Klage gegen das Sterbenlassen

Grenzregime Überlebende eines dramatischen Zwischenfalls im Mittelmeer gehen erstmals juristisch gegen die Auslagerung des Schutzes der EU-Außengrenzen an libysche Milizen vor

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Eigentlich schon von der libyschen Küstenwache aufgegriffen, versucht ein Flüchtling hier wieder zu fliehen - 6. November 2017
Eigentlich schon von der libyschen Küstenwache aufgegriffen, versucht ein Flüchtling hier wieder zu fliehen - 6. November 2017

Foto: AFP/Getty Images

Bei einem dramatischen Push-Back auf dem Mittelmeer durch die "libysche Künstenwache" kamen am 6. November 2017 mindestens 20 Migrant*innen um. Die Überlebenden wurden geschlagen und Misshandelt, bevor sie zurück zum libyschen Festland gebracht und dort für Monate eingesperrt wurden. Eine Rekonstruktion von Forensic Architecture stellt die Geschehnisse anschaulich nach und dient zur Unterstützung einer Klage von Überlebenden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Im Jahr 2012 stellte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fest, dass „Push-Backs“, wie sie von Italiens Regierung mit libyschen Behörden und Milizen durch mehrere Abkommen, einschließlich des Berlusconi-Gaddafi-Vertrags von 2008, vereinbart wurden, gegen das Völkerrecht verstoßen, insbesondere das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Schutz vor kollektiver Ausweisung. Diese völkerrechtswidrigen Vereinbarungen wurden durch ein Abkommen zwischen Italien und libyen Milizen im Jahr 2017 reaktiviert, das zur Ausbildung, Ausrüstung und Finanzierung der sogenannten „libyschen Küstenwache“ und zur Bereitstellung technischer, strategischer und politischer Unterstützung geführt hat.

Verheißungsvolle Partnerschaft

Die sogenannte „libysche Küstenwache“ ist Teil der Libyschen Marine, wobei seit dem Sturz des früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafis im Zuge des Bürgerkrieg 2011, unklar ist unter welchem Defacto-Machthaber die Einheiten stehen. Laut Medienberichten ist Kommodore Abdalh Toumia Leiter der Küstenwache. Seit dem auf den Bürgerkrieg 2011 folgenden andauernden zweiten Bürgerkrieg ab 2014 erheben allerdings mit Fayiz as-Sarradsch (Tripolitanien) und Chalifa Haftar zwei Männer den Anspruch, der legitimen Regierung Libyens vorzusitzen. Damit beanspruchen auch beide, die sich unterdessen in verschiedenen Milizenverbänden bekämpfen, für sich Oberbefehlshaber der Küstenwache Libyens zu sein. Welchem Milizenverband Kommodore Abdalh Toumia und seine Gruppe tatsächlich angehört ist bis heute nicht klar.

Bekannt ist allerdings, dass diese „libysche Küstenwache“ seit 2017 von Italien und der Europäischen Union logistisch und finanziell unterstützt wird und, dass die Europäische Union anstrebt, sie als wichtiges Mittel gegen Migration in die EU einzusetzen. Im Februar 2017 sagte Fayiz as-Sarradsch (Tripolitanien) stellvertretend für die von der UN-anerkannte Regierung in Tripoli zu, die Migration nach Europa von Libyens Küste aus zu unterbinden. Im Sommer 2017 beschloss die EU-Kommission, 46 Millionen Euro für eine Stärkung der „libysche Küstenwache“ und den Schutz der Südgrenze des Landes zu transferieren. Auf ein Ersuchen des international anerkannten libyschen Premiers Fayiz as-Sarradsch und, um die „libysche Küstenwache“ technisch und logistisch zu unterstützen, stattete Italien sie bereits im Mai 2017 mit zwei ausgemusterten Schiffen aus. Die EU hat zugesagt 300-500 Libyer für die Küstenwache auszubilden, die aufgrund der Tatsache, dass die bereits 2017 von den Streitkräften Maltas ausgebildeten Einheiten der „libysche Küstenwache“ mit Vorwürfen aufgrund schwerer Menschenrechtsverstöße konfrontiert sind, laut der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini „Kontrollmechanismen“ unterworfen werden sollen.

Tödlicher Zwischenfall vorprogrammiert

Am 6. November 2017 schließlich behinderte diese „libysche Küstenwache“ die Rettung von 130 Migrant*innen aus einem sinkenden Beiboot durch das NGO-Schiff Sea-Watch 3. Mindestens zwanzig von ihnen sind verstorben. Hierbei wurde eins der Schiff verwendet, die die „libysche Künstenwache“ erst wenige Monate zuvor von Italien gespendet bekommen hatte. Die Intervention wurde teilweise von Rom aus durch das Maritime Rescue and Coordination Centre (MRCC), eine italienische Regierungsbehörde, koordiniert. Ein italienisches Marineschiff, das Teil der Operation Mare Sicuro war, die in den libyschen Hoheitsgewässern operiert und das Abfangen durch die „libysche Küstenwache“ erleichtern soll, war ebenfalls in der Nähe. Die Überlebenden, die nicht von Sea-Watch aus dem Wasser gerettet werden konnten, wurden von der „libysche Küstenwache“ nach Libyen „zurückgeführt“, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen, Schlägen, Erpressung, Hunger und Vergewaltigung festgehalten wurden. Zwei der Überlebenden wurden anschließend mit Stromschlägen gefoltert und „verkauft“.

Video: Mare Clausum - The Sea Watch vs. Libyan Coast Guard Case (Forensic Architecture)

Die Sea-Watch 3, die bei dem Zwischenfall vor Ort war, wurde zuvor von der Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen betrieben und gehört zur zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Watch e.V., die 2015 mit dem Ziel gegründet wurde, im Mittelmeer in Seenot geratene Migrant*innen zu retten. Ein aufschlussreiches und auf vor Ort aufgezeichnetem Videomaterial, Sateliendaten, Audiomitschnitten, offiziellen Dokumenten basierende Rekonstruktion der Ereignisse vom 6. November 2017 durch die Forschungsgruppe Forensic Architecture der Goldsmiths University of London, zeigt die dramatischen Ereignisse auf hoher See und macht dabei deutlich, wie die Push-Backs der „libysche Küstenwache“ die Leben der Migrant*innen gefährden und deren Tod billigend im Kauf nehmen. Deutlich wird, dass dieses Vorgehen von der italienischen Marine koordiniert wird.

Klage gegen das ausgelagerte Grenzregime

Siebzehn Überlebende, unter denen sich auch die überlebenden Eltern von zwei Kindern befanden, die bei dem Vorfall ums Leben kamen, haben Anfang Mai mit Unterstützung verschiedener Menschenrechtsorganisationen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage gegen den italienischen Staat eingereicht. Damit leiten sie erstmals juristische Schritte gegen die nach See- und Völkerrecht illegalen Pull-Back Aktionen der italienischen Behörden und libyschen Milizen ein. In ihrem Antrag heben sie hervor, wie die Intervention der „libysche Küstenwache“ den Bedingungen eines förmlichen Abkommens zwischen Italien und der libyschen Regierung vom Februar 2017 nachkommt. Infolge dieses und mehrerer anderer Abkommen hat der italienische Staat die libysche Vorgehensweise auf See ermöglicht und sogar mit koordiniert. Durch in dem Antrag enthaltene offizielle Dokumente wird deutlich, dass das Abkommen die rechtliche Verantwortung Italiens für die Handlungen italienischer und libyscher Schiffe in diesem Fall aufzeigt. Die Folgen des Abkommens für Migrant*innen, die versuchen, Libyen zu verlassen, sind katastrophal, wie der Fall vom 6. November 2017 zeigt. Todesfälle durch Ertrinken, Gewalt und Misshandlungen an Bord der „libysche Küstenwache“ wurden von der Besatzung der ebenfalls vor Ort gewesenen Sea-Watch 3 dokumentiert.

Das macht laut der Rechtsberaterin des Global Legal Action Network (GLAN), das neben Sea Watch und weiteren Menschenrechtsorganisationen die Klage der Überlebenden unterstützt, Dr. Violeta Moreno-Lax (Queen Mary University of London), deutlich, dass die „italienischen Behörden das, was ihnen selbst verboten ist, nach Libyen aus [lagern] und […] damit ihre Menschenrechtsverpflichtungen verletzen.“ Indem die italienischen Behörden die Aktionen der sogenannten „libysche Küstenwache“ unterstützen und leiten, setzten sie laut Moreno-Lax Migrant*innen extremen Formen der Misshandlung durch Bevollmächtigte aus und deren Leben sowohl auf hoher See, als auch auf dem libyschen Festland aufs Spiel.

Dr. Itamar Mann (Universität Haifa), ebenfalls Rechtsberater des Global Legal Action Network fügte hinzu: „Wir hoffen, dass dieser neue Fall dazu dienen wird, das Grundprinzip zu etablieren, dass so genannte ‚Pull-backs‘ gegen grundlegende Menschenrechtsstandards verstoßen. Die „libysche Küstenwache“ und die libyschen Milizen können nicht zum Vehikel für Migrantenmissbrauch im zentralen Mittelmeer werden.“ Der Antrag wurde vom Global Legal Action Network (GLAN) und der Association for Juridical Studies on Immigration (ASGI) mit Unterstützung der italienischen gemeinnützigen ARCI und der Lowenstein International Human Rights Clinic der Yale Law School eingereicht.

Umkämpfte See

Unterdessen ist die Situation im Mittelmeer weiter angespannt. Am vergangenen Wochenende – nach einer Rettung von 37 Schiffbrüchigen durch die Sea-Watch 3 im Auftrag des MRCC – wies die Leitstelle das Schiff an, sich von anderen Notfällen in internationalen Gewässern fernzuhalten. Auch in diesen Fällen hatte sich die „libysche Küstenwache“ selbst für zuständig erklärt. Am vergangenen Freitag beobachtete die Crew der Sea-Watch 3, wie die sogenannte „libysche Küstenwache“ ein Boot von Migrant*innen in internationalen Gewässern aufbrachte und mit den Menschen an Bord in Richtung Tripolis verschwand, nachdem bei der Aktion auch Schüsse gefallen sind. Am Samstag war ebenfalls eine Crew der spanischen Nichtregierungsorganisation Proactiva Open Arms vor Ort als die Besatzung der Sea-Wach 3 beobachte, wie sich ein weiterer Fall einer dramatischen Pull-back-Aktion ereignete. Am Sonntag dann das gleiche traurige Bild – allerdings mit dem Unterschied, dass sich die „libysche Küstenwache“ inzwischen nicht nur für zuständig hielt, sondern nun auch von Seiten der EU für „kompetent” gehalten wurde, was ein Schlag ins Gesicht der Menschen in Seenot ist, denn an Bord der libyschen Patrouillenboote gibt es weder medizinisches Fachpersonal noch entsprechendes Equipment. Als sei das alles nicht genug, wurde die Moonbird-Crew von Sea-Watch, die mit einem Flugzeug nach in Seenot geratenen sucht, am gleichen Tag Zeuge zweier weiterer Rückführungsaktionen.

Die Zuspitzung der Lage auf den zentralen Mittelmeer verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig die Präsenz von - meist Spendenfinanzierten - Organisationen der zivilen Seenotrettung in der SAR-Zone vor libyschen Gewässern ist. Nur diese ermöglicht es, die perfide EU-Strategie, mit deren Hilfe die Union ihre Abschottungspolitik auslagern will, offenzulegen und anklagbar zu machen. Nicht unerwartet gehen die libyischen Milizen als Türsteher und neuer fester Partner der Europäischen Union dabei oft rabiat vor und missachten internationales Recht. Dies gilt es öffentlich zu machen und zu verurteilen.

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Infos:

Global Legal Action Network (GLAN): Legal action against Italy over its coordination of Libyan Coast Guard pull-backs resulting in migrant deaths and abuse.

http://www.glanlaw.org/single-post/2018/05/08/Legal-action-against-Italy-over-its-coordination-of-Libyan-Coast-Guard-pull-backs-resulting-in-migrant-deaths-and-abuse

Sea Watch: Klage gegen Italien wegen der Koordinierung der Rückführungen der libyschen Küstenwache, die zu Todesfällen und Missbrauch von Migranten geführt haben

https://sea-watch.org/klage-gegen-italien-wegen-der-koordinierung-der-rueckfuehrungen-der-libyschen-kuestenwache/

Forensic Architecture: The Sea Watch vs Libyan Coast Guard Case 6 November 2017 (Video)

https://www.forensic-architecture.org/case/sea-watch/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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