Fluchtursachen bekämpfen?

Syrien Der mögliche Einmarsch der Türkei in Syriens Norden zeigt, dass die deutsche Politik von vornherein auf den falschen Akteur gesetzt hat, um Fluchtursachen zu bekämpfen

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Die Grenze zwischen der autonomen Region Afrin im Nordwesten Syriens und der Türkei
Die Grenze zwischen der autonomen Region Afrin im Nordwesten Syriens und der Türkei

Foto: GEORGE OURFALIAN/AFP/Getty Images

Die türkische Regierung bereitet derzeit offenbar gemeinsam mit islamistischen Milizen einen Einmarsch in den Norden Syriens vor, um die seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs autonome Region Afrin im Nordwesten des Landes zu annektieren. In dem zum selbstverwalteten Rojava gehörenden Afrin leben derzeit rund 1.5 Millionen Menschen, von denen viele aus dem einst umkämpften Aleppo hierher flohen um Schutz zu suchen. Sollte der Angriff tatsächlich in den nächsten Tagen erfolgen, ist mit Wochenlangen intensiven Kampfhandlungen zu rechnen, unter denen wie immer am meisten die Zivilbevölkerung zu leiden hat. Immer mehr Menschen werden in die Flucht getrieben werden und sich auf den Weg in vermeintlich sichere Gebiete machen – vermutlich auch Richtung Europa.

Beobachter rechnen damit, dass es bei einem massiven Angriff der Türkei auf Afrin und die anderen selbstverwalteten Kantone im Norden Syriens außerdem zu einem erneuten Aufstand im Südosten der Türkei kommen könnte. Dies war schon der Fall, als die türkische Regierung 2015 islamistische Kräfte in der Region im Kampf gegen die autonomen Strukturen bewaffnete und militärisch unterstützte. Nachdem in Deutschland noch vor wenigen Wochen darüber nachgedacht wurde, die Türkei als sicheres Her­kunftsland einzustufen, ist nicht erst heute offensichtlich, dass maßgeblich auch das Handeln des deutschen NATO-Partners dazu beigetragen hat Menschen in der gesamten Region ihrer Lebensgrundlage zu berauben und ihnen keine andere Möglichkeit offen zu lassen, als die Flucht Richtung Europa.

Statt aber die letztendlich fatale Allianz mit dem türkischen Präsidenten einzugehen, hätte sich die europäische Politik von Beginn der Eskalationen an dem demokratischen Werten verschriebenen Projekt der „Autonomen Föderation Nordsyrien – Rojava“ öffnen können, das die Rechte der Frauen, Religionsfreiheit und allgemeine Selbstrepräsentation als Grund­lage seines Handels begreift und am 17. März 2016 von einer Versammlung von arabischen, assyrischen, kurdischen und turkmenischen Delegierten ausgerufenen wurde.

Rojava kann als einzigartiges und vielversprechendes Projekt in einer Region angesehen werden, die seit Jahrzehnten von ethnischen und religiösen Spannungen und Kriegen durchzogen ist. Die Verwal­tungsorgane sollen die multiethnische und -religiöse Situation in Nordsyrien widerspiegeln und be­stehen jeweils aus einem kurdischen, einem arabischen und einem christlichen-assyrischen Minister pro Ressort. Eine Frauenquote von 40 % in der Verwaltung wird angestrebt, während es in vielen Bereichen bereits autonome Frauenorganisationen gibt. Seit Sommer 2015 wird an den Schulen in Rojava ein mehrsprachiger Unterricht durchgeführt, während zugleich der Versuch unternommen wird, schrittweise die vom Assad-Regime indoktrinierte Baath-Ideologie aus den Lehrplänen zu entfernen.

Im September 2014 nahm zudem die „Mesopotamische Akademie für Sozialwissenschaften“ in Qamischli als erste Hochschule in der Region den Lehrbetrieb auf. Die öffentliche Verwaltung verpflichtet sich in einem öffentlichen Gesellschaftsvertrag unter anderem zur Einhaltung der Menschenrechte und hat die Todesstrafe abgeschafft. Privateigentum und Unternehmertum sind nach dem Prinzip des „Eigentums durch Gebrauch“ geschützt, während der Fokus der Wirtschaftspolitik auf eine Ausweitung gemeinwirt­schaftlicher und genossenschaftlicher Wirtschaftsaktivität zielt.

Rojava stellt für viele Menschen in der Region eine reale Perspektive zur Flucht nach Europa dar. Hier wird selberorganisiert an dem Aufbau einer funktionierenden und den Menschen dienenden Wirt­schaft und Verwaltung gearbeitet. Zeitgleich sind die Volksverteidigungseinheiten (YPG / YPJ) Rojavas gemeinsam mit der PKK an verschiedenen Militärbündnissen beteiligt und bekämpfen an vorderster Front den sogenannten Islamischen Staat. Für die US-geführten internationale Koalition stellen sie gemeinsamen mit den Peschmergan aus der autonomen Region Kurdistan im Nordirak die für die Rückeroberung des IS-Territoriums wichtigen Bodentruppen.

Die wichtige Rolle der kurdischen Verbände hat die türkische Regierung bereits in der Vergangenheit dazu veranlasst, auch gegen den Willen der irakischen Regierung und den Pro­test der USA militärisch in Syrien und dem Irak einzugreifen. Der autoritäre türkische Staat fürchtet das Aufkommen einer demokratischen Alternative, die noch dazu kurdisch gefärbt ist, an seiner Au­ßengrenze und ist bereit aktive Kriegspartei zu werden und wenn nötig bis zur IS-Hochburg Al-Ra­qqah vorzumarschieren, um Geländegewinne für ein alternatives Projekt zu verhindern.

Rojava bietet vielen Vertriebenen in der Region einen sicheren Zufluchtsort und die Möglichkeit einer individuellen Zukunftsperspektive. Das Gelingen dieses einzigartigen Projekts hängt zu großen Teilen davon ab, wie sich die internationale Politik und die Zivilgesellschaft in den Ländern Westeuropas zu ihm positionieren. In einem Bürgerkrieg ungekannten Ausmaßes, dessen Ende noch lange nicht in Sicht scheint und dessen Nachwehen die Region wohl noch über Jahrzehnte fesseln werden, stellt der demokratische Aufbau in Nordsyrien eine tatsächliche Chance dar, Fluchtursachen dauerhaft vor Ort zu bekämpfen.

Es bleibt zu befürchten, dass die Intervention der Türkei und ihrer Verbündeten, die von Russland toleriert werden wird, dazu führt, dass dieses außergewöhnliche emanzipatorische und zukunftsfähige Projekt, das Selbstbestimmung und autonome Selbstverwaltung jenseits von imperialem Großmachtstreben ermöglicht und dadurch fähig ist Fluchtursachen tatsächlich vor Ort zu bekämpfen, vor unser aller Augen zerstört wird. Sollte dies der Fall sein, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die gesamte Region auch in der Zukunft ein Herd für weitere Instabilität, Gewalt und Unsicherheit sein wird. Faktoren, die fortwährend neues Leid hervorrufen und Menschen in die Flucht treiben werden.

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Weitere Artikel zu diesem Thema:

„Fluchtursachen bekämpfen? – Eindrücke von einer Reise in den Osten der Türkei“

„Bundesdeutsche Heuchelei“

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Mehr Infos zur aktuellen Lage und dem vermutlich bevorstehenden Einmarsch u.a. hier:

welt.de : Türkei bereitet womöglich Einmarsch in Syrien vor

n-tv.de. : Türkei will offenbar in Syrien einmarschieren

tagesspiegel.de : Türkei will offenbar Kurdengebiet besetzen

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Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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