Teşekkürler Istanbul

Türkei Nach der landesweiten Kommunalwahl Ende März steht das Endergebnis für Istanbul weiter aus. Vieles deutet auf einen Wandel hin. Eindrücke aus einer Stadt im Wartezustand

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Möglicherweise ein verfrühter Dank
Möglicherweise ein verfrühter Dank

Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Teşekkürler - Danke. In großen Lettern winkt die Botschaft von unzähligen Plakatwänden, Brückenpfeilern und Straßenlaternen. Wer dieser Tage in Istanbul unterwegs ist kommt nicht umhin, sich einer gewissen Ironie dieser Botschaft zu erfreuen. Unmittelbar nach dem Ende der landesweiten Kommunalwahlen am 31. März hat die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geführte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Metropole seit 2002 regiert, ihre Dankesbotschaft omnipräsent in der Stadt verteilt. Ein unübersehbares Dankeschön für etwas, das sie gar nicht bekommen hat – und zwar das Vertrauen der Wähler*innen in dieser ersten Wahl nach den Parlamentswahlen vom Juli 2018, mit denen auch das Präsidialsystem als neue Regierungsform eingeführt wurde.

Noch am Wahlabend zeichnete sich ab, dass die Republikanische Volkspartei (CHP) in nahezu allen großen Küstenstädten die meisten Wähler*innen überzeugen konnte und die AKP nach über 25 Jahren islamisch-konservativer Vormachtstellung selbst die Hauptstadt Ankara verliert. Aus der zeitlichen Distanz von gut zwei Wochen betrachtet erscheint das große Dankeschön an Istanbul schon fast ein bisschen wie ein erster, weicher Versuch der Deutungshoheit in einem möglicherweise entscheidenden Kampf um die politische Zukunft der Türkei. Denn Kritiker*innen zufolge, hat es die AKP nur nicht geschafft, die Wahlen so zu manipulieren, dass sie Ankara halten konnte. Nicht nur in Istanbul gibt es ähnliche Vorwürfe.

Warten in Istanbul

Nachdem sich CHP und AKP am Wahlabend ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Metropole am Bosporus lieferten, gab die hohe Wahlkommission (YSK) in der späten Nacht des 31. März keine Ergebnisse mehr heraus. Daraufhin erklärte der AKP-Bürgermeisterkandidat und ehemalige Ministerpräsident Binali Yıldırım, der aufgrund seiner häufig irritierenden öffentlichen Auftritte vielen als eine Marionette Erdoğans gilt, kurz vor Mitternacht seinen Wahlsieg, verschwand dann aber für fast zwei Wochen. Noch in der Nacht verkündete CHP-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu in einer Pressekonferenz: "Wir werden die kommenden 48 Stunden nicht schlafen". Seitdem wartet ganz Istanbul auf die Verkündung des amtlichen Endergebnisses für die Metropolregion, in der über 15 Millionen Menschen leben und in der Erdoğan selbst als Bürgermeister seine politische Karriere begann.

Als sich in der Wahlnacht auch Ekrem İmamoğlu als CHP-Kandidat für Istanbul zum Wahlsieger erklärte, betonte Sadi Güven in seiner Funktion als Leiter der hohen Wahlkommission in einer Pressekonferenz am Morgen des 1. April, dass es noch keine amtlichen Ergebnisse gäbe, die Mehrheit der ausgezählten Stimmen mit einem knappen Vorsprung von etwa 25.000 Stimmen aber auf İmamoğlu entfallen sei. Seitdem stellte die AKP landesweit zahlreiche Anträge auf Neuauszählungen und Neuwahlen. In Istanbul konzentrierten sich diese Anträge zuerst auf den Distrikt Maltepe auf der asiatischen Seite der Stadt. Dort wurden schließlich alle Stimmen neu ausgezählt, in anderen Distrikten gab die Wahlkommission sogar einer erneuten Wahl statt, so beispielsweise in der im Nordwesten der Türkei liegenden Stadt Kırklareli.

Während in Istanbul allerlei Gerüchte kursieren, nach denen unter anderem in letzter Minute manipulierte Wahlzettel eingeschleust wurden, um doch noch einen Wahlsieg für die AKP herauszuholen, konzentrieren sich deren derzeitiger Versuche eine Neuwahl für die gesamte Metropole durchzusetzen auf den Distrikt Büyükçekmece in dessen Südwesten. Nun haben viele Angst, dass ein tatsächlicher Sieg des bei vielen als charismatisch geltenden CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu in Istanbul durch Wahlfälschung verloren gehen könnte.

Kampf der Institutionen

Nachdem die Wahlkommission zahlreichen Anträgen der AKP stattgegeben hat, die in ähnlicher Form bei vergangenen Wahlen häufig abgelehnt wurden, wenn sie von oppositionelle Parteien oder unabhängigen Wahlbeobachtern kamen, könnte es sein, dass der AKP in Istanbul nun grade ihren eigenen Fälschungsversuche nützlich sein könnten. Denn so waren es auch diesmal andere, die zuerst den Verdacht von Fälschungsversuchen äußerten. Durch die Manipulation von Wahllisten seien die Stimmen sogenannter "Ghost-Voter" registriert worden, die (angeblich) in Stadtteilen abstimmten, in denen sie gar nicht wirklich leben. In den sozialen Medien kursieren Listen, laut denen ein Parteifunktionär der AKP angeblich mit 45 weiteren Menschen in einem Haus lebt, ein anderer angeblich mit 12 weiteren in einer einzigen Wohnung.

Um solche Vorwürfe zu entkräften äußerten die Betroffenen unter anderem, diese fälschlichen Angaben hätten sie nur gemacht, damit die anderen Personen den Schwimmbereich der Wohnanlage mitnutzen können. Außerdem will die CHP Kenntnis davon haben, dass AKP-Leute von Polizeibeamten begleitet in einzelnen Stadtteilen von Tür zur Tür gegangen sind und die Menschen gefragt haben, was sie gewählt hätten um so zu "beweisen", dass der Sieg von İmamoğlu nicht stimmen kann. Ein äußerst fragwürdiges Vorgehen. Dass ihrer Ansicht nach keine freien Wahlen stattgefunden hätten, gaben unterdessen auch unabhängige europäische Wahlbeobachter bekannt.

Nachdem die Wahlkommission ihre Entscheidung über einen Antrag der AKP auf eine komplette Neuauszählung der Stimmen für ganz Istanbul zweimal nach hinten verlegt hat, um die ebenfalls von der AKP beantragte Neuauszählung in den Distrikten Maltepe und Büyükçekmece abzuwarten, kündigte der Vize-Parteichef der AKP, Ali İhsan Yavuz, am gestrigen Sonntag an, seine Partei werde nach dem Abschluss der Neuauszählungen eine komplette Neuwahl für Istanbul beantragen. Der dafür erforderliche, umfangreiche und mit Indizien und Belegen zu versehende Antrag werde von Experten seiner Partei fertiggestellt und zeitnah eingereicht. Unterdessen beschuldige İmamoğlus CHP die AKP und die mit ihr verbündete rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) sie habe ihre Vertreter absichtlich nicht zu den Neuauszählungen im Distrikt Maltepe entsandt, um den Prozess so zu verlangsamen und sich dadurch Zeit zu verschaffen.

Der Wunsch nach einer Alternative

Während sie in Onlineforen und auf den Straßen scherzen "they will count until they win", knüpfen viele in Istanbul große Hoffnungen an İmamoğlu, der laut einem weitverbreiteten Wahlslogan alles besser machen wird. Die weiteren Schritte der Wahlkommission werden in den nächsten Tagen darüber entscheiden, wie es für die lebendige Stadt am Bosporus weitergehen wird. Angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Flaute und dem Wertverfall der türkischen Lira scheint die Hoffnung auf einen Wandel in Istanbul vielerorts greifbar. Viele Intellektuelle, Künster*innen und Kritiker*innen haben die Stadt und das Land in den letzten Jahren verlassen müssen und dennoch regt sich anhaltender Protest gegen eine Regierung, die sich auf lokaler Ebene öffentlich damit rühmt, wie viele Tonnen Beton sie in diese Stadt gepumpt hat – ohne ein wirkliches Konzept gehabt zu haben, wie die wenigen Grünflächen, die eingeschränkte Infrastruktur und die hohe Luftverschmutzung täglich bezeugen.

Egal wie es kommen wird, jetzt schon zeugt die große Hoffnung, die in der Metropole an Ekrem İmamoğlu geknüpft wird von einer anderen Türkei, als sie uns häufig präsentiert wird. Schon jetzt gibt es viele Viertel in der Stadt, die schon länger von der CHP regiert werden und beweisen, dass die Türkei vielfältig, bunt und tolerant ist. Eine lockere und offene Stadtkultur ist vielerorts zu spüren und auch das Ringen der demokratischen Institutionen um die Macht in Istanbul zeugt davon, dass auch die Verfolgung zahlreicher Oppositioneller, die Ausweitung polizeilicher Maßnahmen im und über den militärischen Ausnahmezustand hinaus und selbst die Einführung eines machtkonzentrierenden Präsidialsystems nicht fähig sind, eine pluralistische Gesellschaft zu bezwingen.

Auch wenn einige Beobachter*innen glauben es müsse mit Protesten, Straßenschlachten, oder sogar der Stürmung des Präsidentenpalastes gerechnet werden, sollte Istanbul am Ende tatsächlich an die AKP gehen, hat die Bevölkerung bisher bewiesen, dass sie zwar nicht bereit ist, aufzugeben, aber genau so wenig dazu verführt, eine Spirale des Protests vorschnell loszutreten. Das in der Türkei einiges in Bewegung ist, zeigen unterdessen auch die neuen Allianzen, die sich nach der kurzfristigen Änderung des Wahlsystems vor den Parlamentswahlen im Juli 2018 gebildet haben. Um sich eine Mehrheit zu sichern traten AKP und MHP damals in einer Union an. Auf die kommunale Ebene ist dieses Verfahren nicht direkt übertragbar, weshalb vielerorts nur zwei Kandidaten antraten: Jeweils einer der Allianz aus AKP und MHP und einer der Allianz von CHP und İyi (Good Party). Die jeweils andere Partei unterstützte den Kandidaten ihrer Partnerpartei. Anders die linksgerichtete Demokratische Partei der Völker (HDP), die sich formal keiner Seite anschloss, aber zugunsten der Stimmen für CHP oder İyi strategisch in vielen Orten keinen eigenen Kandidaten nominierte. So auch in Istanbul, für das der ehemalige Co-Vorsitzender der HDP, Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 ohne Anklage in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert ist, dazu aufrief gegen die AKP zu stimmen.

Zeichen einer Zuversicht

Angesichts der Tatsache, dass man auch in Istanbul vielerorts auf Menschen trifft, die für die AKP gestimmt haben, auch wenn sie den konkreten Kurs von Erdoğan nicht unterstützen, einfach weil für sie laut eigener Aussage das Parteienspektrum – und grade auch die alte CHP mit ihren kemalistisch-nationalistischen Ansätzen oder die HDP mit ihren linken Forderungen – keine Wahlalternative bietet, sollte jede Zuversicht hinsichtlich anderer Verhältnisse an der Schnittstelle von Orient und Okzident mit Vorsicht genossen werden. Aber dennoch: Grade der Umstand, dass konservative und islamische Werte in weiten Teile der türkischen Bevölkerung Zuspruch finden, zeichnet diese als eine vielleicht manchmal gespalten erscheinende, aber definitiv pluralistische Gesellschaft der Vielen aus, die nach Freiheit und einem friedlichen Nebeneinander strebt und sich darin auch von einem System unwürdiger Beschränkungen und Unterdrückung nicht wird stoppen lassen.

Die türkische Gesellschaft ist dem Autoritarismus überdrüssig und Istanbul hat dieser Tage vielleicht den ersten Schritt in eine neue Richtung getan, zumindest aber ein Zeichen der Hoffnung dafür gesetzt, dass Angst, Einschüchterung und Verfolgung Lebensfreude und Widerständigkeit nicht werden unterdrückt werden können. Und so schüren die Ergebnisse dieser Kommunalwahlen eine vorerst diffuse Hoffnung darauf, dass Erdoğan nicht unbedingt bis zum Ende seiner regulären Amtszeit den Posten des Präsidenten besetzen wird. Durchaus möglich scheint mittlerweile, dass er bereits vor deren Ablaufen einen Nachfolger bestimmen könnte oder aber ehemalige Weggefährten eine neue Partei gründen, die das politische Gleichgewicht im Land weiter verschieben könnte.

Entscheidendes Ergebnis dieser Kommunalwahlen bleibt aber bereits jetzt, dass Präsident Erdoğan nicht gestärkt wurde, sondern sein Ansehen innerhalb der türkischen Bevölkerung, aber insbesondere innerhalb seiner eigenen Wähler*innenschaft schwere Einbußen hat hinnehmen müssen.

Teşekkürler, danke, Türkiye.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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