – auch von Differenzen, Herausforderungen und vielleicht nicht zu überwindenden Gräben –stehen muss. Doch während es dem EA letztlich schlicht und einfach um die Rechtfertigung einer rational nicht zu begründenden Priorität (der unmittelbar messbaren Effektivität) geht, liegen anderen Ansätzen andere Gesichtspunkte am Herzen und dies gilt es zu würdigen, denn angesichts der Komplexität unserer Lebenszusammenhänge können und sollten verschiedene Themen und Ansätze nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Denn diese Widersprüchlichkeiten sind menschlich, genau wie es menschlich ist, den Säugling statt den Picasso aus dem brennenden Haus zu retten. Alles andere hätte nichts mit einem höheren Bewusstsein um globales Leiden zu tun, sondern mit einer Rechtfertigung der Ausblendung und Abstreitung des unmittelbaren Leidens, und das wird zum Glück auch (noch) juristisch so bewertet. Gibt es folglich Weiß Gott nichts dagegen einzuwenden, stünde der EA nur als neue Spielerei privilegierter Akademiker*innen aus dem globalen Norden im luftleeren Raum, muss seinem Primat letztlich doch widersprochen werden, denn auch er fügt sich in gesellschaftliche Verhältnisse, in denen quantitative Verfahren breiten Eingang in den Bereich der EZ gefunden haben. In eine gesellschaftliche Realität, in der es Projektanträge längst erfordern, sogenannte „Logframes“ und „Wirkungsmatrizen“ aufzustellen, in der punktgenaue Kostenkalkulationen erforderlich sind, um Spender*innen und öffentliche Zuwendungsgeber zu überzeugen. Quantitative Instrumente, die die Realität im anschließenden Projektgeschehen nicht nur nicht abzubilden im Stande sind, sondern diese auch weitgehend einschränken. Vor diesem Hintergrund stellt der EA und die ihn stützende Community einen möglicherweise fatalen Angriff auf wirklich sinnvolle Arten der Hilfe und Solidarität dar.
Kommentare 11
Ihrer Analyse stimme ich zu. Peter Singer hatte schon immer eine seltsame Vorliebe für die Provokation mit (s)einer gandenlosen Logik.
Ihre Kritik ist richtig, auf den Punkt gebracht gibt der Utilitarismus ein Wissen vor, über das er nicht verfügt. Nie! Klar, der Picasso ist statstisch mehr 'wert', aber leider hat der Utilitarist, der das Kind verbrennen ließ, gerade das Kind verbrennen lassen, was die Welt gerettet hätte, weil es den Weg aus dem Klimawandel gewiesen hätte, oder das Mittel gefunden hätte, was diese Corona meets Ebola Mutante von 2039 in die Knie gezwungen hätte. Oder der Picasso erweist sich als Fälschung. Huch.
Ebenso, wie es eben kein Maß für Glück und Leid gibt, was Grobheiten übersteigert, wie die, dass Schulen besser als Folterkeller sind … nur dass man dafür keine Ethik braucht.
Allerdings ist Kant nun auch nicht gerade der Prototyp des emotionalen Schwärmers, sondern Trocken wie Brot von Knäcke … krrk. Kant adressiert das Individuum und mutet ihm etwas zu, er ist der Böltsenegger (Udo Bölts) der Moral und sagt uns: „Quäl Dich, Du Sau.“ Natürlich nur im Falles des moralischen Dilemma. Mehr erwartet er nicht, weil er (manchmal) weiß, dass man nicht besser kann, als man kann, dass aber – dass man sich anstrengt – erwartet er. Gefühlen gegenüber war er äußerst skeptisch.
Teil einer gesunden Psyche ist ein integriertes Wertesystem. Gibt man das auch noch an den Großrechner oder die Smartwatch ab, kann man den Laden dicht machen. Das harte Argument bleibt aber, dass der Utilitarismus von Voraussetzungen ausgeht, die er nicht einlösen kann.
Lieber Herr Jansen,
meinen Glückwunsch zu diesem Artikel, den ich sehr gut finde, wenn auch etwas lang und stellenweise mit akademischer Phraseologie durchsetzt: der EA richtet, argumentiert hier, ... Stilistisch besser finde ich: EA-Vertreter richten, dieses Argument wird genutzt um ...
Jedenfalls deutlich analytisch geschrieben, mit Quellen nennender, zunächst neutral und fair wiedergegebener Position der EA-Vertreter, die dann treffend in ihrer Reichweite begrenzt wird.
Zu von Ihnen nur angedeuteten Folgen durch den "Sachzwang" der Algorithmen - der selbstverständlich von Interessierten propagiert wird - empfehle ich einen dystopischen Essay des Literaturwissenschaftlers Roberto Simanowski.
Aus psychologischer Perspektive möchte ich den Begriff "Altruismus" zurechtrücken: Es handelt sich zweifelsohne um Hilfsbereitschaft, jedoch nicht unbedingt um deren selbstlose Form.
Hilfsbereitschaft kann je nach Motivation durchaus durch egoistische Nutzenkalküle wie z.B. "Ansehensverbesserung" oder "Gewissensberuhigung" gesteuert sein oder sich auf Vertreter der Eigengruppe konzentrieren z.B. der Etablierung unternehmerischer Kleinstrukturen durch Unternehmer (wobei durchaus Erwartungen über zukünftige Geschäftsbeziehungen als egoistisches Nutzenkalkül mitverursachend wirken können). Sie kann auch durch religiöse oder ethische Prinzipien motiviert sein, ihr Beispiel von Kants deontologischer "Pflichtenethik" fällt in diese Kategorie. Schließlich kann Hilfsbereitschaft auch einfach auf Empathie beruhen, ohne dass weitere Bedingungen genannt oder Überlegungen angestellt werden; Versuche mit Kleinkindern mit höchstens gering ausgeprägtem Bewusstsein eigener Identität und jedenfalls nicht entwickelter Abstraktions- um nicht zu sagen Kalkulierfähigkeit zeigen in der Regel solch wohlwollendes Verhalten gegenüber Anderen.
Allein die letztgenannte Form der Hilfsbereitschaft bzw. des gezeigten Hilfeverhaltens würde ich als "altruistisch" definieren.
Folgerichtig handelt es sich aus meiner Sicht bei der Bezeichnung "EA" um einen Etikettenschwindel: Angemessen wäre das Kürzel "EH". - Und wer dabei zunächst an Erste Hilfe denkt, liegt vielleicht nicht falsch: Effizienzorientierte Hilfsbereitschaft ist unter den gegenwärtigen Umständen unverzichtbar, beseitigt aber weder die verursachenden Strukturen, Prozesse und Situationen noch muss sie frei sein von egoistischen Motiven.
Nach dieser doch recht ausführlichen und harten Kritik am Effektiven Altruismus, wäre ich sehr gespannt auch mehr über Lösungsansätze zu hören, die der Autor befürwortet und idealerweise natürlich auch selber praktiziert und umsetzt. Es ist immer relativ einfach andere Lebensweisen zu kritisieren, aber oft verhältnismäßig schwerer selber mit besseren Ideen um die Ecke zu kommen.
Als Maßstab beschreibe ich kurz meinen Blick auf den EA und liste dazu noch eine Reihe von Strategien die Menschen verfolgen, die sich von der Community des EA inspiriert fühlen.
Der Effektive Altruismus ist keine "fertige Philosophie" oder "starre Perspektive" sondern ein kritisches Projekt das aus 2 Elementen besteht (vgl. MacAskill):
1) Die wissenschaftliche/kritische Auseinandersetzung mit der Frage wie man mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen möglichst viel Gutes tun kann.
2) Die Umsetzung der durch 1) gewonnen Erkenntnisse in konkrete Handlungen, um die Welt zu verbessern.
Strategien, um diese Projekt umzusetzen könnten u.a. sein:
* Persönliche Auseinandersetzung mit Fragen, wie z.B., was macht eine Welt besser oder schlechter? Was bedeutet es "Gutes zu tun"? Wie kann man mit moralischer Unsicherheit umgehen? Wie kann ich meine Ziele besonders effektiv erreichen?
* Spenden von oft mehr als 10% des Brutto Gehalts an Organisationen die ein hohes Potential haben Gutes zu tun.
* Verzicht auf Tierprodukte, um nicht zu den Grausamkeiten der Massentierhaltung beizutragen.
* Optimierung der eigenen Karriere darauf einen positiven Einfluss auf die Welt zu haben. Beliebte Felder sind hier:
* die positiven Gestaltung der langfristigen Zukunft (z.B. Forschung, Politkberatung im Kontext von ethischen Herausforderungen transformativer Technologien wie künstlicher Intelligenz oder Biotechnologien oder die Verbesserung von instiutioneller Entscheidungsfindung)
* Tierschutz (besonders mit einem Fokus auf die Massentierhaltung die im Vergleich zu anderen Bereich des Tierschutz noch deutlich vernachlässigt wird)
* Entwicklungszusammenarbeit (wo es schon viele vielversprechende Strategien gibt, um effektiv Gutes zu tun, aber natürlich auch noch immer die Augen aufgehalten werden, um noch bessere Strategien zu finden)
* Offenheit gegenüber anderen Perspektiven und Meinungen und die Bereitschaft seine Meinung zu ändern, wenn Evidenz oder gute Argumente vorliegen.
Im Sinne des letzten Punktes würde ich mich über Argumente oder Evidenz freuen, die mir helfen können besser zu verstehen, wieso der EA so negativ sein soll. Eine Möglichkeit dafür wäre mir darzulegen, wie meine Charakterisierung des EA falsch ist oder wie die gelisteten Strategien schlechter sind als andere Alternativen.
Wenn noch weitere Nachfragen da sind oder der Bedarf für ein persönliches Gespräch besteht, bin ich per email zu erreichen. Ich kann nicht garantieren, dass ich auf jede Frage ausführlich eingehen kann, aber wenn ich das Gefühl habe, dass ein ernsthaftes Interesse an einem offenen Austausch besteht, werde ich versuchen zeitnah zu antworten.
Hi Max!Als jemand der sich seit vielen Jahren als Teil der Community des Effektiven Altruismus fühlt muss ich sagen, dass ich sich Dein Text weder mit meinem theoretischen Verständnis noch mit meiner praktischen Erfahrung der Community deckt. Ich kann und will nicht auf jeden Punkt eingehen den ich anders sehe, aber zumindest einige Beispiele seien hier genannt.
Wenn es um die Entscheidung geht ein Kind oder den Picasso vor den Flammen zu retten, so habe ich das immer als zugespitztes Gedankenspiel gesehen welches aufzeigen soll wie viel Gutes man mit Geld tun kann. Eine konkrete Handlungsempfehlung war es für mich hingegen nie und natürlich würde ich keine Sekunde zögern das Kind zu retten. Wenn es allerdings darum geht zu entscheiden an wen man spendet, so erscheint es mir durchaus sehr sinnvoll genau abzuwägen. Alle Probleme der Welt auf einmal werde ich mit meiner Spende offensichtlich nicht lösen können und so ist eine Entscheidung für die eine Hilfsorganisation auch immer eine Entscheidung gegen eine andere. Ich finde die Effektiven Altruist:innen liefern viele gute Argumente warum bestimmte Organisationen pro Euro wahrscheinlich mehr Gutes tun (z.B. Leben von Kleinkindern retten) als andere und sind dabei transparenter in ihren Herangehensweisen als alle mir sonst bekannten Ansätze (i.d.R. ja einfach das Bauchgefühl) So wird z.B. der Prozess der von Dir kritisierten Initiative GiveWell hier https://www.givewell.org/how-we-work/process und ihre Kriterien hier https://www.givewell.org/how-we-work/criteria ausführlich beschrieben und ihre Kalkulationen hier https://docs.google.com/spreadsheets/d/16XOOB1oWse1ICbF0OVXUYtwWwpvG3mxAAQ6LYAAndQU/ in einem Ausmaß offengelegt der seines Gleichen sucht. Ähnlich sieht es bei Animal Charity Evaluators und Founders Pledge vor. Dazu kommt, dass die eigentlichen Evaluationen der Hilfsorganisationen zum Teil mit mehr als hundert Fußnoten versehen sind die Quellen aufzeigen und Hintergründe zu den Überlegungen liefern. Ich frage mich wirklich wie Du da zu dem Urteil kommst, dass “weder die Methoden dieser Bewertung noch ihre Datengrundlage transparent gemacht werden”. Was genau fehlt Dir und wer macht es besser? An wen sollte ich Deiner Meinung nach Spenden und mit welcher Wirkung kann ich da rechnen?Auch die Behauptung, dass Projekte die “möglichst geringe Fixkosten haben und möglichst große und leicht nachweisbare Effekte” im Vordergrund stehen ist für mich nicht nachvollziehbare. Ich verfolge GiveWell schon seit mehr als 10 Jahren und kann mich nicht erinnern dort jemals etwas über die Vorzüge von geringen Fixkosten gelesen zu haben (Gründe warum man sich von hohen Verwaltungskosten nicht unbedingt abschrecken lassen sollte hingegen schon). Noch viel weiter weg von diesen Vorwürfen und auch der Unterstellung, man würde keinen politischen Wandel anstreben sind die Empfehlungen von Animal Charity Evaluators und Founders Pledge in den Bereichen Tier- bzw. Klimaschutz. Fast alle dort genannten Organisationen arbeiten explizit politisch und sind teilweise so indirekt tätig, dass sie kaum weiter weg von “leicht nachweisbare[n] Effekte[n]” sein könnten.Der Begriff “Imperiale Lebensweise” ist mir zugegeben neu, aber wenn ich vom Klappentext richtig auf den Inhalt schließe scheint mir diese Lebensweise wenig zutun zu haben mit der von mir bekannten Effektiven Altruist:innen die wie vermutlich die Community insgesamt politisch mehrheitlich linke der Mitte einzuordnen sind. Richtig ist, dass es nicht im Fokus des Effektiven Altruismus steht das bestehende politische und wirtschaftliche System durch ein komplett anderes zu ersetzen. Das will aber beispielsweise auch keine der im Bundestag vertreten Parteien (zumindest steht es nicht in ihren Programmen). Den Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit drastisch zu erhöhen, CO2 angemessen zu bepreisen oder die Massentierhaltung abzuschaffen wären hingegen alles Forderungen die vermutlich der überragende Teil der Effektiven Altruist:innen befürworten würden. Theoretisch sind ich und andere auch offen für alternative Systeme, praktisch ist mir wie auch den zuvor genannten Parteien schlicht keines bekannt, dass ich für offensichtlich vielversprechender halte. Wie würde ein solches System denn Deiner Meinung nach aussehen und wer setzt sich mit welchen Argumenten dafür ein?Gibt noch viele andere Punkte in denen die Community aus meiner Sicht nicht richtig beschrieben wurde. Wer sich selber ein Bild machen will dem empfehle ich die oben zum Teil ja auch schon verlinkten Seiten von https://80000hours.org/, https://effektiveraltruismus.de/ oder auch meinem Projekt: https://www.effektiv-spenden.org/.
Die Chance, dass der Säugling zu einem Klima-Messias heranwächst, ist vermutlich ebenso gering wie die, dass er der nächste Hitler wird. Beide Möglichkeiten sind so unwahrscheinlich, dass sie eine rationale Entscheidung kaum beeinflussen dürften
Was am Utilitarismus grundsätzlich verkehrt sein soll und woran man sich ethisch orientieren soll, wenn nicht am absehbar besten Ergebnis der eigenen Handlung, ist mir ehrlich gesagt völlig unklar. Der Kantianismus ist jedenfalls keine Alternative, da die Schwierigkeiten, die eine praktische Anwendung des kategorischen Imperativs mit sich bringt, noch größer sind als alle Anwendungsprobleme des Utilitarismus. Kants Ansichten über Todesstrafe, Suizid, Masturbation, das Lebensrecht unehelicher Kinder und das Leid von Tieren sprechen jedenfalls nicht gerade dafür, dass kantianische Ethik zu brauchbaren Ergebnissen führt.
„Die Chance, dass der Säugling zu einem Klima-Messias heranwächst, ist vermutlich ebenso gering wie die, dass er der nächste Hitler wird. Beide Möglichkeiten sind so unwahrscheinlich, dass sie eine rationale Entscheidung kaum beeinflussen dürften
Was am Utilitarismus grundsätzlich verkehrt sein soll und woran man sich ethisch orientieren soll, wenn nicht am absehbar besten Ergebnis der eigenen Handlung, ist mir ehrlich gesagt völlig unklar.“
In der Philosophie geht es ums Prinzip und gerade nicht um Wahrscheinlichkeiten, das ist der zentrale Unterschied.
Im Alltag und auch noch in der Wissenschaft kommt man mit Annäherungen hin, daran ist auch nichts auszusetzen. Jeder weiß ungefähr was Sein, Leben, Liebe, Gerechtigkeit oder Gutes ist. Die Philosophie fragt spätestens seit Sokrates (und der war sehr früh) danach, was es denn genau bedeuten soll. 'Klärung der Begriffe' wird das genannt und es ist bis heute das Kerngeschäft der Philosophie.
Verkehrt im engeren Sinne ist am Utilitarismus, dass er im Ungefähren seine Stärken hat: Satt sein ist besser als Hunger, Liebe besser als Hass. Aber das ist so klar, dass man dafür keine Ethik braucht, man braucht nicht mal Philosophie. Will man aber genauer hinschauen, ist es gut, wenn man im Falle eines moralischen Dilemmas eine Richtschnur hat, das ist die Ethik. Wenn ich nun also die Gesamtsumme an Glück (oder Leid, im sogenannten 'negativen Utilitarismus') von A oder B tatsächlich mal benennen soll, offenbart sich die Willkür des Utilitarismus. Bringt denn die guten Schulausbildung in jedem Fall mehr, als die Lehre? Kann man immer ermitteln ob es richtig ist, ein (nicht) Kind abzutreiben, Sterbehilfe (nicht) zu leisten? In all diesen wirklich engen Siuationen gibt es eben nicht die für alle Menschen jederzeit gültige Liste mit den Punkten für Freude und Leid, die man dann einfach addiert, sondern es ist wie bei Stress, Lärm, Freude, Lust oder Schmerz … es hängt sehr stark vom Individuum ab. Stress ist das, was man als Stress empfindet, das ist bei Peter anders als bei Petra und morgen kann es bei Peter anders aussehen als heute.
Der Utilitarismus gaukelt eine Scheinobjektivität vor, die er nie einlösen kann, außer er biegt sich die Menschen so hin, wie sie nicht sind. Dann sagt man 80 Dezibel sind immer Stress und sieht jemanden, der gerade vom Konzert seiner Lieblingsband kommt, als gestressten Menschen an.
„Der Kantianismus ist jedenfalls keine Alternative, da die Schwierigkeiten, die eine praktische Anwendung des kategorischen Imperativs mit sich bringt, noch größer sind als alle Anwendungsprobleme des Utilitarismus.“
Weil, …?
„Kants Ansichten über Todesstrafe, Suizid, Masturbation, das Lebensrecht unehelicher Kinder und das Leid von Tieren sprechen jedenfalls nicht gerade dafür, dass kantianische Ethik zu brauchbaren Ergebnissen führt.“
Kann man so und anders sehen. Streng genommen sind Kants eigene Eindrücke für den Gebrauch seiner Ethik sogar egal. Denn Kants kategorischer Imperatativ (KI) sagt nicht: Folge mir und mach es so wie ich. (Das wäre eine moralisch-konkrete Anweisung und gerade keine Ethik.) Sondern er sagt: „Handle so, dass die Maxime ...“ als eine der Variationen des KI. In der Ethik ist sogar angelegt, dass jeder zu seinem Ergebnis kommt, Kant fordert letztlich nur, sich Mühe zu geben und sich dabei auch anhand seiner ethischen Prinzipien des KI entlang zu bewegen.
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Das alles heißt aber nicht, dass es nicht besser sein kann, sich für etwas zu engagieren, von dem man halbwegs sicher ist, dass sich damit auch was bewegen lässt, als sich für etwas einzusetzen, was unterm Strich nichts bringt, außer allenfalls einer kurzen Gewissenserleichterung. Also, praktisch mag da schon oft was dran sein. Nur ist der Utilitarismus als das andere große ethische Prinzip eben nicht sonderlich gut geeignet, wenn man sich im Prinzipiellen auf ihn berufen will.
Was wiederum nicht heißt, dass man nicht auch wie sebastian_schwiecker in der Antwort drüber schrieb, praktisch anders handeln kann (bei der Frage das Baby oder den Picasso zu retten), als der EA es in der Zuspitzung anregt. Philosophie ist aber nichts anderes als konstante Zuspitzung und sebastian_schwiecker sagt damit, dass er ein selbstständig dekender Mensch ist, der Gutes bezweckt und sich im Zweifel nicht um Utilitarismus orientiert. Das ist doch auch schon mal eine interessante Erkenntnis.
Prinzipiell ist es doch sinnvoll zu untersuchen, wie gut Hilfsmaßnahmen helfen. Wer will schon spenden und dann feststellen, dass es sogar schädlich war. Da die Hilfsmittel begrenzt sind, sollte man sie natürlich so einsetzen, dass möglichst viel/vielen geholfen wird. Dem kann doch niemand mit Verstand und Herz widersprechen.
Richard Rorty schreibt an einer Stelle , dass allgemeine ethische Prinzipien, also Letztbegründungen des Guten, wie Kants kategorischer Imperativ, nur dafür gedacht sind, in Notfällen zum Einsatz zu kommen, in Situationen also, in denen, es Gründe gibt, bisher unbezweifelte moralische Gemeinplätze zu beanstanden oder in denen wir völlig neuen Problemen gegenüberstehen. Nach dieser Ansicht verfügt unser gewöhnlicher, unreflektierter Alltagsverstand über genügend situative moralische Routinen, um in der weit überwiegenden Zahl der Fälle klug, anständig und sozial kompetent zu handeln, ohne dabei auf ein allgemeines und daher abstraktes moralisches Prinzip zurückgreifen zu müssen.
Man kann dem EA über eine grundsätzliche Kritik des Utilitarismus begegnen, nur spielt das für den praktischen Altruismus überhaupt keine Rolle. Thomas Nagel bspw. begründet den Altruismus aus einer nicht-ultilitaristischen, eher kantischen Position, indem er ihn mit Klugheitsgründen in Verbindung bringt.
Der im Text erwähnte Präferenzutilitarist Peter Singer hat sich für mich spätestens am 13. Mai d.J. hinreichend diskreditiert. Es ging um den Corona-Notfall. In einem Video-Interview (3Sat Kulturzeit vom 13. Mai, ab Minute 5:10) verglich er die Zahl der Corona-Toten in den USA mit der Zahl der im Vietnam-Krieg gefallenen amerikanischen Soldaten. Diese hätten, so Singer, mindestens 40 Jahre ihres Lebens verloren, wohingegen die Corona-Toten meist über 65 seien. Die Älteren sollten sich deshalb fragen, ob sie sich nicht für die jüngeren Generationen opfern sollten, weil sonst die Kosten für diese zu hoch wären. Singer kleidet seine Aufforderung zum Opfertod älterer Menschen in die rhetorische Figur der individuellen Überlegung in der ersten Person plural und suggeriert, dass dieses Opfer ein gemeinschaftliches altruistisches Handeln der Älteren zum Wohle der Jüngeren wäre.
Damit haben Sie ein Beispiel dafür, "was am Utilitarismus grundsätzlich verkehrt" ist. Eine generelle Analyse finden Sie in den Vorlesungen über Ethik von Ernst Tugendhat. Sein Urteil dort: „Der Utilitarismus ist die Ideologie des Kapitalismus, denn er erlaubt es, das Wachstum der Ökonomie als solches ohne Rücksicht auf Verteilungsfragen moralisch zu rechtfertigen.“ Und, wie das Beispiel Peter Singer zeigt, auch ohne Rücksicht auf Menschenleben.
gern gelesen.
Freut mich.
Danke, hat mir auch gut gefallen.